dr. jur. Hubert Lang

Martin Drucker - Das Ideal eines Rechtsanwalts

Der Anwalt in der Neuen Zeit – ein Thema, über das jede und jeder in dieser Versammlung sich täglich Gedanken macht, und wer etwa von der Initiative eigenen Denkens sich aus Abneigung gegen diese brotlose Kunst dispensie­ren möchte, der wird an das Thema herangeführt durch das, was andere darüber nicht nur denken, sondern reden. Auch in unserem Kreise soll heute über den Anwalt in der neuen Zeit gesprochen werden. Wenn ich nach dem Wunsche des Herrn Präsidenten der vorläufigen Anwalts- und No­tarkammer dazu bestimmt worden bin, diese Besprechung einzuleiten, so ist diese Entschliessung des Kammervor­stands durch die Erwägung bestimmt worden, dass eine pragmatische Beschreibung des Anwalts in der neuesten Zeit aus dem Vergleiche mit den früheren Jahrzehnten schöpfen muss, und das solche Parallelisierung oder auch Kontrastierung am leichtesten aus eigenem Erleben der vergangenen Jahrzehnte gewonnen wird. Die äusserlichen Voraussetzungen für die Übertragung des Referats erfülle ich. Seit ich vor nahezu 40 Jahren auf dem Ausserordent­lichen Anwaltstag 1907 zum Vorsitzenden des vom Vor­stande des Deutschen Anwaltvereins berufenen Geschäftsausschusses ernannt wurde, dem die Aufgabe ge­stellt war, eine dem Reichstag damals vorliegende Civil­prozessnovelle zu bekämpfen, habe ich das Wesen des Deutschen Anwaltsstandes in ungewöhnlicher Vielfältig­keit und Eindringlichkeit erlebt. Diese Erkenntnisse sind mir auch nicht abhanden gekommen in den schmachvol­len 12 Jahren, in denen der Nazismus den totalen Krieg führte gegen alles, was Freiheit und Menschenwürde be­deutet, und damit auch auf die Sterilisierung des Beruf­sethos des Anwaltsstandes hinarbeitete. Heute stehen wir vor der Schicksalsfrage, ob die Wiederanknüpfung an die Zeit vor 1933 möglich und wie weit sie erstrebenswert ist. Der Deutsche Rechtsanwalt ist durch die RAO vom 1. Juli 1878 geschaffen worden. Vorher zeigten die deut­schen Staaten eine erstaunliche Buntscheckigkeit. Hie und da unterschied man noch zwischen Advokatur und Pro­kuratur; in einzelnen Ländern kannte man schon längst die freie Advokatur, in anderen waren die Advokaten staatlich angestellte Beamte. Diese Gegensätzlichkeit der beherrschenden Prinzipien wurde durch grösste Dispa­rität ihrer Durchführung wesentlich verschärft. Dass die Beseitigung dieses Durcheinanders eine staatliche Notwendigkeit sei, wenn Deutschland einheitliche Ge­richtsverfassung und einheitliche Prozessgesetze erhal­ten sollte, wurde befremdlicherweise keineswegs überall anerkannt. Als Gegner der Vereinheitlichung trat unter Bismarcks Führung Preussen auf, dessen Bundesratsbe­vollmächtigter noch im November 1874 im Reichstage die kaum begreifliche These vertrat, dass die gesetzliche Ordnung der anwaltlichen Verhältnisse ausserhalb der reichsgesetzlichen Zuständigkeit liege. Der preussische Partikularismus unterlag. Schon gab es den Deutschen An­waltverein, der in Würzburg stürmisch eine Deutsche An­waltsordnung verlangt hatte. Und im Reichstage waren es führende liberale Politiker, ich nenne den Rechtsanwalt Lasker und späteren Reichsgerichtsrat Otto B ä h r , die einer Deutschen Rechtsanwaltschaft den Weg zum Ziele bahnte. So ist es gekommen, dass die Rechtsanwaltsord­nung als ein von wahrhaft liberalen Anschauungen genähr­tes Gesetz ins Leben getreten ist. Wenn an ihren Grund­lagen in späteren Jahren gerüttelt wurde, so waren die Störenfriede fast immer in jenen Kreisen zu finden, die