dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

5. Oktober 36

Liebster Freund,

das Schicksal will, dass ich Dir rollend meine Grüße schicke; ich befinde mich im Zuge nach Naumburg. Das erzeugt wacklige Krakelschrift, hat aber sonst keine Nachteile. Du erinnerst Dich, daß ich grade in der Eisenbahn Lust & Ruhe zu Briefen habe. Man ist da so schön für sich und dem Gewohntem entrückt. Obendrein habe ich einen angenehmen Eckplatz im ledergepolstersten Schweizer Wagen erwischt. Bei den Eltern bleibe ich bis Sonntag. Montag fängt die Schule wieder an, und zwar im neuen Haus, einem richtigen Schulhaus (gemietet), wo man nicht so entsetzlich viel Rücksicht auf die anderen Mieter nehmen muss. Mein Weg ist nun weiter, aber immer noch in 10 Minuten zu Rad oder 10 Pf.-Strecke mit der Elektrischen.
Diese Erzählung war nicht fahrplanmäßig. Du musst erst mal Deine Glückwünsche haben. Ach, wenn Du doch angesichts dieses Wortes nicht resigniert oder bitter zu lächeln brauchtest. Ich würde viel darum geben. Bitte antworte mir recht ausführlich auf diesen und den letzten Brief. Wie fühlst Du Dich? Wie ist Mummi (Margarethe Drucker) aus dem Sanatorium zurückgekommen? Wann sehen wir uns? Wie steht es mit Deiner Schwester (Johanna Sickert, die am 15.10.1936 erstarb)? Ist Grobo (Großbothen) zum Winterschlaf bereitet? Wir haben mit Septemberende draußen Schluss gemacht. Es war ein so rauher, winterlicher Sonntag, dass uns Schwimm- und Sonnenbad von vor 8 Tagen unvorstellbar schien. Je älter man wird, so schwerer nimmt man Abschied vom Sommer. Früher fand ich das Einwintern herrlich.
Um mich herum ist viel Krankheit: bei Vaters Bruder („Onkel Mor“), beim alten Freund Lehmann, Holfa (der Vater, Adolf Landsberg) selbst plagt sich seit 5 Wochen mit einer gichtischen Ischias & ich werde mich anstrengen müssen, um beide Eltern etwas aufzurappeln. Hausverkauf scheint zunächst garnicht akut. Der Agent schrieb, dass sich wohl vor dem Frühjahr kaum etwas Günstiges finden würde. In mancher Hinsicht – namentlich gefühlsmäßig – ist das eine Erleichterung. Dass Kathner (der langjährige Hausmeister der Eltern) zwar Gottlob im Haus bleibt, aber eine zunächst aushilfsweise Stelle bei der Militärverwaltung bekommen hat, schrieb ich wohl. Es bekümmert mich so, dass die Eltern diese ganze Entwurzelung zum 2. Male durchmachen müssen. Konrad hat auch Sorgen. Einzelheiten weiß ich nicht. Sie müssen schwer um Geldbeschaffung kämpfen. Wie sich die allgemeine Abwertung da auswirkt, vermag mein nationalökonomisch idiotisches Gehin nicht zu ergründen. Ich würde gern mal einen Vortrag v. Dir darüber hören, aber nur mündlich!
Ich bin die einzige aus der Familie, die wirklich – touch wood – mit allen erstrebenswerten Gütern gesegnet ist: Gesundheit, Arbeit, Heim, Frieden, und ich kann Dir sagen, ich danke meinem Schicksal täglich dafür.
Der Kalender kommt dies Jahr wieder beizeiten, hoff ich, aber jetzt ist es noch zu früh dafür. Hingegen leg ich Dir ein Photo ein: es musste mal sein auf vielfachen Wunsch und Du bist hoffentlich nicht zu sehr entsetzt. Die Meinungen gehen auseinander.
Lebwohl Lieber Freund, ich wünsche auf Dich herab, was ein Freund nur wünschen kann.
D. G.