dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

München, 3.10.1945

Lieber Onkel!

Dein Brief vom 29. Juli erreichte mich am 28. September und zwar mit einem Poststempel „München-26, 25.9.45 – Gebühren bezahlt“. Herzlichen Dank für Dein endlich erfolgreiches Unternehmen, die Gedankenverbindung mit mir wiederherzustellen.
Seit einigen Wochen begann ich auch schon auf eine Gelegenheit Dir eine Nachricht zu geben, bisher vergebens; ich schreibe nur heute aufs Geradewohl diesen Brief, in der Hoffnung eines Tages auf der Straße einem Motor-Pool-Car-Leipzig zu begegnen, der ihn mitnimmt.
Über alle schrecklichen Ereignisse in der Familie hatte mich schon eine Karte Teddy‘ (Eduard von Bose) von Mitte Februar unterrichtet, die ich Anfang April noch in unserer letzten Stellung hinter der Ostfront erhielt.
Ich schrieb damals gleich an Dich wegen Deines Sohnes Heinrich – noch zweifelnd und hoffend, daß er nur in Gefangenschaft gekommen sei. Auch Deine jetzige Mitteilung – man habe Anfang Februar ihn auf der Straße Lüben-Berlin tot aufgefunden – will mir nicht faßbar erscheinen: Anfang Februar sind doch in dieser Gegend noch keine Russen gewesen, sondern nur marodierende deutsche SS!
Lieber Onkel, es ist ja furchtbar, wenn Du Deine beiden Söhne in diesem sinnlosen Kriege verloren haben solltest – beide so kurz vor der Erlösung vom Druck dieser wahnsinnigen Zeit und vor der Eröffnung aller Möglichkeiten zur Entfaltung ihrer vielen Gaben des Geistes und des Charakters. Denn trotz der Verarmung und trotz aller gegenwärtigen Schwierigkeiten: eine bessere Zeit kommt doch jetzt langsam herauf – Deutschland wird diesmal endlich vom Rüstungswahn befreit; Tüchtige Menschen werden sich da schon wieder durchsetzen können.
Mein herzliches Beileid, Dir, lieber Onkel und Dir, liebe Ursel – aber ich kann es noch nicht glauben!
Man wird da selbst ganz kleinlaut, daß man selbst aus diesem Kriege zurückgekehrt ist, und hört immer wieder die Worte: “ denn Patroklos liegt begraben und Herakles kehrt zurück.“ Wir haben in den 3 Monaten unseres Einsatzes als Volkssturmbataillon manche schlimme Situation durchgemacht, wo wir nicht mehr dachten herauszukommen; aber auch bei uns befinden sich unter den ca. 120 Gefallenen (von insgesamt 420 Ausgerückten)  – doch die Besten, die … (?)
Daß Du wieder in voller Beschäftigung und in allen alten Funktionen rehabilitiert stehst, ist ein Trost für Dich. Ich sehe Dich wieder in alten vollen … (?) und gratuliere Dir herzlich dazu. Aber warum durften Deine Frau und meine Mutter das nicht mehr erleben, daß wir jetzt als die Gerechtfertigten dastehen – warum mußten sie immer wieder in der Empfindung, zu den vom Schicksal Aufgestoßenen zu gehören, sich abmartern und aufreiben? Warum konnten wir ihnen nicht die geheime Gewißheit vermitteln, die wir selbst im Innern hatten: das Recht und die Moral sind auf unserer Seite?
Unser Verlag Beck hat die Produktionsgenehmigung bis heute nicht erhalten. Deshalb habe ich Anfang Juli unbezahlten Urlaub genommen, lebe von angesammelten Gehaltstüten und … (?) dazu durch 3 Tage pro Woche Arbeit als Bauhilfsarbeiter beim Schuttaufräumen in der Stadt kleine Lohntüten, die mir jedenfalls bis Anfang nächsten Jahres ein sorgenfreies Dasein gestatten. An den 3 von Bau-Arbeit freien Tagen und am Sonntag arbeite ich für mich juristisch und zwar in … (?): den Haussmann (Recht der Unternehmenszusammenfassungen) habe ich durchgearbeitet in der Bücherei des Reichsfinanzhofs finde ich weitere Literatur.
Wegen einer neuen Stellung in der Schweiz habe ich meine Fühler zu alten Bekannten ausgetreckt.
Meine Einladung an Dich zu einem Besuch in München bleibt aufrecht erhalten. Du kannst jederzeit kommen; nur ein geheiztes Zimmer kann ich nicht bieten, so etwas wird es hier in diesem Winter nicht geben.

Herzliche Grüße
Dein Neffe Heinrich Scheuffler

29.10.: Endlich ist die Postverbindung mit Leipzig hergestellt. Hoffentlich erreicht Dich dieser Brief recht bald und bei guter Gesundheit. Heinrich Scheuffler