dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

20. Mai 1946

Lieber Bruder!

Als ich Dir den Eingang Deiner Karte vom 3. April 1946 bestätigte, stellte ich Dir in Aussicht, Dir schon in den nächsten Tagen ausführlich über unsere Schicksale zu berichten. Dazu ist es bisher nicht gekommen, weil ich erkrankt war und auch jetzt nur täglich eine Stunde aufstehen darf. Ich benutze aber die erste Möglichkeit, im Wege des Diktats Dir Nachrichten zu geben.
Inwieweit Du durch Carl schon über unsere Erlebnisse unterrichtet bist, weiss ich nicht, und Du musst deshalb entschuldigen, wenn ich vielleicht manches Dir schon Bekannte wiederhole. Einen vollständigen Ueberblick über die Jahre seit Kriegsbeginn zu geben, ist unmöglich. Wir stehen hier alle unter dem Eindruck, dass im Ausland kein zuverlässiges Bild entstanden ist oder auch nur entstehen konnte von den grauenhaften Ereignissen, die das gänzlich gewissenlose Naziregime hervorgerufen hat. Wenn wir uns noch einmal im Leben wiedersehen sollten, das heisst also, wenn Du es ermöglichen kannst, noch einmal nach Deutschland und in unsere Zone zu kommen, so werden ein paar Stunden genügen, um Dir wenigstens in groben Zügen einen Eindruck von den ausserhalb jedes menschlichen Empfindens liegenden Verhältnissen zu verschaffen, die jene Verbrecherclique zielbewusst und zynisch entwickelte.
Was das Wertvollste, unsere Familie, angeht, so hast Du wohl durch Carl schon erfahren, dass unser Peter im Juli 1942 bei El Alamain an der ägyptischen Grenze den Tod gefunden hat. Auch die Umstände, unter denen sein damals in Kreta befindliches Regiment Hals über Kopf durch Flugzeuge in eine verlorene Schlacht geworfen wurde, um eine dort entstandene Frontlücke in ganz sinnloser Weise für ein paar Stunden zu schliessen, sind empörend. Sein Studium hatte Peter bekanntlich abbrechen und auf den Doktor verzichten müssen, weil er Vierteljude war.  Aber für einen wahnsinnigen Schurken sich totschiessen zu lassen, war er gezwungen.
Auch mit Heinrich erlebten wir dasselbe grausige Schicksal. Ende Januar 1945 wurde seine völlig ausgeplünderte Leiche in einem Strassengraben an der schlesischen Grenze aufgefunden. Die Identifizierung gelang nur durch Briefe, die er in der Tasche seiner Uniformhose bei sich trug. Wie er ums Leben gekommen ist, wissen wir nicht.
Heinrich hatte sich noch zu Gretes Lebzeiten mit einem jungen Mädchen verlobt, aber die Hochzeit sollte erst nach dem Kriege stattfinden. Da tauchte im Jahre 1941 immer eindringlicher das Gerücht auf, dass den Vierteljuden jede Eheschliessung, mindestens solche mit sogenannten arischen Mädchen, verboten werden sollte. Bei dieser Sachlage wollte ich die Verantwortung, die Verlobten zu trennen, nicht auf mich nehmen. Sie heirateten Anfang November 1941 in Leipzig. Wir feierten mit der nächsten Verwandtschaft ein sehr schönes Fest, damals noch in dem Euch ja bekannten grossen Saale unserer herrlichen Wohnung in der Schwägrichenstraße. Am 15. Juli 1943 wurde Heinrichs erster Sohn, Peter Martin Michael, geboren, der für uns alle ein reines Glück bedeutet. Weil aber damals die Bombenangriffe auf Leipzig dichter und gefährlicher wurden, wurde Ursel mit dem Kinde zu einer uns näher bekannten Arztfamilie nach Aue im Erzgebirge gebracht, wo sie – nach dem damaligen Verhältnissen! – doch in wesentlich grösserer Sicherheit als in der Grossstadt Leipzig sich befand. Dort wurde am 17. November 1944 das zweite Söhnchen, Heinrich Carl Christian, geboren. Auch dieses Kind, das sein Vater nie gesehen hat, trägt sehr viel dazu bei, uns über die Sorgen und Schwierigkeiten der Zeit hinwegzuhelfen. Als die Nachricht von Heinrichs Tode eintraf, bestand Ursel auf der Rückkehr mir ihren beiden Jungen zu uns, weil sie es vorzog, mit uns in gemeinsamer Gefahr zu leben, als zuzusehen wie der Familienkreis noch weiter zerrissen würde. Diese Gemeinsamkeit in der Schwägrichenstraße hat nur wenige Tage gedauert, denn nun komme ich zur Schilderung der Bombenangriffe, die über uns hereingebrochen sind.
