dr. jur. Hubert Lang

Anwaltsgeschichte

Denn die große Frage läuft am Ende nur darauf hinaus, zu wis­sen, ob die Juden Menschen sind!

Isidor Kaim – Der erste jüdische Advocat in Sachsen

Am 25. Februar 1817 wurde Samuel und Buna Kaim in Dresden ihr fünf­zehntes Kind geboren. Der Juwelier und spätere Vor­steher der israe­litischen Gemeinde gab seinem jüngsten Kind den Na­men Isidor.

Der gut ausgebildete Sohn Isidor war fest in der jüdischen Famili­entradition verwurzelt und wurde so ein entschiedener Kämpfer für die Emanzipation der Juden in Sachsen.

Schon am Tag des Erlasses des sächsischen Judengesetzes, am 16. Au­gust 1838, reichte er ein Gesuch auf Übersiedlung nach Leipzig ein. Wenige Monate später wurde Isidor Kaim an der Leipzi­ger Universität immatrikuliert. Er studierte zunächst Medi­zin, wechselte dann aber zur juristischen Fakultät. Bereits zu Mi­chaelis 1841 beendete er seine Studien und beantragte die Zulassung zum Ex­amen „pro praxi juridica et pro notariatu“. Diesem Antrag stimmte das sächsische Gesamtministerium nach eingehender Beratung zu. Im Schreiben vom 4. September 1841 wird dar­auf hin­gewiesen, daß damit dem jüdischen An­tragsteller keine Aussicht auf die Advocatur eröffnet werde.

Isidor Kaim empfand die Zurücksetzung und Diffamierung der Juden  besonders intensiv, wie sich bereits an seiner ersten publizisti­schen Arbeit im Jahr 1840 zur Geschichte der Juden in Sachsen ein­drucksvoll zeigt. Bis 1869 erschienen zahlreiche weitere Publika­tionen. Zur Geschichte der Juden, aber auch zu kirchenrechtlichen Fragen äu­ßerte sich der Jurist kompetent, engagiert und kritisch.

Obwohl 1767 der erste Jude zum Studium an der Leipziger Universität zugelassen wurde, dauerten die Beschränkungen hinsichtlich der spä­teren Berufsausübung noch lange fort. In ganz besonderer Weise galt das für die Zulassung von Juden zum Staatsdienst. Bereits im „Sach­senspiegel“ war festgeschrieben, daß Juden keines Dritten Fürsprech (Sachwalter) sein durften. An dieser Situation änderte sich bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts nichts.

Nur so ist zu erklären, daß 1842 der Antrag Isidor Kaims, endgültig nach Leipzig überzusiedeln, abgelehnt wurde. Die Regierung befürch­tete, daß er später die advocatorische Praxis ausüben wolle.

Die Ständeversammlung des Sächsischen Landtages befaßte sich erst­mals 1836/37 mit der Frage, ob Juden die Advocatur gestat­tet werden dürfe. Zu die­ser Frage kamen die beiden Kammern nicht zu einer Überein­stimmung, so daß erst im soge­nannten „Vereinigungsver­fahren“ folgender Beschluß zustande kam: „die Ständeversammlung finde sich bewogen zu erklären: die Staatsregierung könne in vorkommenden Fäl­len wegen Zulassung der Juden zur Advocatur Dispensation erteilen.“

1837 wurde bei den Erörterungen zum Ge­setz, „einige Modificationen der bürgerlichen Verhältnisse der Juden betreffend“, erklärt, daß  nicht be­absichtigt sei, den Juden die Sachwalterpraxis zu gestat­ten. Das Gesetz vom 16. August 1838 über die bürgerlichen Verhält­nisse der Juden sprach die Ausschließung der Juden von der Advoca­tur, dem Notariat und dem Staatsdienst expressis verbis nicht aus.

Allerdings stand der Verpflichtung von Juden eine Verordnung vom 2. November 1837 entgegen, welche regelte, daß der erforderliche Eid auf den christlichen Glauben zu leisten sei. Diese Verordnung stand jedoch im Widerspruch zum Artikel XVI der deutschen Bundesakte.

Wohl deshalb wurde – erstmals in Sachsen – durch das Stadtgericht Leipzig im Jahr 1842 mit Isidor Kaim ein jüdischer Rechtscandidat auf die für Juden vorgeschriebene Formel „bei Adonai, dem ewigen Gott Israels“ vereidigt. Trotzdem waren für Isidor Kaim die Chan­cen, die Zulassung zur Advocatur zu erlangen, gering. Er ent­schloß sich deshalb, dem König in einer öffentlichen Audienz am 23. Okto­ber 1845 seine Bitte persönlich vorzutragen. Da ihr ent­sprochen wurde, blieb dem Minister von Kön­neritz keine an­dere Möglichkeit, als die Zulassung zur Advocatur mit Verfügung vom 22. November 1845 auszusprechen. Seine Tätigkeit konnte Isidor Kaim erst Jahre später aufnehmen, da die Verordnung vom 9. Juli 1836 für die einzelnen zu­gelassenen Advocaten eine be­stimmte Rei­henfolge vorsah.

