dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

Februar 1946.

Lieber Herr Kollege Dittenberger!

Auf Ihre beiden Briefe, die ich allerdings mit erheblicher Verspätung erhalten  habe, hätte ich wohl längst antworten sollen.
Aber der Absicht, Ihnen, wie an sich geboten und selbstverständ­lich wäre, handschriftlich zu antworten, setzte der bei mir chronisch gewordene Mangel an Zeit für private Angelegenheiten ein unübersteigliches Hindernis entgegen. Ich bitte Sie deshalb zu gestatten, dass ich mich des Diktats bediene. Die dazu nötige Zeit kann ich von der spätabendlichen Stunde erübrigen, in der ich zu Hause noch diktiere.
Ich möchte Ihnen zunächst meine grosse Freude darüber ausdrücken, dass Sie und Ihre Familie durch diesen wahnsinnigen Krieg ohne Leibesopfer hindurchgekommen sind. Das Bedauern darüber, dass Ihre Töchter bei dem Luftangriff auf Würzburg schliesslich noch so gut wie alles verloren haben, muss hinter dem Glück über die Bewahrung des Lebens aller Ihrer lieben Angehörigen zurücktreten. Ich habe in schmerzlicher Weise die Legitimation erworben, so zu sprechen. In Ihrem Brief vom 20. Dezember 1945 haben Sie mir Ihre Teilnahme wegen des Verlustes meines jüngsten Sohnes ausgesprochen. Ich danke Ihnen herzlich dafür. Aber ich muss Sie darüber unterrichten, dass Sie über die ganze Gewalt der Schläge, die das Schicksal mir zugefügt hat, noch nicht unterrichtet sind. Nachdem mein Peter im Juli 1942 bei dem verbrecherischen und wahnsinnigen Abenteuer des Feldzuges in Nordafrika bei El-Alamein sein Leben hatte lassen müssen, blieb mir nur noch mein älterer Sohn Heinrich, der 1941 geheiratet hatte. Er war jahrelang in Polen bei einer Landesschützenformation der Luftwaffe. Gegen Ende Januar vorigen Jahren, als die Russen immer näher kamen, wurde seine Truppe westwärts verlagert; ihn liess man für einige Tage zur Abwicklung vermutlich irgendwelcher überflüssiger Bürogeschäfte in der kleinen Stadt Lüben in Schlesien zurück. Auf der Landstrasse von Lüben in der Richtung Berlin ist dann seine völlig ausgeplünderte Leiche gefunden worden. Hätte er mir nicht zwei Enkelsöhne, die jetzt zweieinhalb und fünfviertel Jahr alt sind, hinterlassen, so wäre unser Familienname erloschen.
Meine Tochter Ina, die mehrere Jahre lang Aerztin am Kreiskrankenhaus in Schlawe in Pommern war, geriet dort in russische Gefangenschaft und wurde nach Thorn in Westpreussen verbracht, von wo sie nach siebenmonatigem Verschollensein endlich im November vorigen Jahres hierher zurückgekehrt ist. Renate ist es gelungen, ihr Doktorexamen in Strassburg abzuschliessen, als die Franzosen bereits in die Stadt einmarschierten. Sie ist nun auch in Leipzig Assistent in der vor einigen Tagen hier eröffneten Universität.
Da ich nun einmal ins Persönliche eingegangen bin, will ich nun auch berichten, wie es mir sonst ergangen ist.
Am 4. Dezember 1943 wurde mein schönes Büro in der Ritterstrasse mit allem, was darin war, insbesondere auch der grossen unersetzlichen Bibliothek vernichtet. Am 7. Juli 1944 riss eine Bombe einen grossen Teil des Mozartstrassenflügels an meinem Wohnhaus weg, und zwar insbesondere diejenigen Räume, in denen Dr. Ecksteins Büro Unterschlupf gefunden hatte. (Ich selbst war, wie Sie vielleicht gehört haben, unter dem 1. April 1944 in den Ruhestand versetzt worden.) Am 27. Februar 1945, bei einem der allerschwersten Angriffe, die Leipzig durchgemacht hat, wurde das Haus gänzlich zerstört, und es gelang nur, einen Teil der Möbel zu retten. Sie wurden in einem Lagerhaus untergebracht, das dann am 6. April 1945 gleichfalls durch Bomben und Phosphor völlig vernichtet wurde. Eine Anzahl Kisten, die bei einem Spediteur eingelagert waren, wurden dann von dem Gesindel geplündert, das nach dem Zusammenbruch sich überall breit machte. Ende März waren wir nach Jena übergesiedelt, einmal weil wir obdachlos waren, zum anderen weil berechtigter Anlass für die Vermutung bestand, dass man mich noch ins Konzentrationslager schaffen wollte. Nach dem Einmarsch der Amerikaner sind wir zurückgekehrt, unsere jetzige Wohnung sehen Sie oben. Noch ehe ich hier war, hatte der amerikanische Gerichtsoffizier durch diejenigen Anwälte, die niemals der Partei oder ihren Gliederungen angehört hatten, einen Ausschuss wählen lassen, zu dessen Präsidenten ich bestimmt wurde. Die Praxis befindet sich im Europahaus am Augustusplatz (jetzt Karl‑Marx‑Platz). Sie beansprucht meine Arbeitskraft mit ungefähr siebzig Stunden die Woche.