Schon am 4. Dezember 1943 war unser schönes Büro in der Ritterstraße mit allen Akten und der ausserordentlich wertvollen, tatsächlich unersetzbaren Bibliothek in Flammen aufgegangen. Wir versuchten, den Geschäftsbetrieb von der Schwägrichenstraße aus weiterzuführen. In die dortige Wohnung musste ich aber auch Eckstein mit Frau und Tochter für einige Monate übernehmen, weil ihre in der Haydnstrasse gelegende Wohnung unbewohnbar geworden war. Wir fanden uns mit der Raumbeschränkung ab. Das war auch gar nicht so schwierig, weil weder Ina noch Renate bei mir waren, sondern nur eine Wirtschafterin, die im Oktober 1939 eingetreten war. Am 7. Juli 1944  wurde, nachdem schon im Februar Fenster und Türen der Wohnung durch Fernwirkung vernichtet worden waren, durch eine schwere Bombe der hintere Teil des nach der Mozartstrasse gelegenen Flügels weggerissen.
Das grosse Zimmer und das letzte, das frühere Esszimmer, sowie die Küche, das Mädchenzimmer usw. verschwanden vollständig oder wurden doch völlig unbenutzbar. Wir überwanden auch diese Katastrophe, indem wir noch mehr zusammenrückten. Aber von nun an waren wir stündlich auf das Letzte gerüstet. Am 27. Februar 1945, wie oben erwähnt, wenige Tage nachdem ich Ursel mit den beiden Kinder aus Aue heimgeholt hatte und auch Renate inzwischen aus Strassburg zurückgekehrt war, erlebten wir einen fürchterlichen Angriff. Die Phosphorbomben taten so gründliche Arbeit, dass das ganze grosse Haus leer brannte. Weil das Feuer von oben nach unten, also zuletzt im Erdgeschoss wütete, wurden zwar durch hilfreiche Freunde sehr beträchtliche Einrichtungsgegenstände gerettet, das heisst zunächst auf die Strasse gestellt. Sie wurden dann in einem Lagerhaus untergebracht. Dort sind sie bei einem erneuten Angriff am 6. April 1945 ebenfalls ein Raub der Flammen geworden. Eine Anzahl Kisten, die bei  der Hans Eitner A.G. eingelagert waren, sind, als dort die Plünderungen einsetzten, beraubt worden.
Fazit: Wir besitzen nichts mehr ausser dem Flügel und ein paar Kleinigkeiten. Nur ein paar Kisten mit Tafelsilber und Geschirr sowie eine Anzahl Bücherkisten, die ausgelagert waren, sind noch vorhanden.
Obdachlos geworden, fanden wir getrennt Unterkunft bei verschiedenen Bekannten. Als sich herausstellte, dass ein sogenannter Kollege von mir, einer der übelsten Schurken, die mir begegnet sind (gemeint ist RA Alfred Zuberbier), meine Verbringung in ein Konzentrationslager betrieb, beeilten wir uns, nach Jena überzusiedeln und dadurch aus dem Gesichtskreis der hiesigen Verbrecher zu kommen. Wir waren kaum drei Wochen dort, als die amerikanische Armee kampflos in Jena einzog und uns von der kaum mehr erträglichen, weil ununterbrochenen, Alarmdrohung befreite.
In Leipzig war sofort nach dem Einmarsch der Amerikaner die Wiederaufrichtung des Anwaltsstandes in die Wege geleitet worden. Als ich im Juni von Jena zurückgeholt wurde, war ich bereits zum Mitglied des von den Amerikanern eingesetzten Ausschusses der Rechtsanwälte und Notare gewählt worden und wurde sofort dessen Präsident; einige Zeit danach, nachdem inzwischen der Besatzungswechsel vollzogen und in Dresden eine vorläufige Sächsische Anwalts- und Notarkammer errichtet worden war, Vizepräsident dieser Kammer. Meine Arbeitslast ist wohl beispiellos, aber solange ich sie bewältigen kann, muss es eben gehen.
