dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

10. August 1946.

Sehr geehrter, lieber Herr Breslauer!

Am 6. August wurde ich durch Ihren Brief vom 21. Juli freudig überrascht. Ich bin erstaunt, dass Trixi in der Lage gewesen ist, Ihnen von New York aus meine neue Adresse mitzuteilen. Sie ist demnach doch mit dem einen oder anderen meiner Bekannten aus Deutschland zusammengetroffen, in deren Kreis meine Adresse rasch bekannt geworden zu sein scheint. Dagegen hatte ich aus Holland noch keinerlei Nachrichten bekommen und insbesondere über Ihren Verbleib nichts erfahren. Erst jetzt entnehme ich nun aus Ihrem Brief, dass auch Sie den Weg ins Lager haben gehen müssen, dass es aber Ihrer tapferen Gattin nach verhältnismässig kurzer Zeit gelungen ist, Ihnen die Freiheit wieder zu verschaffen.
Das Wesentlichste über meine Schicksale haben Sie mit den Nachrichten über den Tod meiner beiden Söhne bereits erfahren. Peter ist übrigens nicht im Osten gefallen, sondern in Aegypten bei dem verbrecherischen Abenteuer, das die Hitlerstrategen damals mit der geplanten Eroberung Nordafrikas ins Werk setzten. Heinrich hat Ende Januar vorigen Jahres den Tod gefunden, nachdem seine Einheit vor den rasch nachdrängenden Russen nach Niederschlesien gelangt war, wo er für einige Tage zur Ordnung irgendwelcher sicherlich ganz überflüssiger Büroangelegenheiten zurückgelassen wurde. Ueber die näheren Umstände seines Todes werden wir nie etwas erfahren. Seine Leiche ist von einem Soldaten eines ganz anderen Truppenteils in einem Strassengraben gefunden worden, völlig ausgeplündert bis auf die Uniformhose, in deren Tasche er zufällig die letzten beiden Briefe seiner Frau bei sich getragen hatte.
Meine beiden Töchter sind jetzt bei mir. Ina war, als die Russen die kleine Stadt Schlawe in Hinterpommern, wo sie am Krankenhaus dienstverpflichtet war, eingenommen hatten, in ein Kriegsgefangenenlager nach Thorn in Westpreussen überführt worden, wo sie aber als Aerztin eine ganz erträgliche Zeit verbracht hat. Im Dezember vorigen Jahres kam sie hierher zurück und ist nunmehr als Aerztin am Kinderkrankenhaus tätig. Renate, die ihr Studium zuletzt in Strassburg abgeschlossen hatte, legte dort gegen Ende 1944 ihr Doktorexamen ab und ist nun jetzt mit einem Lehrauftrag für Mittellatein und geschichtliche Hilfswissenschaften hier als Universitätsassistentin angestellt, konnte aber noch nicht lesen, weil die Pflege geschichtlicher Fächer in der Universität noch nicht wieder erlaubt ist.
Unter den Ausbombungen haben wir alle schwer gelitten. Im Dezember 1943 ging unser Ihnen so wohlbekanntes Büro in der Ritterstraße in Flammen auf, wobei ausser allen Akten und Urkunden auch meine herrliche Bibliothek restlos verloren ging. Ich nahm das Büro und für einige Monate auch die Familie Eckstein, deren Wohnung in der Haydnstrasse aufs schwerste beschädigt worden war, in meine Wohnung in der Schwägrichenstrasse, die deshalb dazu Platz bot, weil meine Schwiegertochter mit ihrem damals einzigen Kinde nach Aue im Erzgebirge evakuiert worden war. Im Juli 1944 riss eine Bombe von dem nach der Mozartstrasse zu gelegenen Flügel unseres Wohnhauses ein grosses Stück weg, so dass wir uns noch mehr zusammendrängen mussten. Aber am 27. Februar 1945 wurden wir derartig mit Phosphorbomben belegt, dass das ganze Haus bis auf die Grundmauern niederbrannte, wobei naturgemäss fast alles, was sich an beweglicher Habe im Haus befand, zu Grunde ging. Wir konnten zwar aus unserer Parterrewohnung noch verhältnismässig viel retten und es in einem Lagerhaus aufbewahren lassen. Aber am 6. April 1945 wurde dann auch dieses Lagerhaus mit seinem ganzen Inhalt vernichtet. Ich wohne jetzt mit Schwiegertochter und Enkeln sowie meinen Töchtern in dem oben angegebnen Hause in einer recht schönen, wenn auch nur 5½  Zimmer grossen Wohnung. Aber, was darin steht, ist aus acht verschiedenen Haushaltungen zusammengeborgt.