1846 mußte sich die Stän­de­versammlung auf Grund einer Petition von Isidor Kaim mit der Frage der Zulassung der Juden zur Advocatur, zum Nota­riat und dem Staatsdienst befassen. Die Erörterungen waren noch im Gange, als die Revolution ausbrach. Den Fortgang dieser Verhandlungen hatte Isidor Kaim dadurch öffent­lich gemacht, indem er 1846 in Dresden im „Archiv für sächsische Juristen“ einen Bei­trag zur Beantwortung dieser Frage publizierte.

Hinsichtlich der Ernennung zum Notar zog sich die sächsische Regie­rung weiterhin auf den Standpunkt zurück, daß die Notariatsordnung von 1512 fortgelte, nach welcher „Ungläubige“ ausgeschlossen seien.

Allerdings wies Isidor Kaim darauf hin, daß nach dieser vorreforma­torischen Regelung dann auch Protestanten als „Ungläubige“ ausge­schlossen sein müßten.

Am 25.10.1847 stellte Isidor Kaim einen erneuten Antrag auf Über­siedlung nach Leipzig, da er ab Februar 1848 entsprechend der fest­gelegten Reihenfolge seine advocatorische Praxis in Leipzig eröff­nen konnte. Diesem Übersiedlungsantrag wurde stattgegeben und Isi­dor Kaim bezog sein Büro in Schwabes Hof, damals im Brühl 65.

Die Übersiedlung nach Leipzig wird Isidor Kaim als ganz besondere Genugtuung empfunden haben, da 15 Jahre zuvor sein Bruder Bonnier aus die­ser Stadt verwiesen worden war. Der Verfasser dramatischer Werke war 1833 nach Leipzig gekommen, weil er diese Stadt „für ei­nen tieferen Brunnen hielt, worin sich hinsicht­lich literarischer Geschäfte mehr als in jedem anderen Orte schöp­fen ließe.“ Diese Hoffnung schien sich zu bestä­tigen, da er die Zeitschrift „Iris“ he­rausgab. Nachdem aber nur 10 Nummern erschienen waren, erfolgte das Verbot seitens der Stadt. Eine Be­schwerde bei der Ständever­sammlung vermochte hieran nichts zu än­dern: „Die Zeitschrift kann nicht bestehen, weil der Redakteur Jude ist.“  Faktisch ist Bon­nier Kaim der erste jüdische Redakteur in Sachsen gewesen.

Im Juli 1848 stellte Isidor Kaim den Antrag, ihm die Bürgerrechte zu verleihen, dem ein Jahr später ent­sprochen wurde.

Die 48er Revolution sah den ersten jüdischen Advocaten als feurigen Redner und Publizisten auf der Seite der Demokraten. Hierdurch wurde Isidor Kaim bei der Polizei endgültig zum gefährlichen Sub­jekt.

In dem „Verzeichnis derjenigen Personen, welche sich seit dem Jahre 1848 als Führer oder Anhänger der Umsturzpartei hierselbst be­merk­bar gemacht haben und sich als entschiedene Gegner der Regierung bezeigen“ wird Isidor Kaim neben 108 anderen Leipzigern als Redner erwähnt, der eine ziemliche Popularität genoß.

Isidor Kaim blieb in den folgenden Jahren die absolute Ausnahme als jüdischer Advocat, da nunmehr bei der Immatrikulation die Studenten ausdrücklich darauf hingewiesen wurden, daß hiermit keine Aus­sicht auf die spätere Zulassung zur Advocatur verbunden werden könne.

Seine anwaltliche Praxis hatte nach der Überlieferung ihren Schwer­punkt beim Leipziger Handelsgericht, welches ihm am 25.08.1854 ein durchaus positives Zeugnis ausstellte. Trotzdem blieb der jüdische Advocat in Leipzig eine für Kollegen und Gerichte nur schwer hin­nehmbare Tatsache. Die bruchstückhafte Überlieferung belegt, daß immer wieder versucht wurde, ihm Schwie­rigkeiten zu bereiten.

Besonders verletzt hat den Advocaten als ihm Ende 1851 im Vorraum des Leipziger Appellationsgerichts lapidar eröffnet wurde, daß die­ses ihn „mit Rücksicht auf seine jüdische Confession“ als Sachwal­ter in einer terminierten Ehesache abgelehnt habe. Bemerkenswert ist, daß die seitens des Justizministeriums zu dieser Frage ange­hör­ten anderen sächsischen Appellationsgerichte, wie auch das Ober­ap­pellationsgericht, die Leipziger Auffassung nicht teilten.

