dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

22. Juli 1946.

Mein lieber Heiner!

Die Postkarte, in der ich vor einigen Tagen diesen Brief ankündigte, werden Sie inzwischen erhalten haben. Ich wiederhole zunächst den Ausdruck meiner Zerknirschtheit darüber, dass ich Ihnen so lange nicht geschrieben habe. Für die letzten Monate kann ich allerdings den Entschuldigungsgrund langer und schwerer Krankheit anführen. Am 8. Mai war durch eine Röntgenuntersuchung die die Aerzte verblüffende Tatsache festgestellt worden, dass ich schon seit einiger Zeit mit einer Lungen- und Rippenfellentzündung herumlief. Erst die durch die letztere hervorgerufenen Schmerzen hatten mich bestimmt, auf eine Untersuchung hinzuwirken. Nun werde ich natürlich sofort ins Bett gesteckt, und mein Körper wurde angewiesen, sich jenen beiden Krankheiten mit allen Kräften, die er noch hatte, die aber recht gering waren, entgegenzustellen. Jetzt endlich bin ich wieder im medizinischen Sinne gesund, aber noch nicht wieder recht leistungsfähig, fahre nur vormittags ein paar Stunden auf das Büro und arbeite, soweit es geht, nachmittags in der Wohnung. Wahrscheinlich hätte Ihnen Ursel schon längst wieder einmal geschrieben, aber die starke Vermehrung ihrer Tätigkeit durch die mir gewidmete Pflege hat sie übermässig in Anspruch genommen.
Aus diesen apologetischen Mitteilungen ersehen Sie, wie unbegründet Ihr Gedanke gewesen ist, dass ich Ihnen nicht geschrieben hätte, weil Sie mich irgendwie gekränkt oder geärgert hätten. Ich weiss nicht recht, wie Sie auf eine solche Vorstellung haben kommen können, denn etwas Derartiges hat es doch zwischen uns niemals gegeben. Ich bitte Sie, auch für alle Zukunft niemals solchen Annahmen Raum geben zu wollen. Ihre Schilderungen der äusseren Umstände, unter denen Sie sich in Kattenhorn bewegen, haben uns allen rechte Freude bereitet, weil daraus hervorgeht, dass Sie sich im grossen und ganzen wohl fühlen. Sowohl die manuelle wie auch die intellektuelle Beschäftigung scheint Ihnen doch zu behagen. Dass in Salem Popeele als Lehrer wirkt, wundert mich nicht. Er hatte mir schon von seiner militärischen Dienststelle aus mitgeteilt, dass er nach dem Kriege sich um die Wiedererweckung Salems bemühen werde. Renate bekam übrigens vor einigen Wochen einen ganz ausführlichen Brief von Dr. (Otto) Gläser, der ja aus dem Lehrerkollegium ausgeschieden, aber noch als Organist an der von den Eltern der gefallenen Salemer gestifteten Orgel tätig ist. Die künftige Entwicklung Salems ist mir von grosser Wichtigkeit. Ich hänge dem Gedanken nach, ob nicht, wenn ich einmal die Augen schliesse, Heinrichs beiden Söhne in das dortige Internat übersiedeln sollten, natürlich unter Mitnahme ihrer Mutter, für die sich vielleicht auch dort ein Posten finden liesse.
Das sind freilich vorläufig nur Pläne, aber die Beschäftigung mit Ihnen wirkt in gewissem Sinne beruhigend bezüglich der Zukunft. Die Zukunft ist für uns alle recht undurchsichtig. Um mich insoweit gut verständlich zu machen, müsste ich viele Bogen schreiben. Ich will nur hervorheben, dass mir weder die staatsrechtliche Gestaltung Deutschlands noch die wirtschaftliche Entwicklung auch nur einigermassen gesichert erscheint. Vergleiche darüber, ob in der einen oder anderen Zone das oder jenes besser als in einer anderen Zone ist, soll man nicht anstellen. Gemeinsam muß allen Erwägungen die Erkenntnis sein, dass der Nazismus auf allen Gebieten eine nahezu sterile Wüste hinterlassen hat, auf der nur ganz ausnahmsweise eine kleine Oase erscheint, die aber möglicherweise sich dann auch als Fata Morgana entpuppt.