Die Tätigkeit als Präsident des hiesigen Ausschusses und als Vizepräsident des in Dresden neu gebildeten Kammervorstandes erfordert auch viel Zeit, zumal ja die Reorganisation der Rechtsanwälte eine ebenso schwierige wie verdriessliche Aufgabe darstellt. Das Endergebnis ist noch gar nicht abzusehen. Ich verstehe durchaus, dass Sie unter den gegebenen Verhältnissen in den Richterstand zurückgetreten sind, zumal ja in Ihrem Bezirk die anwaltlichen Verhältnisse noch weniger entwickelt zu sein scheinen als bei uns. Der Ruf an die Seite (Karl) Geilers nach Grosshessen bedarf aber doch ernster Beachtung. Es kommt freilich darauf an, welche Stellung Sie dort erhalten können.
Die Organisation der Anwaltschaft über das Gebiet Sachsens hinaus begegnet Schwierigkeiten, über die ich mich nicht näher auslassen kann. Dr. (Eugen) Schiffer hat mir allerdings sagen lassen, dass er mit der Wiedererweckung des deutschen Anwaltvereins einverstanden sei. Aber ich glaube, er übersieht die Verhältnisse nicht genug. Ich stosse zunächst schon auf Hindernisse bei der Heranziehung der Kollegen, die zunächst einmal den Kern des Vereins bilden müssen. Hier in Leipzig hätte ich zwar ausser (Armin) Hahnemann genug tüchtige Kräfte (Kollege Dr. (Erich) List ist ehrenamtlicher Geschäftsführer unserer hiesigen Organisation und zeigt Ihre Schule). (Wilhelm) Kraemer ist in Berchtesgaden geblieben und wohl auch schon gesundheitlich nicht mehr in der Lage, den Beruf auszuüben. Aus Berlin schrieb mir (Carl) Horn unaufgefordert, dass er dort in der Justizverwaltung von den Plänen zur Wiedererweckung des Vereins gehört habe und sich vollständig zur Verfügung stelle. Es ist übrigens charakteristisch, dass er die Notwendigkeit betont, als Sitz des Vereins Leipzig und keinesfalls Berlin zu wählen. Von den übrigen früheren Führern der Anwaltschaft ist beispielsweise (Hodo von) Hodenberg dadurch weggefallen, dass er Präsident des Oberlandesgerichts Celle geworden ist. Das Haupthindernis besteht darin, dass man nur mit grosser Mühe Ermittlungen darüber anstellen kann, wer in den einzelnen Bezirken als Anwalt wieder zugelassen ist, und dass die Grundsätze, nach denen die Ausübung der Praxis wieder gestattet wird, in den verschiedenen Gebieten Deutschlands anscheinend sehr weit auseinanderklaffen. Wir müssten aber doch für die Mitgliedschaft eine gewisse Einheitlichkeit zur Voraussetzung machen. In Sachsen werden grundsätzlich alle Anwälte ausgeschlossen, die jemals der Partei oder einer ihrer entferntesten Gliederungen angehört haben; sie können zur Praxis nur wieder zugelassen werden, wenn sie eine erhebliche antifaschistische oder antimilitaristische Tätigkeit, ausgeübt während des Dritten Reiches, nachzuweisen vermögen. In anderen Teilen Deutschlands scheint eine viel mildere Auffassung zu herrschen. Ich vermag also zur Zeit noch nicht zu erkennen, ob es möglich sein wir, das Rekreationsproblem fest anzupacken.
Über die juristische Wochenschrift hat Ihnen Herr (Paul) Goldstein mehrfach berichtet. Das Verlangen nach der Neubelebung dieser Zeitschrift im früheren Geiste ist allgemein sehr stark. Die technischen Schwierigkeiten sind aber noch nicht behoben. Neuerdings scheint der berüchtigte deutsche Rechtsverlag sogar Ansprüche auf das Eigentum bezw. Verlagsrecht erheben zu wollen. Die Wünsche werden wir ihm vielleicht versalzen können.
Ich glaube, dass ich Ihnen fürs erste einen ausreichenden Bericht gegeben habe. Hoffentlich ist es uns beiden möglich, im Mitteilungsaustausch zu verbleiben. Ihrer Frau Gemahlin, die zuletzt wohl 1941 bei mir in der Schwägrichenstrasse war, bitte ich, meine verehrungsvollen Grüsse zu übermitteln.
Ich verbleibe in herzlicher Ergebenheit

Ihr (Drucker)