dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

9. März 1946

Herrn Rechtsanwalt Dr. Carl Horn
(1) Berlin – Charlottenburg 9
Kastanienallee 34

Lieber Herr Kollege Horn!

Zunächst darf ich dem Wunsche Ausdruck geben, dass mein Brief Sie nicht in den Westender Kuranstalten, sondern in Ihrem Heim antrifft und dass Sie von der in Ihrem Brief vom 22. Januar des Jahres erwähnten Erkrankung völlig wiederhergestellt worden sind. Die körperliche Ueberanstrengung beim Holzzerkleinern ist wohl die Ursache für eine akute Schwächung Ihrer Herztätigkeit gewesen, aber auch gerade deshalb durch sorgsame Pflege wieder auszugleichen. Mir wäre es nicht einmal möglich, auf diesem Wege mein Herz zu überanstrengen, denn meine Wohnung ist ohne jeden Ofen. Die Zentralheizung funktioniert seit zwei Wochen wegen Mangels an Koks nicht, so dass wir eigentlich nur in der Küche die unbehagliche Aussentemperatur bekämpfen können. Insofern ist also der Ausgleich in den Städten der russischen Besatzungszone anscheinend vollständig geworden.
Nun aber zum Hauptgegenstand Ihres freundlichen Briefes.
Die Wiederaufrichtung des Deutschen Anwaltvereins ist zwar ein Ziel, dem zugestrebt werden muss, dass aber in absehbarer Zeit sich nicht erreichen lässt. Wie ich in einem an Bartmann über das gleiche Thema gerichteten Brief bereits hervorgehoben habe, besteht das erste und grösste Hindernis darin, dass nach der wenigstens hier in Sachsen bei den russischen Autoritäten zum Druchbruch gelangten Auffassung mit dem 8. Mai 1945 der Begriff Deutsches Reich erloschen ist. Es kann seitdem keinerlei Organisationen mehr geben, die über den Rahmen eines besetzten Teilgebiets oder gar über die Grenzen einer der Besatzungszonen hinaus wirken. Ich habe beispielsweise seit meiner Rückkehr die Errichtung mehrerer Wirtschaftsgenossenschaften zu bearbeiten gehabt. In diesen Fällen ist die Genehmigung seitens der russischen Verwaltungsbehörde stets davon abhängig gemacht worden, dass als Mitglieder nur solche Personen aufgenommen werden dürfen, die innerhalb des jetzt bekanntlich als Bundesland bezeichneten ehemaligen Freistaates Sachsen ihren Wohnsitz haben. Nicht einmal Mitglieder aus dem benachbarten Bezirk von Halle, die in den Vorgängern dieser Wirtschaftsgenossenschaften früher mit den sächsischen Mitgliedern vereinigt waren, dürfen aufgenommen werden. Diese Absperrtendenzen machen sich naturgemäss gegenüber Ideenvereinen noch schärfer geltend als bei wirtschaftlichen Organisationen.
Ein weiteres Hindernis für die Auferstehung eines die Grenzen des Bezirks überschreitenden Anwaltvereins ist die Ungleichmässigkeit der Voraussetzungen für die weitere Ausübung der Anwaltspraxis. Hier in Sachsen wird die Säuberung der Anwaltschaft von ehemaligen Mitgliedern des NSDAP und ihrer Gliederungen mit allergrösster Schärfe durchgeführt. Wiederzulassung erfolgt nur, wenn der Beweis einer erheblichen antifaschistischen oder antimilitarisatischen aktiven Tätigkeit erbracht ist, die nach den Auslegungsgrundsätzen der Landesverwaltung bis zum Einsatz des Lebens gegangen sein soll.
Wie in dieser Hinsicht die Verhältnisse in der Provinz Sachsen und in Berlin liegen, ist für uns bisher nicht deutlich erkennbar geworden. In Thüringen gilt anscheinend eine viel mildere Praxis. Solange in dieser Hinsicht Verschiedenheiten bestehen,ist an die Genehmigung zur Wiederbegründung eines Anwaltvereins seitens der SMA nicht zu denken. Auf die grossen Unterschiede, die hinsichtlich der Behandlung der früheren Parteigenossen zwischen der russischen und den westlichen Besatzungszonen bestehen, will ich gar nicht eingehen.
Von Wichtigkeit ist auch die von verschiedenen mir bezeugte Tatsache, dass innerhalb der Kollegenschaft des ehemaligen Reichs die Neigung zum Wiederaufbau eines allgemeinen Anwaltvereins keineswegs überall vorhanden ist. Das mag zum Teil mit der Disparität der Gerichtseinrichtungen zusammen hängen, erklärt sich im wesentlichen aber wohl auch aus der Auffassung, dass ein solcher allgemeiner Anwaltverein deshalb nichts Rechtes zustand bringen könne, weil ihm keine für das ganze ehemalige Deutschland eingesetzte Justizverwaltung gegenüber stehe.
