dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

16. Juni 1946

Mein lieber Oertel!

Wenn ich nicht seit vielen Wochen infolge einer zu spät entdeckten Lungen- und Rippenfellentzündung krank zu Hause läge und erst nunmehr stundenweise das Bett verlassen dürfte, was mir die Möglichkeit zum Diktieren gibt, hätte ich Dir längst für Deinen freundlichen Brief vom 31. März mir dem Du mir zum Goldenen Doktorjubiläum gratulierst, gedankt. Ich glaube also Deiner Verzeihung gewiss sein zu können, wenn ich Dir erst heute meinen schönsten Dank ausspreche.
Was Deine Gewissenfrage angeht, ob wir uns eigentlich in den letzten Jahrzehnten geduzt haben, so kann ich Deiner Erinnerung aufhelfen. Als unsere Wege sich trennten, weil Du von der ersten Bürgerschule nach dem Nikolaikasten abwandertest, während ich Thomaner wurde, haben wir uns jahrelang nur ganz selten gesehen. Ich erinnere mich besonders einer als Gast von mir besuchten Weihnachtsaufführung Deiner Prima, wo Du, wenn ich nicht ganz irre, in einer Damenrolle rauschende Erfolge feiertest. Seltsamerweise sind wir aber trotz des gleichen Studiums auch auf der Universität kaum noch in Berührung gekommen. Erst die Praxis führte uns wieder zusammen. Damals warst Du ein viel beachteter Staatsanwalt mit besten Aussichten, ich dagegen ein Anwaltsanfänger. Diese Umstände werden es verursacht haben, dass wir bei den amtlichen Begegnungen uns siezten. Das war eigentlich um so komischer, als wir sehr bald recht viel mit- und gegeneinander zu arbeiten hatten. Du warst anerkannter Spezialist für Konkurstrafsprozesse geworden, die sich auch bei mir in grösserer Zahl einfanden. Die Konkursprozesse vor den Geschworenen oder der Strafkammer, in denen wir uns gegenübertraten, wurden bald eine aus dem Leipziger Justizleben nicht wegzudenkende Erscheinung. Ich war eingebildet genug, mich der Auffassung hinzugeben, dass diese Sachen sowohl hinsichtlich der Anklage wie der Verteidigung in den besten Händen lagen und dass Du und ich eigentlich weit mehr vom Konkursdelikt verstanden als gewisse Richter und als die kaufmännischen Sachverständigen.
Irre ich mich in dieser Auffassung? Gerade wegen Deiner Tüchtigkeit verstehe ich nicht, dass die Justizverwaltung Dich nicht wieder eingestellt hat. Die siebzig Jahre sind doch wahrlich kein Hindernis. Bei uns in Leipzig amtieren ein paar alte Reichsgerichtsräte, die meines Erachtens die 70 auch überschritten haben, und der Landgerichtspräsident Neu ist doch auch über 70. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass die Justiz, die ja fortgesetzt angefeindet wird, die ihr zukommende Stellung gerade dann am besten wird behaupten können, wenn sie sich auf die Triarier stützt, die die beste Zeit der Justiz erlebt und sie eigentlich erst geschaffen haben.
Deinen „kleinen“ Bruder (Robert Oertel) sehe ich nicht selten, da er in der Johannisgasse amtiert, während mein Büro sich in nächster Nähe im Europahaus befindet.
Nun genug mit diesem Sermon! Ich werde mich freuen, gelegentlich wieder von Dir zu hören.

Mit freundlichen Grüßen

Dein (Drucker)