den Geist freiheitlichen Denkens in spanische Stiefel schnüren möchten; so die nazistische RAO von 1935. Un­abhängigkeit im Denken und Handeln will die liberale Rechtsanwaltsordnung den Rechtsanwälten gewährleisten. „Der Kampf ums Recht, welchen der Anwalt tagaus tagein führen muss,“ – so sagt F r i e d l ä n d e r in seinem unübertrefflichen Kommentar – „erfordert eine Persönlichkeit, welche bei der Erfüllung ihrer Pflichten vor keiner anderen Autorität als vor dem Rechte selbst Halt macht, welche nur dem Gesetze Gehorsam schuldig ist und durch keinerlei Rücksichten gehindert wird, auch ge­gen die Staatsgewalt, gegen die Behörden zu kämpfen.“ Das ist das Gedankengut, das Montesquieu der eu­ropäischen Zivilisation vererbt hat, in Deutschland für die Notwendigkeiten des Anwaltsberufs ausgemünzt durch den liberalen Politiker und Professor Rudolf von Gneist. Ich hoffe durch die entschiedene Betonung des liberalen Charakters der RAO nicht dem Missverständnis anheim zu fallen, als wollte ich innerhalb der Anwaltschaft Propa­ganda für politischen Liberalismus oder wohl gar für den Anschluss an die liberale Partei machen. Mit solchem Verhalten würde ich illiberal handeln. Die liberale Ver­fassung des Anwaltstandes will und wird keines seiner Mitglieder politisch binden. Sie mögen auf staats- und wirtschaftspolitischem Gebiete denken und handeln, wie es ihrer Überzeugung entspricht. Nur sie müssen sich hüten, diese allgemeine politische Einstellung in die Standespolitik einzuschwärzen. Die frühere Stärke der deutschen Anwaltschaft hat darauf beruht, dass sie unpolitisch geleitet wurde. Ich habe Jahrzehnte im Vorstande des Deutschen Anwaltvereins mit­gewirkt, ausnahmslos allen Vorstandssitzungen, Abgeordnetenversammlungen, Anwaltstagen beigewohnt. Wir wuss­ten, dass die Anwesenden den verschiedensten politischen Parteien angehörten; manche Mitglieder waren Reichstags- oder Landtagsmitglieder. Aber niemals ist unter partei­politischen Gesichtspunkten debattiert und beschlossen worden. Diese bewusste Abstinenz von jeder Parteipolitik stärkte die Standespolitik und steigerte ihre Erfolge. Der Deutsche Anwaltverein hat schon bald nach seiner Re­form im Jahre 1909 vom Reichsjustizministerium die ver­bindliche Zusage erhalten, dass im Reichstage kein die Interessen der Rechtspflege oder des Anwaltstandes berührendes Gesetz beraten werden solle, ohne dass vor­her der Vorstand des Deutschen Anwaltvereins Gelegenheit zur Äusserung erhalten habe. Diese bedeutsame Zusage hätte nie gegeben werden können und gegeben werden dür­fen, wenn damit zu rechnen gewesen wäre, dass die Begut­achtung im Sinne der konservativen oder sozialdemokrati­schen, freisinnigen oder ultramontanen Partei erfolgen werde. So aber hat der organisierte Berufsstand der Rechtsanwälte einen oft nach aussen nicht bemerkbaren Einfluss auf die Rechtsgestaltung gerade deshalb ausüben können, weil keine Parteipolitik getrieben wurde. Diese historische Reminiszenz soll seine besondere Seite des heutigen Themas beleuchten: „Der Anwalt in der neuen Zeit und die Politik“. Ehe ich darauf eingehe, scheint mir der Hinweis darauf nicht überflüssig zu sein, dass ich mit allem was ich gesagt habe und noch sagen werde, nur meine persönliche Ansicht zum Ausdruck bringe, und dass ich nicht einmal weiss, ob und inwieweit die vom Kammervorstand geteilt sind. Formell betrachtet ist es ein Churchill-Toast unter prophylaktischer Inanspruch­nahme von Indemnität. Zur Sache! Immer wieder lesen und hören wir