Bereits 1845 bewies Isidor Kaim mit der Veröffentlichung des ersten Teils seines „Kirchenpatronatsrecht“, daß er zu dieser Frage mehr juristischen Sachverstand besaß, als die meisten sei­ner Kollegen. Das belegen auch die weiteren von ihm gefertigten Schriften, die sich mit unterschiedlichen Fragen des Kirchenrechts befassten.

Im April 1852 ist eine weitere Attacke über­liefert. Isidor Kaim hatte die Verteidigung des Lehmann übernommen. Nachdem dieser ver­haftet wor­den war, bemühte er sich um seine Freilassung, die ver­weigert wurde. Erst nachdem Leh­mann dem jüdischen Advocaten die Vollmacht entzog, wurde er ent­lassen, obwohl sich an der Sachlage nichts ge­ändert hatte. Da Kaim dem Lehmann die Rückerstattung des ge­zahlten Honorars ver­weigerte, erstattete er Anzeige. In dieser Denunziation behauptete Lehmann, daß Kaim als sein Verteidiger ihn belastendes Beweismate­rial beiseite geschafft und vernichtet habe.

Als sich ein Leipziger Steinhauer von Isidor Kaim benach­teiligt fühlte, war die lang herbeigesehnte Gelegenheit ge­kommen, sich des ungewollten jüdischen Sachwalters endgültig zu entledigen. Bereits im November 1849 hatten die Eheleute Ehmig dem Advocaten Kaim eine Generalvollmacht zur Wahrnahme ihrer Vermögensinteressen gegeben, über deren Motive es später gegensätzliche Erklärungen gab. Tatsa­che ist, daß Isidor Kaim in diesem Zusammenhang Wertpapiere ausge­händigt wurden und der Steinhauermeister Ehmig bereits zum da­mali­gen Zeitpunkt „verblödet“ war.

Diese Wertpapiere hat Isidor Kaim zur Erhöhung des Ertrages gegen einen Wechsel des Prinzen Georg von Schönburg und Waldenburg wegge­geben. Dieser dem sächsischen Adel angehörende Of­fizier in Wiener Diensten hat aber entgegen der festen Überzeugung Kaims den Wechsel nicht bedient, was letztendlich tatsächlich zu erheblichen Verlu­sten im Ehmigschen Vermögen führte. Da die Eheleute Ehmig bestrit­ten, ihrem Advocaten einen Auftrag zur Verbesserung des Ertrages ihres Vermögens erteilt zu ha­ben und auch behaupteten, von der Trans­aktion mit dem Prinzen Schönburg nicht informiert gewesen zu sein und dieser auch nicht zugestimmt zu haben, wurde Isidor Kaim wegen Untreue ange­klagt und verurteilt. Am 19. Mai 1854 erging ein Verhaftungsbefehl und be­reits wenige Tage später verurteilte das Appellationsgericht Isidor Kaim zu 6 Jahren Arbeitshausstrafe und zum Entzug der Zulassung als Advocat und Notar. Die auf Grund eines Gnadenaktes des Königs ge­währte dritte Verteidigung führte ledig­lich zu einer Reduzierung der Ar­beitshausstrafe auf 5 Jahre und 6 Monate.

Zunächst wurde Kaim im Leipziger Georgenhospital in Gewahrsam ge­nom­men, da sein Gesundheitszustand dringlichst medizinische Versor­gung erforderte. Der Aufenthalt im Georgenhaus brachte jedoch kei­neswegs irgendwel­che Erleichterungen. Vielmehr war es Kaim trotz wiederholter Be­schwerden versagt, Spaziergänge an der frischen Luft zu machen, da sich die Direktion außerstande sah, für die notwen­dige Sicherheit zu sorgen. Nachdem der Gerichtsarzt am 16. Juli 1855 festge­stellt hatte, daß seit Monaten keine Behandlung der Schwären und anderen Gesundheits­schäden mehr erforderlich sei, wurde Isidor Kaim in das Landesar­beitshaus nach Zwickau überführt. Dort verbüßte er den Rest seiner Strafe bis 1859.

Isidor Kaim kehrte kurzzeitig nach Leipzig zurück und meldete sich am 19. April 1859 nach Dresden ab. Aus der Überlieferung er­gibt sich weiter, daß er 1863 in Berlin wohnte, wo die Familie seines Bruders Salo­mon lebte. Ihm wurde antragsgemäß nach dort ein soge­nannter Auslandsheimatschein erteilt.

Das weitere Schicksal des ersten jüdischen Advocaten in Sachsen ist von diesem Zeitpunkt nicht mehr nachvollziehbar, obwohl er noch bis 1869 mit weiteren Publikationen auftrat.

 

Nachtrag: Spätere Recherchen ergaben, dass Isidor Kaim nach jahrelanger schwerer Krankheit am 01.09.1873 in Dresden-Loschwitz gestorben ist.