dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

Ich bin am 6. Oktober 1869 zu Leipzig als Sohn des Advokaten und Notars, späteren Oberjustizrats Dr. Martin D r u c k e r  geboren. Meine Mutter war eine Tochter des Advokaten Carl Klein. Mein Vater war Volljude, Sohn eines Kaufmanns, dessen Familie vor Jahrzehnten aus Holland eingewandert war. Meine halbjüdische Abstammung hat mir in jenen Jahren weder Nachteile noch Verdriesslichkeiten eingetragen. Der Antisemitismus war für Leipzig noch nicht erfunden. Nachdem ich 1889 auf der Thomasschule das Abiturientenexamen abgelegt hatte, studierte ich in München und Leipzig Rechts- und Staatswissenschaften. Jetzt kam ich zum ersten Male in gegnerische Berührung zu jenen Kreisen, die etwa dreissig Jahre später den Nährboden für den Rassenantisemitismus abgeben. Unter der Aegide des Berliner Hofpredigers S t ö c k e r  hatte sich auf vielen Universitäten der „Verein Deutscher Studenten“ gebildet, der die akademische Jugend für eine extrem nationalistische , militaristische und antisemitische Weltanschauung zu gewinnen strebe. Eine ihm entgegentretende Studentenorganisation gab es zunächst nicht. Nach dem Vorbilde von Berlin wurde aber auch in Leipzig eine „Freie wissenschaftliche Vereinigung“ unter meinem Vorsitz gegründet, die den Kampf gegen den Verein Deutscher Studenten aufnahm. Es kam zu schweren Auseinandersetzungen, bis es, wohl 1891, gelang, bei den Wahlen der studentischen Vertreter für die Akademische Lesehalle die Macht des Vereins Deutscher Studenten zu brechen und unsere Kandidaten durchzusetzen. Die Führung der Freien Wissenschaftlichen Vereinigung wurde mir auch von den Universitätsbehörden verargt. Als ich an einem Vortragsabende einen der Deutschfreisinnigen Partei angehörigen Redner aus Hannover hatte sprechen lassen, wurden mir vom Universitätsrichter Massregelungen angedroht. Man beanstandete auch, dass in meiner Vereinigung Sozialdemokraten Mitglieder seien, so mein Altersgenosse Karl L i e b k n e c h t, mit dem ich bis zu seiner Ermordung in freundschaftlichem Verkehr geblieben bin. Ich habe mich den Drohungen des Universitätsrichters nicht gefügt. Er hätte sie wohl auch kaum verwirklichen können, denn der Lehrkörper der Juristenfakultät war von liberalen Anschauungen beherrscht und würde eine Verkümmerung der Meinungs-und Redefreiheit damals nicht geduldet haben. Unbehindert konnte ich damals im Akademisch-Philosophischen Verein einen Vortrag über Kants Schrift über den ewigen Frieden halten und meiner pazifistischen und kosmopolitischen Anschauung unverhüllt Ausdruck geben.