heute, dass der Beitritt zu einer der zugelas­senen Parteien eine Notwendigkeit sei. Solche Fälle, bei denen die Erlangung irgendwelcher Vorteile, beispiels­weise eine Anstellung im öffentlichen oder privaten Dienste, durch Mitgliedschaft bei einer bestimmten Partei erleichtert werden soll, lassen wir beiseite. Sie gehören zum Kapitel Korruption. Ernst ist aber die Argumentation zu nehmen, dass beim Wieder­aufbau eines demokratischen Staatswesens keiner, der gu­ten Willens ist, abseits stehen dürfe, und dass daher jeder sich einer Partei anschliessen müsse, weil nur die Parteien den Wiederaufbau bewirken werden. Von der Rich­tigkeit dieser Beweisführung habe ich mich nicht über­zeugen können. Ein demokratischer Staat kann nur aus den Beschlüssen einer Volksvertretung emporwachsen, die aus allgemeiner Wahl aller, die das Staatsbürgerrecht besit­zen, hervorgeht. Gewiss wäre es zulässig, vom aktiven Wahlrecht Gruppen bestimmter Personen, etwa die, die je­mals der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen angehört haben, zunächst auszuschliessen. Aber dass Wahlrecht nur Mitgliedern zugelassener Parteien zuzustehen, wäre eine Verleugnung des demokratischen Prinzips. Durch die Wahl soll ja gerade auch die Politik der Parteien kontrol­liert werden. Ist aber Parteizugehörigkeit nicht Voraus­setzung für die Ausübung des Wahlrechts, so fällt ein starkes Motiv für den Eintritt in eine Partei fort. Diese Gedankengänge sind viel weiter verbreitet, als die Tagespresse erkennen lässt. Wir dürfen nicht übersehen, dass die unsinnige Verzerrung des Parteibegriffs durch den Nationalsozialismus, der aus der pars das totum machte, eine starke Abneigung gegen das Parteiwesen zu Wege gebracht und zurückgelassen hat. Wir begegnen zahl­reichen Männern und Frauen, unversöhnliche Gegner des Nazismus, die sich aber den heutigen Parteien bewusst fernhalten, weil der Nazismus den Begriff und das Wesen der Partei entwürdigt hat. Wenn aber Parteilosigkeit zu keiner Min­derung der politischen Rechte führen darf, so soll Par­teimitgliedschaft erst recht nicht von dem Anwalt der neuen Zeit bei den gegebenen gefordert werden. Die Mit­gliedskarte befähigt ihn weder zu besserer Erfüllung seiner Berufsaufgaben, noch vermag sie die Standesorga­nisation zu stärken. In Staaten mit ausgeprägt parlamentarischer Re­gierungsform fällt die Führung der politischen Parteien in weitem Umfange Rechtsanwälten zu. Wo Volksvertretung gänzlich fehlt, ist es sicherlich erwünscht, wenn auch Rechtsanwälte sich der nicht immer erfreulichen Arbeit innerhalb der auch hier als Parteien bezeichneten Zusammenschlüsse unter­ziehen. Aber, und darauf kommt es an, solche politische Tätigkeit wird durch die Stellung, die dem Anwalt zur Zeit bei uns ein­geräumt ist, nicht erfordert. Erlauben Sie mir, die persönliche Bemerkung einzustreuen, dass ich selbst seit Jahrzehnten politisch organisiert und auch jetzt Mit­glied einer der vier Parteien bin. Diese Betrachtungen über das Verhältnis zwischen Beruf und Partei leiten über zum Aufbau der heutigen Anwaltschaft. Vor dem 8. Mai 1945 bestand eine straffe organische Verbindung al­ler deutschen Rechtsanwälte. Die nazistische Rechtsan­waltsordnung von 1935 hatte sogar alle Rechtsanwälte dergestalt in der Reichsrechtsanwaltskammer zusammenge­fasst, dass die im Bezirke jedes Oberlandesgerichts be­stehenden Anwaltskammern nur noch Verwaltungsstellen der Reichsrechtsanwaltskammer geblieben waren ohne eigene Mitglieder zu besitzen. Vorher war jede Anwaltskammer