dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

Prof. Dr. Kohlrausch
Berlin-Wannsee
Lohengrinstraße 10
Berlin, 1. Juni 1929

Sehr verehrter Herr Justizrat!

Die Uebersendung Ihres Briefes an (Gustav?) Kleffel gibt mir Anlaß, meine Ansicht, Ihnen zu schreiben, beschleunigt auszuführen. Also zunächst eínmal allerherzlichsten Dank für Ihr ganz wundervolles Referat! Daß es nicht nur in der Form ein Kunstwerk, sondern auch im Inhalt von größter Bedeutung war, habe ich selber lebhaft empfunden, aber auch an der Wirkung, die es auf andere übte, erkannt. Ich kann es schon kaum mehr erwarten, bis ich es druckfertig vor mir habe und nochmal in Ruhe studieren kann. Wann darf ich darauf rechnen? Ich möchte natürlich die Verhandlungen so bald wie möglich herausbringen.
Vielleicht haben Sie die Empfindung: Herausgekommen ist eigentlich gar nichts! Viele haben mir ähnliche Freundlichkeiten gesagt und im Grunde haben Sie natürlich Recht. Es fragt sich freilich, was man mit Fug erwarten durfte. Ich hatte viel weniger erwartet! Herausgekommen ist m. E.:
1)  daß der SGEntw. grundstürzende Reformen überhaupt nicht erfordert, daß wir also die SGReform nicht mit Vorschlägen zu einschneidenden Prozeßänderungen belasten sollten; es wird ohnehin schwierig werden, sie bis zum Schluß der Wahlperiode durchzubringen;
2) daß über das, was dann geschehen soll, die Ansichten vorläufig fast hoffnungslos aus einander laufen;
3) daß die Begeisterung für eine bis zum obligatorischen Kreuzverhör gehende Stärkung der (s.v.v.) „Partei“-Rechte sich offenbar auf kleine Kreise beschränkt;
4) daß die Richter und Staatsanwälte, aber auch Andere, immer noch nicht kapiert haben, was man mit der „Befangenheit“, die aus der Akteneinsicht folge, meint; einschl. (Ludwig) Ebermayer, dessen erstmaliges Eingreifen in eine Diskussion der IKV (Internationale Kriminalistische Vereinigung) eine kleine Katastrophe war.
Nach diesen meinen Zugeständnissen werden Sie vielleicht geneigt sein, mir etwas Nachsicht zu schenken dafür, daß ich meinerseits keine Reformimpulse unterstützt, sondern eher gebremst habe. Ich mache mir freilich Vorwürfe, die Gründe dafür (siehe oben 1 und 2) nicht deutlicher gesagt zu haben. Ich weiß ganz genau, daß ich kein großer Debatter bin. Hier hinderte mich auch die Empfindung, daß der Theoretiker in Fragen von so praktischer Natur den Mund nicht allzu weit auftun soll. Dazu das Gefühl, daß nicht ich Leiter bin, sondern Ebermayer. Daß ich als Vorsitzender die Zügel straffer angefaßt und versucht hätte, eine bestimmte Linie einzuhalten, glaube ich freilich sagen zu können!
Also bitte ich Sie sehr herzlich, uns treu zu bleiben, und bleibe meinerseits mit herzlichen Dank und besten Grüßen
Ihr verehrungsvoll ergebener
Kohlrausch