Am 1. Februar 1893 trat ich als Referendar in den juristischen Vorbereitungsdienst ein. Vom 1. Oktober 1894 an war ich Einjährig-Freiwilliger beim Infanterieregiment 107. Nach Ablegung der vorgeschriebenen Uebungen wurde ich versucht, mich zur Wahl als Reserveoffizier zu stellen. Zum Erstaunen des Bezirkskommandos lehnte ich ab. Mehrmals wurde ich dorthin vorgeladen. Man hielt mir vor, dass es doch für die gesellschaftliche Schicht, der ich nach Geburt und Beruf angehörte, eine Selbstverständlichkeit sei, nach der Ehre des Offizierstandes zu streben; niemand wolle doch als Unteroffizier hinter seinen Standesgenossen zurückstehen. Ich erwiderte, dass ich als Rechtsanwalt mich in der Freiheit der Berufsausübung nicht durch die traditionellen Anschauungen des Offizierkorps behindert sehen wolle. Das wirkte. Ich wurde „auf eigenen Antrag aus der Liste der Reserveoffiziersanwärter gestrichen.“ Im Weltkriege wurde ich, nicht völlig im Einklang mit der Wehrordnung als Vizefeldwebel des Landsturms eingezogen, wohl der dienstälteste Vizefeldwebel der ganzen Wehrmacht. Ich hatte mir erneut das Missfallen der höchsten Dienststellen in Leipzig dadurch zugezogen, dass ich in einer Zuschrift an eine Leipziger Zeitung die Gesetzwidrigkeit eines an den Litfassäulen angeschlagenen Einberufungsbefehls nachgewiesen hatte. Während ich bei einem Landsturmbataillon an der Danziger Küste im Wesentlichen mit der Aufgabe beschäftigt wurde, die Flundern-und Heringsfischer zu kontrollieren, damit sie bei Ausübung ihres Gewerbes nicht etwa Spionage ausübten, an die sicherlich keiner von ihnen dachte, traf die Nachricht von meiner Ernennung zum Justizrat ein. Das wirkte im Bataillonsgeschäftszimmer viel erregender als auf mich selbst. Der Kommandeur suchte mich in meiner Wohnung auf, um mir durchaus undienstlich zu der „hohen Auszeichnung“ zu gratulieren und mich dringend aufzufordern, sofort seiner Absicht zuzustimmen, beim Generalkommando meine Beförderung zum Offizier zu beantragen. Ich bat ihn, davon abzusehen, weil ich nicht Offizier werden wolle. Da traten die Beweggründe des Kommandeurs für seinen militärisch ganz unmöglichen Besuch bei mir zutage. „Sie müssen doch einsehen, Herr Justizrat, dass es für mich peinlich ist, in meinem Bataillon einen Unteroffizier zu haben, der einen höheren Hofrang besitzt als ich.“ Das traf zu. Er war Oberstleutnant, ich hatte in der sächsischen Hofrangliste den Rang eines Obersten! Aber ich beruhigte ihn mit dem Hinweise, dass doch, solange ich als Feldwebel eingezogen sei, mein Hofrang nicht in Erscheinung treten werde.

Ein paar Monate danach nahm meine durch mich bewusst gehemmte militärische Laufbahn ein stilles Ende. Der Reichsjustizminister setzte beim Oberkommando in den Marken durch, dass ich als Schriftführer des Deutschen Anwaltvereins auf ein Jahr in die Heimat beurlaubt wurde. Vor dessen Ablauf brach das wilhelminische deutsche Reich zusammen.

Der politische Neuaufbau fand mich selbstverständlich in den Reihen des Freisinns, dem ich von jeher angehört hatte. Schon 1903 hatte ich als Vorstandsmitglied der Leipziger Liberalen Vereinigung durchgesetzt, dass dem der Nationalliberalen Partei zugehörigen Professor H a s s e, der seit 10 Jahren Leipzig im Reichstage vertrat, deshalb, weil er Vorsitzender des durchaus illiberalen Alldeutschen Verbandes war und blieb, ein echt illiberaler Gegenkandidat entgegenstellt wurde und das bei der dadurch notwendig gewordenen Stichwahl die für unseren Kandidaten abgegebenen Stimmen dem Sozialdemokraten M o t t e l e r zufielen, der also an Stelle Hasses gewählt wurde. Diese Erfahrung nötigte die Nationalliberalen, bei der nächsten Wahl den von uns präsentierten sehr weit links stehenden Dr.  J u n c k  aufzustellen, der auch gewählt wurde.

In den folgenden Jahren hat der Umfang meiner Praxis und meine Stellung im Vorstande des Deutschen Anwaltvereins, dessen Vorsitzender (Präsident) ich 1924 wurde, mich von nennenswerter politischer Tätigkeit zurückgehalten. Ich blieb Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei, erklärte aber 1926 meinen Austritt, weil die Parteileitung, wie sie in einem Briefwechsel mit mir zugeben musste, bei mehreren wichtigen Abstimmungen im Reichstage Grundsätze des Parteiprogramms aus „taktischen“ Gründen preisgegeben hatte. Seitdem betätigte ich meine liberaldemokratische Ueberzeugung nur noch bei den Wahlen.