ein öffentlich-rechtlicher Zwangsverband aller in ihrem Gebiete zugelassenen Rechtsanwälte. Disziplinarrechtlich wurde die Einheit in gewissem Umfange gewährleistet durch den Ehrengerichtshof, im übrigen durch die ohne gesetzliche Grundlage gebildete Vereinigung der Kammer­vorstände der Anwaltskammern und durch den Deutschen An­waltverein. Mit dem totalen Zusammenbruch des Dritten Reiches sind nicht nur dessen berufsständische Einrich­tungen untergegangen, sondern alle solche, die das Vor­handensein eines deutschen Reiches voraussetzen. Es gibt keine deutsche Gerichtsverfassung mehr. Soweit forensi­sche Institutionen verschiedener Teile des ehemaligen Reiches übereinstimmen, fehlt die gemeinsame verbindli­che Rechtsbasis. Es besteht auch nicht etwa Einheitlich­keit dieser Einrichtungen innerhalb jeder der vier Be­satzungszonen, insbesondere der russischen, zu der das Bundesland Sachsen gehört. Mecklenburg und Thüringen be­sitzen nicht die gleiche Justizverfassung. Aus alledem resultiert, dass es keine deutsche Rechtsanwaltschaft, keinen deutschen Rechtsanwalt mehr gibt. Wir, die hier Versammelten, sind Rechtsanwälte innerhalb des Bundes­landes Sachsen. Sagen wir kurz: Sächsische Rechts­anwälte. Prüfen wir, wie der Einzelne sächsischer Rechtsanwalt geworden ist, so zeigt sich eine bemerkens­werte Verschiedenheit.
In dem ursprünglich von den Amerikanern besetzten westsächsischen Gebiet war durch Gesetz allen Rechts­anwälten (wie auch den Richtern) die Berufsausübung verboten worden, bis der einzelne nach Ableistung eines Eides erneut zugelassen wurde. Zugelas­sen wurde nur, wer der NSDAP nicht angehört hatte. Bei Durchführung dieser Anordnung sind freilich ein paar Betriebsunfälle passiert. Aber das positive Ergebnis war doch, dass schon ab Ende Mai 1945 in Leipzig wieder mehr als 100 Rechtsanwälte tätig waren, die sich niemals un­ter das Joch des Nazismus gebeugt hatten. Ich bitte, es nicht als Lokalpatriotismus zu beanstanden, wenn ich sage, dass diese 100 Leipziger den Kern der antifaschistischen sächsi­schen Anwaltschaft gebildet haben. Uns ist die mi­litärische Entwicklung zustatten gekommen. Östlich der Mulde musste anders verfahren werden. Man half sich mit Vertretungsverboten gegen Nazianwälte. Erst mit der Ein­setzung der Landesverwaltung Sachsen, Abteilung Justiz, konnte an die Vereinheitlichung der politischen Voraus­setzungen für den Wiedereintritt in die Anwaltschaft (und das Notariat) herangegangen werden. Ich will Sie, meine verehrten Anwesenden, nicht mit Schilderungen der überaus umfangreichen, mühseligen und mitunter sehr un­erfreulichen Arbeit aufhalten, die der Landesverwaltung, der Anwaltskammer und den örtlichen Ausschüssen aus der Behandlung der Wiederzulassungsgesuche ehemaliger PGs erwächst. Es geht dabei auch ohne Meinungsverschieden­heiten nicht ab, die das Schicksal des einzelnen Anwalts und seiner Familie von Zufälligkeiten abhängig machen können. Aber darüber wollen wir die Wichtigkeit des Ge­samterfolgs nicht vergessen: kein freier Beruf in ir­gendeinem Teile des ehemaligen deutschen Reiches ist mit solcher Gründlichkeit von allen nazistischen Elementen gesäubert worden, wie der sächsische Anwaltsstand. Rechtsanwalt in Sachsen ist und darf nur sein, wer nazi­stischen Irrlehren niemals gehuldigt oder, wenn er ihnen einmal verfallen war, sich durch Wort und Tat völlig von ihnen befreit hat. Die wahre Demokratie verfügt in Sach­sen über keine festere Stütze als die sächsische Anwalt­schaft der neuen Zeit. Das