dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

12. Dezember 1946

Liebe gnädige Frau!

Da liegt nun Ihr am 8. Oktober eingetroffener reizender Brief noch immer unbeantwortet in meiner Mappe, und Sie werden mit Recht über meine scheinbare Unhöflichkeit ungehalten, hoffentlich aber auch erstaunt sein, weil Sie mich, wie ich vertraue, von dieser Seite nicht kennengelernt haben. Ich will mich deshalb sofort in die Entschuldigung flüchten, die mein Schweigen erklärt. Schon gegen Ende Oktober befand ich mich gesundheitlich wenig befriedigend, und Anfang November stellte sich heraus, dass die Rippenfellentzündung des Frühjahrs aus irgendwelchen nicht erkennbaren Ursachen neu aufgelebt war. Ich wurde natürlich ins Bett gesteckt, dass auch jetzt noch während des grössten Teiles des Tages meinen ständigen Aufenthalt bildet, das ich aber doch, weil ich seit fast zwei Wochen fieberfrei bin, täglich auf einige Stunden verlassen darf. Dadurch gewinne ich nun die Möglichkeit, wenigstens im Wege des Diktats meine Privatbriefe nach und nach zu beantworten. Die Krankheit gilt als überwunden, aber ich bin noch ziemlich hinfällig und werde wohl noch ein paar Wochen mit der Rekonvaleszenz zu tun haben. Nicht war, nun darf ich hoffen, dass Sie das lange Schweigen verzeihen werden.
Es ist mir umso schwerer gefallen, Ihnen nicht gleich antworten zu können, als Ihr Brief mir eine ganz ausserordentliche Freude bereitet hat. Ihre Hinweise auf die schönen Erinnerungen, die uns gemeinschaftlich sind, haben bei mir so vieles wieder aufleben lassen, was zeitlich der Vergangenheit angehört, aber doch als unverlierbarer Besitz lebendig geblieben ist. Auch ich sehe uns noch auf dem Balkon des Printemps mit dem Blick auf Sacré Coeur sitzen und erinnere mich noch recht gut des von Ihnen erwähnten Reklameaschenbechers. Von der Reise nach Wien und Budapest haftet in mir nicht nur die Erinnerung an die Villa Bacherach mit dem druch das wahrscheinlich uralte Familienwappen dieses Geschlechts gezierten Kamin, sondern auch die unerhörte Donaureise und das offizielle Souper im Hotel Gellért, als während der offiziellen Rede des Ministers Nagy plötzlich die Schwaben (Schaben?) aus den unterirdischen Thermen zwischen den Essgeräten und gefüllten Schüsseln umherwanderten.
Eine der ältesten und lustigsten Erinnerungen verbindet uns mit dem Würzburger Anwaltstage 1911. Wissen Sie noch, dass wir uns mit irgendwelchen Bekannten verabredet hatten und, während wir in einer anderen Kneipe sassen, nicht wussten, wo das Brückenbäck zu finden sei? Da wurde ein vor der Kneipe haltender Droschkenkutscher gefragt, ob er das wisse, er bejahte mit der bayrischen Wendung „ja schon“. Darauf stiegen wir, ich glaube zwölf oder vierzehn Damen und Herren, in die Droschke ein und gaben den Auftrag uns zum Brückenbäck zu fahren. Der Kutscher nahm die Weisung stoisch entgegen, sagte zu seiner Mähre „Hüh“ und nachdem sie zwei Schritte gemacht hatte „Brrr“, worauf er hielt. Der Brückenbäck bewohnte nämlich das Nebenhaus.
Ich könnte die Aufzählung solcher schönen Erlebnisse leicht vermehren, aber dieses Pröbchen möge genügen. Dei Bedeutung liegt ja darin, dass alle diese Erlebnisse uns klar machen, welche schöne Zeit wir haben erleben dürfen, und dass wir darin ein Gegengewicht gegen die trüben Eindrücke finden müssen, die uns seit dem Einbruch der Nazischeusslichkeiten umgeben. Gerade wegen der belebenden Wirkung, die die Beschäftigung mit unseren Erinnerungen hat, die doch wahrlich nicht nur aus Belustigungen bestehen, sondern uns bescheinigen, dass wir ein anständiges und pflichtgetreues Leben geführt haben, wäre es so wundervoll, wenn man einmal sich persönlich darüber unterhalten könnte.Sie dürfen versichert sein, liebe gnädige Frau, dass ich mit Begeisterung Ihre Einladung annehmen würde. Sie und Ihren Gatten einmal in Ihrer jetzigen Heimat aufzusuchen, selbst wenn nicht die Aussicht auf einen Bocksbeutel eröffnet wäre. Aber es ist nicht daran zu denken, dass eine solche Reise von hier aus zu Ihnen erlaubt werden würde, wenigstens nicht in der Zeit, die ich noch zu leben habe, und ebenso werden Sie niemals die Genehmigung zur Einreise in unsere Zone erhalten. Es ist eine der schwersten Belastungen dieser Tage, dass wir von jedem persönlichen Verkehr mit Freunden und Verwandten, die in der anderen Zone leben, abgesperrt bleiben.
Nun aber noch etwas ganz Wichtiges. In Ihrem Brief melden Sie die Absendung eines Päckchens Schweizer Provenienz. Dieses Päckchen ist am 5. Oktober bereits eingetroffen und von meinen Töchtern mir am nächsten Tage, meinem Geburtstage, auf den Gabentisch gelegt worden. Meine Freude über ihre Liebenswürdigkeit unendlich gross und der Genuss, den der Inhalt der Schachtel bereitete, überhaupt nicht mit Worten zu beschreiben. Etwas Derartiges kennen wir ja hier gar nicht. Nehmen Sie meinen allerherzlichsten Dank entgegen.
Bitte richten Sie sowohl Ihrem Gatten wie auch Babeli und Chiffronette meine herzlichsten Grüsse aus und seien Sie immer der aufrichtigsten Ergebenheit versichert
Ihres getreuen (Drucker)