Nachdem Hindenburg Deutschland an Hitler ausgeliefert hatte, bekam ich sehr bald die nationalsozialistische Hetze zu fühlen. Am 1. April 1933 liess eine SA-Bande mich in Chemnitz aus einer Gerichtsverhandlung, die dadurch gesprengt wurde, durch Schupo ins Gerichtsgefängnis abführen. Freilich wurde ich noch in derselben Stunde wieder auf freien Fuss gesetzt, weil die Ungesetzlichkeit des Vorgehens allzu handgreiflich war. Aber man hatte doch die Möglichkeit erlangt, durch eine Sensationsmeldung in der Presse mich, wie man meinte, blosszustellen.

Einige Monate später wurde mir das Notariat entzogen und diese Massnahme öffentlich bekanntgemacht. Sie war selbst nach der damaligen Nazipraxis ungesetzlich. Nur die Volljuden sollten aus allen Beamtenstellungen entfernt werden, die „Mischlinge“ verblieben darin, Z.B. die Richter. In Dresden wusste man genau, dass man mich zu Unrecht als Notar absetzte. Ich erfuhr, dass man ein Bittgesuch um Rücknahme der Absetzung von mir erwartet habe. Zu solcher Demütigung war ich nicht genug ehrvergessen.

Nachdem ich in der Folgezeit durch allerlei Angriffe in der Nazipresse und durch Anzeigen disziplinineller Art belästigt worden war, ohne dass es gelang, mich einer Verfehlung zu überführen, holte man – wie ich später hörte, auf ausdrückliches Verlangen und Betreiben des Reichsjustizministers F r a n k – zu einem Schlage aus, der mich endlich vernichten sollte. Im Jahre 1930 hatte ich einem Kollegen in einer von ihm vertretenen Strafsache Auskunft über eine völkerrechtliche Frage gegeben, worauf er eine Eingabe an eine fremde Regierung gerichtet hatte. Vor dem Ehrengericht der sächsischen Anwaltskammer angeklagt, war er freigesprochen worden. Mein Verhalten in dieser Angelegenheit wurde von keiner Seite beanstandet, vom Ehrengericht vielmehr ausdrücklich gebilligt. Unbekümmert darum wurde ich auf Grund desselben Tatbestandes in einem ebenso schamlos eingeleiteten wie durchgeführten Verfahren von dem aus fünf Nazianwälten zusammengesetzten Ehrengericht im Januar 1935 von der Rechtsanwaltschaft ausgeschlossen! Triumphierend verkündete die Nazipresse: „Eine Systemgrösse gestürzt!“ Diese Verurteilung war – ich kann sie nicht anders bezeichnen – ein Schurkenstreich, der als solcher selbst in der nazistischen Anwaltschaft erkannt wurde. Mündlich und schriftlich haben anständige Pgs mir ihre Sympathie ausgesprochen. Die dreiviertel Jahr später durch den Ehrengerichtshof in Berlin erfolgte Aufhebung des Dresdner Urteils verdanke ich offenbar nur den als Ehrenrichter mitwirkenden Reichsgerichtsräten. Aber ich wurde nicht etwa freigesprochen, sondern mit einem Verweis und Geldstrafe belegt. Mir ist dann hinterbracht worden, dass ich durch die Versagung der Freisprechung gegen

M u t s c h m a n n  habe geschützt werden sollen: er habe den Ehrengerichtshof wissen lassen, dass er für den Fall meines Freispruchs meine Festnahme durch die Gestapo angeordnet habe. Trotz der einwandfreien Quelle, aus der diese Mitteilung mir zuging,  vermag ich ihre Richtigkeit nicht zu beweisen. Glaubwürdig ist sie in hohem Masse, denn ich habe positive Kenntnis eines Falles, in dem Mutschmann einen vom Berliner Volksgerichtshof wegen erwiesener Unschuld freigesprochenen Intellektuellen noch im Gerichtsgebäude durch die Gestapo festnehmen liess. Von der Aufhebung des gegen mich ergangenen Ausschlussurteils auch nur kommentarlos Kenntnis zu geben, wurde der Presse verboten.