sollte sich mancher Zeitungs­schreiber und mancher andere kenntnislose oder böswil­lige Kritiker der Anwaltschaft gesagt sein lassen. Wer es wirklich nicht wissen sollte, den wird unsere Berufs­ausübung belehren, sofern er belehrbar ist. Von der Wie­derzulassung scheint nur ein kurzer Gedankengang zur Neuzulassung zu führen. Aber doch treten hier andere Probleme in den Vordergrund. Nach der Rechtsanwaltsordnung musste zuge­lassen werden, wer die Richterprüfung bestanden hatte, sofern nicht bestimmte Versagungsgründe vorlagen. Das Nazigesetz dagegen überliess die Entscheidung dem freien Ermessen des Reichsjustizministers und des Reichsführers im Nazijuristenbund. Der auf gewissenhafte Pflichterfül­lung gerichtete Eid der alten RAO wurde durch ein Treue­gelöbnis für Hitler erweitert und damit durchlöchert. Das Nazigesetz gilt nicht mehr. Ist aber damit die frühere RAO wieder schlechthin anwendbar geworden? Das kann nicht sein. Denn ihr ganzer Aufbau setzt das Beste­hen eines Deutschen Reiches, einer gemeindeutschen Ju­stizorganisation voraus. Es wäre m.E. nicht schwer, durch eine Verordnung mit Gesetzeskraft das Zulassungs­wesen zu regeln, solange das aus Gründen, die, ohne aus­gesprochen zu sein, verstanden werden müssen, nicht angängig erscheint, wird, wie auf so manchen Gebieten, diskretionäres Ermessen der Landesverwaltung angewendet. Das ergibt ein recht missliches Verfahren, soweit die politische Zuverlässigkeit des Bewerbers, d.h. seine Gegnerschaft gegen Nazismus und Militarismus geprüft und bewiesen werden soll. Das rein äusserliche Moment der Zugehörigkeit zu einer der zugelassenen Parteien darf nicht den Ausschlag geben. Andererseits würde ich es für bedenklich halten, wenn die Zeit des Fehlens einer ver­bindlichen gesetzlichen Grundlage dazu benützt werden sollte, den früheren Aufbau der Rechtsanwaltschaft zu reformieren und dabei zu deformieren. Ich denke an die sogenannte Bedürfnisfrage. Nachdem die vornazistische Anwaltschaft sich gegenüber allen Bestrebungen auf Ein­führung eines verkappten oder entblössten numerus clau­sus siegreich behauptet hatte, führte die Naziordnung die heuchlerische Kautschukbestimmung ein, dass bei ei­nem Gericht nicht mehr Rechtsanwälte zugelassen werden sollten, als einer geordneten Rechtspflege dienlich sei. Es wäre tief bedauerlich, wenn die sogenannte Bedürfnis­frage, deren Aufwerfung schon den Charakter der freien Anwaltschaft verkennt, den Zulassungsgesuchen solcher Juristen in den Weg treten würde, die im Sinne der früheren, bewährten Rechtsanwaltsordnung den Anspruch auf Eintritt in unsere Berufgemeinschaft erworben, ihn aber bisweilen nur deshalb nicht erlangt haben, weil sie sich weigerten, PGs zu werden. Solange die Rechtsan­waltsordnung nicht eine Neuredaktion erfährt, die auf die in Sachsen bestehenden tatsächlichen Verhältnisse zugeschnitten ist, fehlt uns auch eine ge­ordnete Disziplinaraufsicht und Ehrengerichtsbarkeit. Die eigene Ehrengerichtsbarkeit ist ein wesentlicher Be­standteil im Organismus der freien Anwaltschaft. Weil der Rechtsanwalt kein Beamter ist und nicht Geschäfte des Staates ausübt, darf er bei seiner Berufsausübung, soweit er nicht etwa allgemeine Strafgesetze verletzt, auch nicht disziplinarer oder ehrengerichtlicher Verfol­gung durch die Verwaltung ausgesetzt sein. Es gibt zu denken, dass es der Hitlerstaat gewesen ist, der sich von diesen althergebrachten Grundsätzen weiter und wei­ter entfernt hat, bis der ehemals freie Anwalt schliess­lich der Willkür des für