dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

G. H. Landsberg
Hollies School
Little Sutton Rd.
Sutton Coldfield B’ham
29.7.46

Mein liebster Freund,
jahrelang habe ich die Leute verachtet, die wegen Zensor oder Kummer oder Ungewissheit unüberwindliche Schreibhemmungen hatten – und nun habe ichs nicht besser gemacht u. beantworte Deinen Junibrief erst nach einem Monat. Was mich bei seiner Lektüre alles bestürmte, lässt sich schwer aufzählen, geschweige denn beschreiben. Genug – ich hoffe nur, dass die Ärzte Dich inzwischen auf den Damm gebracht haben (Du wirst 77, nicht? Allerhand, wie Du Dein Herz und Deine Lunge überlistet hast!), dass es Deinen Kindern u. den Enkelbübchen gelingt, Dein Leben etwas froh zu machen, und dass wir eines Tages mündlich über all dies reden können. Ich möchte nicht zurückkehren, aber einmal zu Besuch kommen und meine Freunde sehen: danach habe ich oft eine schmerzhafte Sehnsucht. Wenn Dieter eines Tages dieses Land verlassen muss (was wir nicht wünschen, aber annehmen), wird der Wunsch ja noch dringender werden. Vorläufig ist er nur durch 2 Std. Busfahrt von mir getrennt, ich fahre jeden Sonnabd. zu ihm, u. wie wir das geniessen, kannst Du Dir nicht vorstellen – oder vielleicht doch. Er lässt Dich sehr grüssen. Seine Entwicklung beglückt mich in jeder Hinsicht: menschlich, geistig, ärztlich, politisch, praktisch. Körperlich ist er sehr dünn, aber zäh u. satt u. zufrieden. Das neue Hospital ist gross u. wird ihm allerlei Erfahrungen geben. Er hat gute Arbeitsbedingungen, dazu Sport u. Spiele etc. Nach dem nächsten Semester braucht er eigentlich nur noch zwei bis zum Staatsexamen, u. da er diese 2 an einer deutschen Uni. ablegen muss. setzt hier das Problem sein. Wir wissen nicht mal, ob die Zeit in England v. Leipzig oder Jena anerkannt werden würde, und in einer anderen Zone kann er sich nicht vorstellen, wie er leben soll. Diese sogenannte Medical Academy für PoWs (aber er ist „Civilian“) ist eine Einrichtung des Roten Kreuzes. Falls Du irgndwas feststellen kannst, so wären wir Dir natürlich ungeheuer dankbar. – Grüße Ina u. Renate. Ich bin froh, dass sie in Deiner Nähe sind u. Stellungen haben. Von Dieters Freundin Dr. Anneliese Dangel, die jetzt an der Buchhändlerlehranstalt unterrichet, u. ein sehr feines Mädchen zu sein scheint, und auch von Lis Knauth höre ich ziemlich regelmäßig. Bis vor ein paar Wochen auch von Konrad, der in Holland nach langem Untergrundleben eine anscheinend gute u. ihm sehr angenehme Redaktionstätigkeit gefunden hat. Das letzte war eine phantastische Hoffnung, nach London geschickt zu werden! Dann wollte er mich gern u. ernstlich als Wirtschafterin engagieren, der alte Kindskopf!
Meinen Australienplan werde ich, fürchte ich, aufgeben müssen. Die unübersteiglichen Schwierigkeiten scheinen noch auf Jahre hinaus bestehen zu bleiben. Also lasse ich nun ohne Bedenken meine Wurzeln noch tiefer in den Boden dieses Landes wachsen, und dazu hat sich vor einer Woche eine herrliche Gelegenheit von außen gesellt: mein Head besitzt mehrere kleine primitive Cottages dicht bei der Schule, davon wird eins unerwartetermaßen jetzt frei, sie behalten es für gelegentliche boarders, u. ich darf die Benutzung haben! Wohnz., Schlafz., Küche, Speisekammer. Keine Elektriz., kein Bad, Wasser u. To. außen – aber Gas u. ein Gärtchen u. mein Eigenes u. selbstständig, und allein von der Preisdifferenz in der Miete kann ich in kurzem die notwendigen Anschaffungen decken. Möbel werden zunächst geliehen oder aus Kisten hergestellt. Ich bin selig!  Der Traum jedes Junggesellen. Kurz für begin of Term im September hoffe ich einzuziehen – erst müssen die Handwerker rein -, und das passt sehr gut, weil ich ohnehin noch einen Monat nach Wales gehe, als domestic helper in ein Centre einer sogenannten Holiday Fellowship. Netter Geist da u. ein bischen Extrageld!
Die Ferien haben gerade angefangen. Ich packe und besorge, und mache Listen und nähe. Und erbe. Ich habe sehr gute Freunde.
Zu Deiner persönlichen Belustigung (obwohl bei meinen vielen Runzeln unverständlich) hier ein wahres Geschichtchen: Nach meinem vorletzten Besuch nahmen D. u. ich auf der Straße an der Haltestelle zärtlichen Abschied. Am nächsten Tag Beschwerde einer Dame, die in meinem Bus saß, beim Kommandanten, dass Kriegsgefangene english girls küssen!!! Die einzige Erklärung sind meine noch gar nicht grauen Haare. Aber Diet. strahlte.
Meine Schwatzzeit ist um. Ich muss mir Salat v. meinem Beet holen (die bisherige Bleibe ist wunderschön u. mein Altchen und ich bedauern dei Trennung sehr), Maccaroni kochen u. dann los nach Birmingham, Zahnarzt und Küchengeschäft.
Leb also wohl für heute, guter alter Primafreund, und gib mir bald beruhigende Nachricht.
Innigst Dein altes Gertraudchen.