Durch das Ereignis vom 27. Februar waren wir obdachlos geworden und zogen bei verschiedenen Bekannten umher. Gegen Ende März aber hielt ich es für geraten, mich der damals beabsichtigten  Verbringung in ein Konzentrationslager dadurch zu entziehen, dass wir nach Jena übersiedelten und auf diese Weise uns den Blicken der hiesigen Nazibestien entrückten. Als wir drei Wochen in Jena waren, rückten dort ganz friedlich die Amerikaner ein, und damit war der Krieg in seiner für uns scheusslichsten Form, nämlich den ununterbrochenen Bombenangriffen zu Ende. Anfang Juni kehrten wir nach Leipzig zurück, und ich bin seitdem wieder in der Praxis ausserordentlich stark beschäftigt.
Dr. Eckstein hatte inzwischen das Büro einer ausgefallenen Anwaltssozietät im Europahaus mieten können. Nach meiner Rückkehr gelang eine beträchtliche Erweiterung. Er persönlich hat den Krieg leidlich überstanden, aber, was nicht wunder nehmen darf, gleichfalls seine ganze Habe am 27. Februar 1945 verloren. Sein älterer Sohn, der mit Bernhard und Peter gleichaltrig war, ist, und zwar vermutlich schon Anfang 1944, als Ingenieurleutnant mit einem Unterseeboot wohl in der Chinesischen See untergegangen. Der jüngere Sohn ist vor einigen Monaten aus der Gefangenschaft zurückgekehrt, aber mit soviel beträchtlichen Durchschüssen, dass er am Stock geht und der Eintritt in irgendeinen festen Beruf höchst zweifelhaft geworden ist. Wir beschäftigen ihn einstweilen auf dem Büro als Telefonisten. Ecksteins Tochter Hilde, die 1943 den hiesigen Arzt Dr. (Roland) Ady geheiratet hatte, ging Ende 1944 zu ihm nach Delmenhorst bei Bremen und ist jetzt noch dort. Sie ist aber so schwer krank, dass, wie ich gerade heute hörte, eine Rettung ausgeschlossen erscheint.
Von (Erich) Cerf haben wir merkwürdigerweise noch keine Nachricht. Schon im vorigen Jahre hatten wir einen nach Palästina reisenden Herrn einen Brief an ihn mitgegeben, den er vielleicht nicht bekommen hat. Da der Postverkehr doch nun schon länger als vier Monate zulässig ist, können wir uns nicht erklären, warum keine Nachricht von ihm kommt.
Dr. (Gustav) Melzer übt nach wie vor seine Praxis aus. Er hat vielleicht noch mehr zu tun als jemals früher.
Von Eitners Lagerhäusern sind mehrere zerstört, die anderen aber noch erhalten geblieben. Georg Eitner ist vor etwa zwei Jahren gestorben. Das Unternehmen wird jetzt recht gut von Grossner geleitet.
Ihre Frage nach den grossen Matadoren am Brühl lässt sich nicht gut beantworten. Um mich verständlich zu machen, müsste ich bei Ihnen eine Kenntnis der wirtschaftlichen Grundsätze voraussetzen, die hier zur Geltung gekommen sind.
Darüber, dass mein Freund (Julius) Magnus schliesslich im Konzentrationslager buchstäblich verhungert ist, war ich schon unterrichtet.
Auf Ihr freundliches Angebot, mir Auskünfte über Personen in den Niederlanden zu verschaffen, bitte ich Sie, wenn möglich, mir eine Nachricht darüber zukommen zu lassen, was aus der Familie meines Freundes Justizrat Moritz Carstens aus Cottbus geworden ist. Er selbst ist wohl 1943 dort gestorben. Es lebt aber, und zwar wohl in Amsterdam sein Sohn Dr. (Otto) Carstens, der gleichfalls in Cottbus Anwalt gewesen, aber ebenfalls nach den Niederlanden ausgewandert war. Dort hatte er sehr geschickt eine allerliebste Bibliothek über holländische Städte herausgegeben und dabei die volle Unterstützung der dortigen Behörden gefunden. Leider kann ich seine Adresse nicht angeben, weil auch das Notizbuch, in dem sie notiert war, verbrannt ist.
Mein Freund Dr. (Rudolf) Fürst aus Heidelberg ist in Holland gestorben.
Von meinem Bruder Carl in Upsala habe ich nach Beendigung des Krieges endlich wieder einmal Nachricht bekommen. Von Conrad in London wusste ich seit Ende 1939 überhaupt nichts mehr. Aber nunmehr stehen wir wieder im Briefwechsel.
Der Krieg ist nun schon fünfzehn Monate vorüber, und vieles hat sich wieder eingerenkt, aber mindestens ebensoviel harrt noch der Wiedereinrichtung, die von den verschiedensten Ereignissen und Möglichkeiten abhängt.
Ich werde mich sehr freuen, wieder von Ihnen zu hören, und bleibe mit besten Empfehlungen an Ihre Frau Gemahlin und freundlichen Grüssen

Ihr (Drucker)

P.S. Renate, die mich diktieren hört, ruft mir aus dem Nebenzimmer schöne Grüsse für Sie zu.