seinen Niederlassungsort zuständigen Oberlandesgerichtspräsidenten ausgeliefert wurde, der ohne geregeltes Verfahren einfach mit schriftlichem Ukas vorging. Nach meiner Meinung hätte der Chef der deutschen zentralen Justizverwaltung in der sowjetischen Zone, der hochverdiente ehemalige Reichsmi­nister Dr. Schiffer, die Organisation des Rechtsanwalt­standes und damit das Disziplinarwesen zu regeln und wohl schon regeln können. Man hörte bisweilen, dass der­artige Massnahmen noch verfrüht seien, weil wir uns noch in einem revolutionären Zustande befänden, der erst vollständig abklingen müsse. Diese Auffassung halte ich nicht für zutreffend. Eine Revolution in der staats­rechtlich feststehenden Bedeutung dieses Wortes hat es 1945 nicht gegeben. Die breiten Massen, die, wenn über­haupt irgendwelche Volksgruppen, eine Revolution anzu­setzen und durchzuführen imstande gewesen wären, sind nicht dazu gelangt. Der totale Zusammenbruch des Hitler­staates ist nicht durch Revolution, nicht durch das deutsche Volk herbeigeführt worden, sondern durch eine grenzenlose militärische Niederlage. Deren Folge ist die occupatio bellica, unter der wir stehen. Es gibt keine deutsche Souveränität in irgendeinem ehemals zum deutschen Reich gehörigen Gebiete. Aber die Berufung Schiffers zum Chef der deutschen zentralen Justizverwal­tung involviert seine Befugnis, durch Verordnungen, die der Genehmigung durch die oberste sowjetische Besat­zungsbehörde bedürfen, wie das Gerichtswesen so auch das Anwaltsrecht wieder in Kraft zu setzen oder neu zu bil­den. Die vorhandenen Lücken werden jetzt fallweise durch Verfügungen der Landesverwaltung ausgefüllt. Das ist, vom Standpunkte der Anwaltschaft aus gesehen, auch kein erwünschtes Ver­fahren, wenn sie im einzelnen Falle mit der Entschlie­ssung der Landesverwaltung einverstanden sein kann. Ich möchte die Hoffnung nicht aufgeben, dass die manifeste Unzulänglichkeit des jetzigen Zustandes doch in absehba­rer Zeit zu einer positiv gesetzlichen Regelung durch die zentrale Verwaltung in Berlin führen wird. Unsicher, wie die verfassungsmässige Gestaltung des Anwaltstandes, sind auch seine wirtschaftlichen Verhältnisse. Es hat zwar noch nie soviel Anwaltsarbeit gegeben wie jetzt. Die Notwendigkeit der Rechtsanwaltschaft im demokrati­schen Staatsgebilde wird in der Sprechstunde täglich be­zeugt. Darüber, dass das Entgelt für unsere Arbeit bis auf geringe Reste durch die Finanzämter abgesaugt wird, dürfen wir uns nicht beschweren; wir erstreben keine Be­vorzugung vor anderen Ständen. Wohl aber wenden wir uns dagegen, dass uns unmöglich gemacht wird, uns gegen das eminente Risiko zu schützen, das die Ausübung unserer Berufstätigkeit in sich schliesst. Die grosse Mehrzahl von Rechtsanwälten war gegen die Folgen von Regressan­sprüchen bei Berufsversehen versichert. Jetzt, bei der Überlastung mit Arbeit einerseits und der Unsicherheit, um nicht zu sagen Verworrenheit der Rechtsverhältnisse andererseits, ist die Gefahr der Regeressansprüche au­sserordentlich gestiegen. Aber kaum einer von uns wird sich dagegen durch Versicherung decken können. Bei einem Reineinkommen von jährlich RM 9000 sind RM 5778.25 Ein­kommenssteuer abzuführen. Von den verbleibenden RM 3421.75 kann der Anwalt keine Versicherungsprämie bezah­len, die er seltsamerweise nicht vom Bruttoertrag seiner Praxis abziehen darf. Auch für Alter und Arbeitsunfähigkeit vermag der Rechtsanwalt in der neuen Zeit nicht mehr durch Versicherung vorzusorgen. Weggefallen sind auch die