dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

Kitzingen am Main, 26.11.1945
Amtsgericht

Hochverehrter, lieber Kollege Drucker!

Herr (Paul) Goldstein hat mir neuliche Ihre Grüsse übermittelt, die ich auf dem gleichen Wege erwidert habe. Ich möchte ihnen aber auch nun unmittelbar meine Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass Sie wohlbehalten sind und Ihre Tätigkeit in alter Frische wieder aufgenommen haben. Hoffentlich finden Sie in dieser Genugtuung für das vielfache Ihnen angetane schreiende Unrecht.
Herr Goldstein schrieb mir auch von Ihren Bemühungen in Sachen DAV und JW. Ich fürchte ja, dass es damit nicht allzu schnell vorangehen wird. Wegen der JW war Goldstein zunächst sehr zuversichtlich; seine späteren Nachrichten hierüber waren  erheblich gedämpfter und resignierter.
Für einen Zusammenschluss der Anwaltschaft besteht hier in Bayern zunächst kaum Interesse, weil jeder mit sich selbst zu tun hat. Hier hat man plötzlich die Mehrzahl der zunächst zugelassenen Anwälte wieder hinaus getan, weil sie angeblich wegen früherer Parteizugehörigkeit untragbar sind. Das wusste man natürlich längst, aber die Stimmung hat sich verschärft und das Damoklesschwert des Hinauswurfs hängt über fast allen, so daß es schon begreiflich ist, wenn sich vorläufig kein Interesse für Standesfragen zeigt. Wie man unter diesen Umständen fertig werden will, ist mir rätselhaft. Würzburg hat statt etwa vierzig Anwälten jetzt nur sechs, darunter meinen Schwiegersohn Michael Meisner, der ausserdem noch Landrat des Kreises Würzburg ist und unter der Arbeit fast zusammen bricht.
Dass ich mich um die Organisation der Anwaltschaft nicht gut kümmern kann, ergiebt sich daraus, dass ich nicht mehr Rechtsanwalt, sondern Richter bin. Ich habe mich wegen des durch die Ausschaltung der Parteimitglieder verursachten katastrophalen Richtermangels zu Verfügung gestellt und bin zum Oberamtsrichter und Vorstand des Amtsgerichts Kitzingen ernannt worden. Ich habe hier eine interessante, aber nicht leichte Aufgabe, da sich das Gericht in einem desolaten Zustande befindet. Das Gerichtsgebäude ist von der Militärverwaltung in Anspruch genommen; Akten, Bücher und Register sind verschleppt und teilweise als Feuerungsmaterial benutzt worden, selbst Grundakten! Da ist der Wiederaufbau keine Kleinigkeit. Meine Arbeit wurde zudem durch einen mehrwöchigen Krankenhaus-Aufenthalt unterbrochen, da ich mir in den ungeheizten Räumen und den feuchten Niederungsklima eine schwere Bronchitis zugezogen hatte. Ich bin aber jetzt wieder hergestellt. – Unter den beim Amtsgericht Kitzingen zugelassenen Rechtanwälten befindet sich übrigens auch ein junger Leipziger, Herr Kollege (Winfried) Weniger.
Bei uns ist, Gott sei Dank, Alles gesund. aber auch meine Töchter haben bei dem Luftangriff auf Würzburg am 16.9.1945 so gut wie Alles verloren. Mein zweiter Schwiegersohn (Hans-Otto Meissner), der Konsul in Mailand war, ist als Diplomat immer noch am Lago Maggiore. Wir erwarten aber ihn und seine Frau demnächst zurück. Unsere Jüngste hat vor acht Tagen ihr zweites Kind bekommen, einen strammen Jungen. Mutter und Kind sind wohlauf.
Ich würde an sich gerne nach Leipzig zurückkehren, wo wir zweiundzwanzig so schöne Jahre verlebt haben. Mich schreckt aber einigermassen die Vorstellung, auch dort nur Trümmerhaufen vorzufinden. Unser Haus in der Gletschersteinstraße (61) soll allerdings ziemlich unversehrt sein, aber es würde wohl schwer halten, den Mieter herauszubringen. Ausserdem weiss ich nicht recht, was ich dort tun sollte.
Ich würde mich ausserordentlich freuen, von Ihnen zu hören, wie es Ihnen und Ihren in den letzten schweren Zeiten ergangen ist. Hoffentlich ist auch bei Ihnen Alles wohlbehalten.
Mit herzlichen Grüssen, auch von meiner Frau, in alter dankbarer Ergebenheit
Ihr Dittenberger