Renate hat mit grosser Freude davon Kenntnis genommen, dass Sie sich um ihren Koffer in Titisee mit dem Ergebnis gekümmert haben, dass er noch existiert. Wie allerdings er einmal hierher kommen soll, sehen wir noch nicht. Das von Ihnen erwähnte Mädchen aus Machern, das Sie mit Ihrer ausserordentlichen Gewandtheit in einem Konstanzer Buchladen zufällig entdeckt haben, wird ja doch den Koffer nicht mitbringen können und ist vielleicht schon nach Leipzig zurückgekehrt. Es ist sehr freundlich von Ihnen gewesen, dass Sie dieses Ihnen bisher doch gänzlich fremde Individuum sofort unter den Befehl gestellt haben, aus dem väterlichen Obstgut eine Beisteuer in meinen Haushalt zu liefern. Sie wird Ihrer liebenswürdigen Ueberredung sich gefügt haben, aber nach der Trennung von Ihnen doch einsehen, dass sie das Obst lieber pflichtgemäss abliefern als uns liefern wird.
Auch Ihre Mitteilungen über die Vorgänge in Ihrer weiteren Familie haben meine Teilnahme erweckt. Auch in der meinigen ist recht Schweres passiert. Bei einem der fürchterlichen Angriffe auf Dresden – ich bin jetzt selbst oft in Dresden gewesen und habe mich von der Richtigkeit der allgemeinen Auffassung überzeugt, dass wohl keine Stadt vollständiger und unheilbarer zerstört worden ist als Dresden – wurden die in verschiedenen Stadtgegenden gelegenen Häuser, in denen meine Geschwister und deren verheiratete Kinder wohnten, durch Bomben und Brand völlig zerstört. Meine Schwester Betty flüchtete mit ihrem Ehemann durch die brennende Stadt. Dabei wurde mein Schwager durch einen Bombensplitter, der seine Schläfe traf, getötet; meine Schwester brach an seiner Seite zusammen, von mehreren Splittern im Rücken und an der Hüfte schwer verletzt. Sie kam erst am zweiten oder dritten Tage danach in einem Krankenhause in Pirna wieder zur Besinnung und hat dort viele Monate lang gelegen. Alles, was sie an Wertgegenständen und Geld bei sich getragen hatte, war ihr weggeplündert worden. Jetzt ist sie leidlich wiederhergestellt, muss aber am Stock gehen. Sie lebt nun bei ihrer Tochter bezw. ihrem Schwiegersohn Eduard von Bose, der Amtsgerichtsdirektor in Borna bei Leipzig geworden ist. Mein Neffe Ernst von Mansfeld ist Ministerialrat in der Landesjustizverwaltung. Für beide handelt es sich um erhebliche Beförderungen, die einigermassen die ihnen in der Nazizeit zugefügten Zurücksetzungen ausgleichen sollen.
Sehr gelacht haben wir darüber, dass Sie nun ein angeheirateter Neffe des Grossmuftis von Jerusalem geworden sind. Können Sie diese hohe Verwandtschaft nicht für sich persönlich ausnutzen? Sie würden sicherlich den Arabern manches Nützliche beibringen können.
Ihre Frage, ob ich noch manchmal an Eyba zurückdenke, ist eigentlich recht wunderlich. Diese zwei Tage haften mit allen Einzelheiten in meinem Gedächtnis, das sogar den Versuch festhält, meine bei unserer Exkursion vollständig zerweichten Schuhe durch Lufttrocknung wieder gebrauchsfähig zu machen.
Mit Dr. (Hugo) Schütz habe ich häufige Berührung. Er war nach dem Umsturz sofort an die Spitze des Leipziger Gesundheitsamtes gestellt worden, hat diesen Posten dann aber bald aufgegeben und arbeitet jetzt wieder als ein hochangesehener Nervenarzt, der namentlich auch als gerichtlicher Gutachter stark in Anspruch genommen wird. Von Herrn Dr. (Wilhelm) Sernau weiss ich allerdings nichts. Hartheck (bei Gaschwitz) ist meines Wissens in kommunale Verwaltung gekommen, weil ja alle diese Anstalten dringendst für die Allgemeinheit gebraucht werden.
Nun, lieber Heiner, glaube ich, Ihnen aber wirklich wenigstens das Wichtigste berichtet zu haben, halte mich aber zu von Ihnen gewünschten Ergänzungen gern bereit und sende Ihnen unter Beitritt von Ina, Renate und Ursel herzlichste Grüsse als

Ihr alter (Drucker)

P.S. Halt, beinahe hätte ich vergessen, Ihnen für die Uebersendung Ihres sehr hübschen Essays über den Felchenfang zu danken. Lassen Sie in dieser literarischen Tätigkeit keinesfalls nach.