se­gensreichen Unterstützungseinrichtungen, die die vorna­zistische Anwaltschaft geschaffen hatte, die Hilfskasse, die Ruhegehaltskasse, der Erholungsstättenverein. Das Millionenvermögen des Deutschen Anwaltvereins ist in Formen, die etwa die Tatbestandsmerkmale des Diebstahls zeigen, weggenommen und zu dunklen Zwecken verbraucht worden. Alles das wirkt zusammen, um die finanzielle Po­sition des Rechtsanwalts noch erheblich über das Mass hinaus zu gefährden, das andere nicht nur mit der Hand arbeitende Stände bedrückt. Trotzdem hängt fast jeder Anwalt an seinem Berufe und das Verlan­gen, in ihn eintreten zu dürfen, hält bei den jüngeren Juristen an. Wir kennen Fälle, in denen neuerdings Rechtsanwälte ihnen angebotene hohe Posten in der Ver­waltung, auch der Justiz, in und ausserhalb der sowjeti­schen Besatzungszone abgelehnt haben, aus keinem anderen Grunde, als weil sie sich innerlich nicht von der An­waltschaft loszulösen vermögen. Und dabei wissen wir doch, dass an vielen Stellen die Anwaltstätigkeit gering geschätzt und der Anwalt grundsätzlich als eine uner­wünschte Erscheinung behandelt wird. Die offizielle Be­wertung unserer Arbeit zeigt sich in der Einstufung bei der Lebensmittelverteilung. Der Rechtsanwalt mit 70 oder mehr Wochenarbeitsstunden steht eine Klasse tiefer als jeder Richter und Staatsanwalt und in noch grösserem Ab­stande von jedem ermeritierten Professor, der als Schwerarbeiter gilt. Abneigung gegen die Rechtsanwälte als Berufsstand macht sich auch in manchen Amtsstuben breit, äussert sich in geflissentlicher Ignorierung an­waltlicher Schreiben oder auch in überheblichen Antwor­ten auf solche. Der erste beste Bürgermeister irgend ei­nes unbeträchtlichen Ortes betrachtet es als ein crimen laesae maiestatis, wenn einer seiner Anordnungen seitens eines Rechtsanwaltes entgegengetreten wird. Nun, wir überwinden den Verdruss über solches Gebaren im dem Be­wusstsein unserer Standeswürde und in der Erkenntnis, dass dieses Anrempeln des Anwaltsstandes wohl immer der Ausfluss undemokratischer, nämlich entweder feudaler oder ochlokratischer Gesinnung gewesen ist. Wo demokra­tische Anschauungen herrschen, wie in den westlichen Ländern, steht der Anwaltstand in dem Ansehen, das ihm gebührt. Die Nörgler in unserer Umgebung brauchten sich nur einmal ein paar Stunden im Palais des Justice in Paris aufzu­halten, sie würden eine Ahnung bekommen, wie ein demokratisches Volk seine Anwälte einschätzt. Wenn der ba­tonnier des Pariser barreaus durch die Hallen und Säle schreitet, geleitet von huissiers mit dem Rufe: place pour monsieur le batonnier, so begegnet ihm nicht weniger Respekt als dem Präsidenten der Repu­blik. Solche äussere Anerkennung unserer Standeswürde werden wir nie in Deutschland erreichen, wo erst jetzt und keineswegs überall der Versuch gemacht wird, demo­kratisches Denken in demokratische Tat umzusetzen. Wir legen auch kein grosses Gewicht auf die äussere Form, obwohl es recht angenehm wäre, wenn wir wieder Talare und Baretts hätten und trügen. Aber wir verlangen, dass unserer Tätigkeit und unserem Stande die Achtung nicht vorenthalten wird, die den hohen ethi­schen Zielen unseres Berufes und der Art, wie wir ihn ausüben, gerecht wird. Die wertvollsten und zugleich empfindlichsten immateriellen Besitztümer des Kulturmen­schen sind das subjektive Recht und die Ehre. Aber während die Ehre nur durch eigene Schuld vermindert oder verloren werden kann, ist das Recht fortwährend der Be­drohung und Beeinträchtigung durch andere