Wir bekamen die oben angegebene Wohnung in einem schönen Hause; möbliert ist sie freilich mit geborgten Gegenständen aus acht verschiedenen Haushaltungen.
Ina war schon seit 1941 als Aerztin dienstverpflichtet in Pommern und mehrere Jahre dort am Kreiskrankenhaus Schlawe tätig. Als Schlawe von den Russen genommen wurde, wurde sie in ein Kriegsgefangenenlager nach Thorn im ehemaligen Westpreussen verbracht. Wir wussten lange Zeit nichts von ihr, bis sie im Dezember vorigen Jahres in Leipzig eintraf. Sie hat die dortige Zeit gut überstanden und ist duchaus als Aerztin respektiert worden. Jetzt ist sie nun hier als Assistenzärztin am Kinderkrankenhaus.
Renate, die ja mehrere Jahre ihr Studium nicht fortsetzen durfte, bekam 1941 die Erlaubnis, in Leipzig und dann in Strassburg weiter zu studieren, und hat dort auch noch ihr Doktorexamen abgelegt, als die Amerikaner und Franzosen dort schon einmarschierten. Jetzt ist sie hier als Universitätsassistentin für mittelalterliches Latein und historische Hilfswissenschaften; darüber darf aber zur Zeit noch nicht gelesen werden. Sie betätigt sich auch im übrigen rege, wenn auch bisher fruchtlos, am Wiederaufbau der deutschen Kultur.
Nun noch zu Euch und Eurem in Deutschland zurückgelassenen Vermögen. Peter hat seinerzeit, als er die Nachricht von Berthas Weggang erhielt, mit der ihm eigenen Umsicht und Tatkraft Euren Haushalt aufgelöst und die ganze Habe in Lagerhäusern untergebracht. Als die Angriffe auf Hamburg Bedenken erregten, liess ich alles nach Leipzig kommen. Kurz darauf wurden tatsächlich die Hamburger Lagerhäuser vollständig vernichtet. Aber was wir hier, wie wir meinten, soweit wie möglich sichergestellt hatten, ist dann durch den Bombenkrieg vernichtet worden. In meiner Wohnung befinden sich nur noch zwei von Peter versiegelte Pakete, die ich hier in der Stahlkammer der ADCA eingelagert hatte, wo sie mir alsdann von der russischen Besatzungsmacht freigegeben worden sind.
Wie es mit etwaigen Konten bei der Norddeutschen Kreditbank steht, weiss ich nicht. Darüber wird Dir Herr Hagemann vermutlich schreiben, dem ich auf Wunsch soeben Deine Adresse mitgeteilt habe.
Von der weiteren Familie ist leider zu berichten, dass Karl Mannsfeld im Februar vorigen Jahres auf der Strasse durch einen in die Schläfe dringenden Bombensplitter getötet worden ist, als er mit Betty durch das völlig in Flammen stehende Dresden flüchtete. Betty selbst hatte schwere Splitterverletzungen in der Hüfte erhalten, ist aber nach wochenlanger Krankheit mit dem Leben davon gekommen. Sie war kürzlich mehrere Wochen zu Besuch bei mir. Ebenso wie sie selbst haben auch ihre beiden Kinder ihre Haushaltungen vollständig verloren. Teddy von Bose ist jetzt Amtsgerichtsdirektor in Borna bei Leipzig. Betty wohnt bei ihm. Ernst Mansfeld ist Ministerialrat bei der Landesverwaltung für Justiz in Sachsen.
Ich schliesse nunmehr diesen trotz aller Beschränkung recht weitläufig ausgefallenen Sachbericht und bitte Dich, mir seinen Eingang unverzüglich zu bestätigen. Ich möchte so gern über Dein, Berthas und Joans Ergehen unterrichtet sein, weil darüber von Carl nur spärliche Informationen vorliegen.

Mit herzlichen Grüssen an Euch alle von uns allen
Dein Bruder (Martin)