Nachdem der Versuch, mich durch den Ausschluss von der Rechtsanwaltschaft wirtschaftlich und gesellschaftlich zu vernichten, missglückt war, strebten die Nazigefolgsleute demselben Ziele auf anderen Wegen zu. Ich war Mitglied bezw. Vorsitzender des Aufsichtsrats bei einer Anzahl von Aktiengesellschaften. Ihnen allen wurden schwerste Nachteile für den Fall meines Verbleibens in ihrer Verwaltung angedroht. So wurde einem aus mehreren Gesellschaften bestehenden Konzern der Kosmetischen Branche klipp und klar erklärt, dass die Abnahe seiner Produkte allen Parfümgeschäften, allen Friseuren usw. verboten werden würde, wenn ich in der Verwaltung bliebe. Einer Speditionsaktiengesellschaft wurde die Entziehung der Bahnspedition in Aussicht gestellt. Mit ähnlichen Mitteln wurden auch Privatfirmen und Einzelpersonen gezwungen, ihr Klientelverhältnis zu mir zu lösen. Die mir durch alle diese Machenschaften zugefügten wirtschaftliche Schädigungen habe ich nur mit grössten Schwierigkeiten ertragen; ich sah das Ende meiner Wiederstandsfähigkeit herannahen. Nebenher wurde ich weiterhin durch Verfahren bei dem Ehrengericht der Anwaltskammer und Strafanzeigen behelligt. Es gelang nicht, mir etwas am Zeuge zu flicken. In der Regel waren die mir entgegengehaltenen Beschuldigungen einfach zusammengelogen. Wohl jeder der Richter und sonstigen Beamten, die mich in diesen Verfahren zu vernehmen hatten, überzeugte sich nicht nur von der Haltlosigkeit, sondern von der Böswilligkeit der Vorwürfe.

1943(?) legte der Reichsjustizminister, damals der berüchtigte T h i e r a c k, sich die Befugnis bei, Rechtsanwälte in den Ruhestand zu versetzen. Das war eine Ungeheuerlichkeit. Die Begriffe Ruhestand und freier Beruf sind unvereinbar. Kein Jurist wird daran gezweifelt haben, dass hinter jener Verordnung irgendwelche das Licht scheuende Tendenzen steckten. Ein hoher Justizbeamter sprach es gegenüber einem Richter und mir offen aus: Das ist die lex Drucker. Er behielt Recht. Bald danach wurde ich in den Ruhestand versetzt, und zwar ohne Pension. Trotzdem ist es mir durch die verständige und anständige Gesinnung meines Sozius Dr. E c k s t e i n möglich geworden, ohne gegen die Verordnung zu verstossen, noch ein Weniges zu verdienen, so dass ich mit meinen Ersparnissen den Haushalt bis zum Zusammenbruch des Naziunwesens aufrecht erhalten konnte.

Schwer traf der Faschismus mich in meinen Kindern. Meine beiden Söhne mussten den akademischen Berufen entsagen. Ihre Diffamierung als Viertelsjuden hinderte aber ihre Einziehung als Soldaten des Raubkriegsunternehmens nicht. 1942 fiel mein jüngerer, 1945 der ältere, verheiratete Sohn. Meine schon 1932 als Aerztin approbierte Tochter konnte nicht einmal als Assistentin von Privatärzten ihren Beruf ausüben, bis sie endlich 1941 an ein hinterpommersches Krankenhaus dienstverpflichtet wurde, wo sie im Februar 1945 in russische Gefangenschaft geriet. Meiner jüngeren Tochter war das Universitätsstudium jahrelang gesperrt.

Im Februar 1945 wurde das von mir bewohnte Haus durch Bombeneinschläge und Phosphorbrand völlig zerstört. Der Obdachlosigkeit wollte ein mir näher stehender Klient dadurch abhelfen, dass er mir eine in einem seiner Grundstücke frei gewordene Wohnung überliess. Darauf wurden ihm für seine Person Massnahmen der Partei und für mich Abschaffung ins Konzentrationslager angedroht. Dieser Gewaltmassnahme entzog ich mich durch schleunige Uebersiedlung nach Jena, wo ich dem Gesichtskreis meiner heimlichen Verfolger entrückt war.

Mit dem Einmarsch der Amerikaner endete alle Bedrückung durch die antisemitische Cluique. Ich bin in meinen Beruf zurückgekehrt und kann wieder den weltanschaulichen Idealen dienen, denen ich seit meinen Gymnasialjahren angehangen habe.

Aber nie werde ich vergessen, geschweige denn verwinden, was ich als Opfer des Faschismus habe ertragen müssen.