ausgesetzt. Das Recht zu schützen durch Anwendung des Rechts – das ist die hohe Aufgabe des Richters wie des Rechtsanwalt. Aber der Richter wird erst im Streite angerufen, der Rechtsanwalt greift früher ein und sucht den Streit zu vermeiden, indem er durch Belehrung die Rechtslage klar­zustellen bemüht ist. So dient er nicht allein dem Kli­enten, sondern der Rechtspflege. Ich glaube, dass bei der Göttin Themis mehr Freude herrscht über einen Pro­zess, der vermieden wird, als über 100 gerechte Urteile. Das gilt nach dem 8. Mai 1945 wie es vor dem Januar 1933 gegolten hat. Aber in einer Hinsicht trat mit dem Hit­lerregime ein Umschwung in der Bewertung anwaltlicher Pflichten und Rechte ein. Es war nie zweifelhaft gewe­sen, dass der Rechtsanwalt das Recht seines Klienten auch gegen den Staat zu verteidigen habe, wenn dessen Organe das Recht verletzten. Die gleiche Aufgabe wurde auch dem deutschen Richter nicht bestritten. Das wurde anders nach dem eidlichen Treuegelöbnis gegenüber Hitler und durch die vermessene Theorie über die Einheit von Partei und Staat. Gegen staatliche Behörde oder Partei­stellen das Recht des Einzelnen zu schützen, wurde als politisches Vergehen, als Auflehnung gegen die allgewal­tige Partei, als Blasphemie an der geheiligten Person des unfehlbaren Führers aufgefasst und, wie man im mit­telalterlichen Henkerjargon sagte, angeprangert. Wir er­innern uns daran, wie schon alsbald nach der Etablierung der Hitlerdiktatur einer der angesehensten älteren sächsischen Rechtsanwälte, eine Zierde des Standes, in einer sächsischen Grossstadt einfach deshalb ebenso wie sein Klient verhaftet wurde, weil er einen Prozess gegen die Stadt gewonnen hatte. Wir wissen auch, wie der kleinkalibrige Despot Martin Mutzschmann sich gegenüber der Anwaltschaft als solcher aufführte, weil ihre Mitglieder immer wieder versuchten, gegen den Stachel seines rechtsfeindlichen Polizeisystems zu löcken. Es ist leider nicht zu leugnen, dass von diesen Maximen des Unrechts auch die Rechtssprechung angefres­sen wurde. Diese schmachvollen Zustände liegen hinter uns. Wir demokratischen Anwälte haben das Vertrauen zu den demokratischen Richtern, dass sie wiederum ihr Amt ohne Ansehen der Person ausüben werden, auch dann, wenn die juristische Person des Staates im Unrecht ist. Auf der gemeinsamen Entschlossenheit, dem Recht sein Recht werden zu lassen, beruht nicht zuletzt das gute Einver­nehmen zwischen Richtern und Anwälten, das kaum jemals mit solcher Kraft hervorgetreten ist und sich bewährt hat wie in unseren Tagen. Wir hoffen auch und halten an der Überzeugung fest, dass im neuen Staate, der im demo­kratischen Frühling emporwachsen will, die Sendung der freien Rechtsanwaltschaft nicht verkannt werden wird. Wenn der Rechtsanwalt, um wirklichem oder vermeintlichem Unrecht zu wehren, staatlichen Massnahmen in taktvoller Form, wenn auch mit äusserster Entschiedenheit entgegen­tritt, so ist es der Staat selbst, der aus dieser auf­bauenden Kritik den Vorteil zieht. Es ist ja doch poli­tische Notwendigkeit, dass gute Gesetze angewendet, nicht durch Organe des Staates verletzt oder umgangen, und dass die Mängel missglückter Gesetze aufgezeigt wer­den, um besseren zu weichen. Darum vertrauen wir darauf, dass auch für uns Anwälte in der neuen Zeit die tiefe Weisheit eines Wortes aus Rudolf von Gneists Schrift über die freie Advokatur erkannt und beachtet werden wird:
Der Staat kann kein Element weni­ger entbehren als
einen von der Beamtenstellung freien Juristenstand.