Auf der anderen Seite ist nicht unbeachtlich, dass nach Zeitungsnachrichten einige westliche Anwaltskammern in der englischen Zone sich irgendwie zusammengeschlossen haben sollen. Ich bin bemüht, die Dinge aufzuklären.
Trotz der geringen Aussichten auf die Wiedererweckung der Organisation, in der wir beide und mit uns die Führer der Anwaltschaft in ganz Deutschland eine Notwendigkeit für unseren Stand erkannt haben, möchte ich nicht ganz untätig bleiben. Es ist möglich, dass wir in einem Meinungsausstausch über alle wichtigen Vorkommnisse innerhalb der Anwaltschaft bleiben und dass wir dadruch zu einer möglichsten Annäherung der Verhältnisse zunächst in der russischen Besatzungszone gelangen.
Wenn auf diesem Wege eine weitgehende oder vollständige Übereinstimmung erzielt wird, so lassen sich dann vielleicht die Widerstände beseitigen, die einem formellen Zusammenschluss jetzt noch im Wege stehen. Dann wächst vielleicht der die Bezirksgrenzen überschreitende Anwaltverein doch noch heraus.
Freilich gehört dazu auch eine sehr weite Verbesserung der Verkehrsverhältnisse. Das sehen wir hier in Sachsen hinsichtlich der sächsischen Anwalts- und Notarkammer, die in Dresden ihren Sitz hat. Es ist ein Zufall, ob wir auswärtigen Mitglieder zu den aller vierzehn Tage stattfindenden Sitzungen  nach Dresden gelangen können. Gewöhnlich entscheidet sich erst in der allerletzten Stunde, ob Benzin für eine Autofahrt zu erhalten ist. Eisenbahn kommt nicht in Betracht, da sie zu mindestens einmaligen Übernachten nötigt. Man hängt also auch an solchen an sich untergeordneten Dingen.
Im grossen und ganzen sind wir ja darüber einig, dass wir dem Gedanken einer Wiederrichtung des Anwaltvereins weiterhin zu dienen versuchen werden. Es wäre mir sehr erwünscht, wenn es Ihnen möglich wäre, darüber einmal mit Dr. Schiffer Rücksprache zu nehmen, der bei anderer Gelegenheit sich günstig über den Plan ausgelassen haben soll. Dabei scheint ihm aber doch die Schwierigkeit, die sich aus der Verschiedenheit der Besatzungszonen ergibt, nicht recht vor Augen gestanden zu haben.
Wenn Sie, verehrter Herr Kollege, am Schluss Ihres Briefes auf das frühere Ehrengerichtsverfahren, in das die Nazis mich verstrickt hatten, eingehen und Gewissensbisse darüber empfinden, dass Sie seinerzeit meine Verteidigung nicht übernommen haben, so bitte ich Sie, in dieser Hinsicht ganz beruhigt zu sein. Ich habe sehr wohl verstanden, dass Sie nach Ihrem Ausscheiden aus dem Ehrengerichtshof nicht sofort vor ihm als Verteidiger auftreten wollten. Hätten Sie meine Verteidigung übernommen, so würden Sie sich wahrscheinlich hinther Vorwürfe wegen des Ausgangs des ganzen Verfahrens gemacht haben, der ja in der Tat ungeheuerlich war. Kollege Darboven/Hamburg, der sich mit all seinem Wissen und seiner glänzenden Beredsamkeit für mich einsetzte, zeigte sich geradezu von Abscheu erfüllt über die Anklage selbst wie über das Verfahren. Ich werde diese Dinge zwar nie vergessen, aber ich habe sie überwunden. Es war eine späte Genugtuung für mich, dass ich nach dem Zusammenbruch des Naziregimes bei einer von den Amerikanern veranstalteten geheimen Wahl für einen Ausschuss der Rechtsanwälte und Notare zu denjenigen Kollegen gehörte, die die höchste Stimmenzahl erhielten, dass ich darauf einstimmig zum Präsidenten gewählt und kurze Zeit darauf auch zum Vizepräsidenten der Anwalts- und Notarkammer, die in Dresden ihren Sitz hat, ernannt wurde. Die mir dadurch aufgebürdete Arbeitslast ist zwar sehr gross und lässt sich bei dem Umfange, den meine Praxis sofort wieder angenommen hat, schwer bewältigen. Aber ich habe mich doch wenigstens davon überzeugen können, dass die einwandfreie Kollegenschaft nicht nur an mir festhält, sondern mit alltäglich ihre Sympathie in sehr erfreulicher Weise bezeugt. Auch deshalb möchte ich meine letzten Jahre dazu verwenden, der Anwaltschaft wieder nach besten Kräften nützlich zu sein.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr sehr ergebener (Drucker)