dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

Döbeln, 14.9.1945

Mein lieber Martin,

vor einige Tagen schrieb ich Dir, um nochmals in Ruhe meiner Freude Ausdruck zu geben, über die glückliche Wendung Deiner Lage nach all dem unglaublich Schweren, das Dir in den langen vergangenen Jahren aufgebürdet wurde. Dieser Brief wartet bei Stofsens auf Deinen Vetter Cohn, der kommende Woche wieder zu uns nach Döbeln kommen wollte. Daß ich bereits heute wieder zur Feder greife, hat einen für uns sehr schwerwiegenden Grund. Entgegen der uns von hiesiger Behörde vor einigen Wochen gegebenen schriftlichen Aufenthaltsbewilligung im Privatquartier bis zur Reisemöglichkeit nach Hamburg wollte man uns jetzt, am 20.8. ds., angeblich auf Grund neuester … Verfügung, die Flüchtlinge betreffend, …. in die Gegend um Stendal-Gasche legen, und zwar wie man hört, in die dortigen früheren Gefangenenlager. Nach schwierigen Verhandlungen gelang es heute Elsbeth Thieß, Friedewald, hiesiger Sachbearbeiter für das Flüchtlingswesen, Deutsches Rathaus, zur Verlegung des Abreisetermins auf den 16.9.45 zu bewegen. E. Th. gab an, es sei bereits der Versuch gemacht, das englische Einreisevisum für Hamburg zu erhalten. Herr Cohn leitet liebenswürdiger Weise einen diesbezüglichen Brief an meine Tochter nach Hamburg. Ob am 16.9.45 ein neuerlicher Reiseaufschub zu erreichen ist, erscheint sehr fraglich. Auf ärztliche Atteste, diese liegen vor, nimmt man hier keine Rücksicht mehr.
Einer langen beschwerlichen Fahrt sind weder Anna Reimers (hohes Alter, gehbehindert entzündete Plattfüße) noch Elsbeth Thieß (schwerer Herzfehler) noch ich selber (hohes Alter, durch Hüftleiden geh- und –stehbehindert,) gewachsen. Aus den genannten Gründen sind wir unter keinen Umständen lagerfähig!
Du wirst wissen, wie es den Unglücklichen geht, die auf den Landstraßen liegen oder von Lager zu Lager geschoben werden bei oft tagelangem Nahrungsmangel. Und die… selber sind ein Kapitel für sich!!!
Ich wollte nun heute in meiner großen Sorge bei Dir anfragen, ob Du uns .. oder Dich für uns verwenden kannst und willst, zwecks Erlangung der hiesigen Aufenthaltsgenehmigung im bisher gehabten Privatquartier, bis zur einigermaßen unbeschwerlichen Fahrt und Einreisemöglichkeit nach Hamburg. Da wir die Rechtstitel nicht kennen, können die Behörden hier ja mit uns machen, was sie wollen. Zu Deiner Orientierung noch folgende Angaben:
1.) Name des hiesigen Bürgermeisters: Birnbaum
2.) Name des Sachbearbeiters für das Flüchtlingswesen: Friedewald

3.) Unsere Personalien:
a)  Elsbeth Wohlfahrt geb. 22.5.1866 in Leipzig, heimatberechtigt in Hamburg, in Döbeln aufhältlich seit 29.7.43?
b)  Anna Reimers geb. 14.9.1868/Leipzig, heimatberechtigt Hamburg, in Döbeln aufhältlich seit 29.7.43
c)  Elsbeth Thieß geb. 31.7.91/Hamburg, heimatberechtigt Hamburg, in Döbeln aufhältlich seit 29.7.43

Wie 3 kamen 1943 auf ausdrücklichem Wunsch der Verwandten hierher.
Wir wären Dir von Herzen dankbar für Deine Hilfe und hoffen, Dir nicht allzu viele Mühe und Arbeit zu machen bei Deiner ohnehin schon großen Beanspruchung.
1000 Grüße von uns allen Deine Dir und den lieben Deinen

Elsbeth Wohlfart