dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

23. Juni 1946.

Lieber Eberhard!

Dieser Tage kam ein Brief von Heinz Roloff , der auf eine Mitteilung von Ihnen des Inhalts Bezug nahm, dass Sie verschiedentlich versucht hätten, mit uns in Verbindung zu treten. Deshalb beeile ich mich, Sie darüber zu unterrichten, dass Ursel Ihnen vor einigen Monaten – genau kann ich den Zeitpunkt nicht feststellen – ganz ausführlich geschrieben hat. Auch dieser Brief hat Sie anscheinend nicht erreicht. Danach traf Ihr vom 27. März datierter Brief ein. Er wäre schon längst beantwortet worden, wenn sich nicht die verschiedensten Hindernisse in den Weg gestellt hätten. Zunächst war es mir infolge einer im April mir entgegenstehenden Ueberhäufung mit Arbeit wirklich nicht möglich, mich mit Privatbriefen zu beschäftigen. Anfang Mai aber wurde durch eine Röntgenuntersuchung bei mir eine schon seit mehreren Wochen bestehende Lungen- und Rippenfellentzündung festgestellt und ich ins Bett gesteckt. Noch heute habe ich, obwohl die Krankheit inzwischen behoben ist, das Haus nicht verlassen können, sondern darf nur täglich für ein paar Stunden das Bett verlassen, die ich zum Diktieren von Briefen benutzen kann. Ich bitte Sie deshalb, die bisherige Nichtbeantwortung Ihres Briefes zu verzeihen.
Wie weit Sie über unsere Schicksale seit Februar oder März 1945 unterrichtet sind, weiss ich infolge der Störung des Briefwechsels nicht. Ich will Ihnen daher wenigstens einige wesentliche Tatsachen auch für den Fall, dass Sie sie schon wissen sollten, mitteilen.
Nachdem durch den fürchterlichen Bombenangriff am 27. Februar vorigen Jahres auch das Haus in der Schwägrichenstrasse vollständig zerstört und niedergebrannt war und wir obdachlos geworden waren, siedelten Ursel mit den Kindern, Renate und ich, nachdem wir kurze Zeit bei verschiedenen Bekannten in Leipzig untergekrochen waren, nach Jena über. Ein wesentlicher Grund dafür bestand darin, dass von Naziseite ernstlich mit meiner Abschaffung in ein Konzentrationslager gedroht wurde. Aber in Jena waren wir jener Gesellschaft aus den Augen gerückt. Glücklicherweise marschierten schon nach wenigen Wochen die Amerikaner in Jena und gleich darauf auch in Leipzig ein. Es dauerte noch bis Anfang Juni, ehe wir von Jena zurückgeholt wurden. Hier fand ich von Anfang an eine ausserordentlich grosse Arbeitslast vor. Nicht nur, dass alte und neue Klienten in das inzwischen von Dr. Eckstein im Europahaus gemietete Büro einströmten und mich von früh bis abends bis an die Grenzen meiner Leistungsfähigkeit in Anspruch nahmen, sondern ich war auch in einen Ausschuss der Anwälte und Notar gewählt worden, den die Amerikaner im Wege einer geheimen Wahl der nicht faschistischen belasteten Anwälte gebildet hatten, und wurde sofort auch dessen Präsident. Ich konnte mich dieser Aufgabe nicht entziehen, weil im Hinblick auf meine frühere Stellung als Präsident des deutschen Anwaltvereins und auf die Haltung, die ich stets gegenüber den Nazis eingenommen hatte, mein Name gewissermassen als Programm für die Zukunft gebraucht wurde. Das war auch der Grund, aus dem ich alsbald zum Vizepräsidenten der von der russischen Besatzung eingesetzten Anwaltskammer (Sitz Dresden) berufen wurde. Ich kann nicht beschreiben, in welchem Umfang meine Arbeitskraft beansprucht wurde. Siebzig wöchentliche Arbeitsstunden reichten nicht aus. Aber die Hauptsache war ja, dass der grauenvolle Krieg mit seinen abscheulichen Begleiterscheinungen nun hinter uns lag. Wir bezogen in einem schönen Grundstück eines befreundeten Klienten die oben angegebene Wohnung, die wir freilich, da ja unsere ganze Habe bei viermaligem Ausbomben zerstört worden ist, mit aus acht verschiedenen Haushaltungen zusammengeborgten Einrichtungsgegenständen ausstaffieren mussten. Aber auch das ist erträglich, da wir ja im Verzichten wirklich fachmännisch geschult worden sind.
Im November vorigen Jahres traf die erste Nachricht von Ina ein, die in Schlawe kriegsgefangen und von den Russen in ein Lager nach Thorn in Westpreussen abtransportiert worden war, wo sie aber als Aerztin eine ganz gute Zeit verbracht hat. Im Dezember erschien Ina dann selbst. Sie ist nunmehr im Kinderkrankenhaus hier angestellt. Renate ist Universitätsassistentin und hat einen Lehrauftrag für geschichtliche Hilfswissenschaften, konnte aber in diesem Semester noch nicht lesen, weil für alle historischen Fächer es dafür noch an der Erlaubnis der Besatzungsbehörde mangelt. Ursel führt den Haushalt, und die beiden kleinen Jungen erfreuen uns durch ihre Munterkeit und durch ihre Entwicklung.
Wenn Sie in Ihrem Brief erwähnen, dass sich für Sie noch keine Möglichkeit ergeben habe, wieder einmal nach Leipzig zu reisen, so möchte ich die Frage aufwerfen, ob denn nicht eine Besprechung mit der Akademischen Verlagsgesellschaft wegen Ihres Buches notwendig ist. Bei der Firma sind unter meiner Mitwirkung erhebliche Veränderungen im Hinblick auf Verhältnisse vorgegangen, die ich als Ihnen bekannt glaube voraussetzen zu können. Das hat aber mit der wissenschaftlichen Leistung nichts zu tun. Es kommt also nur darauf an, ob für das Erscheinen Ihres Buches jetzt eine Lizenz zu erhalten ist. Ich werde bei nächster Gelegenheit mit den Herren Dr. (Willy) Erler und (Johannes) Geest  darüber sprechen.
Zu Ihrer Absicht, entweder nach Hannover oder nach Leipzig zurückzukehren, erlaube ich mir zu bemerken, dass darin sich ein tiefgreifender Gegensatz ausspricht. Mann kann vielleicht sagen, dass, wenn die Möglichkeit der Rückkehr nach Hannover besteht, sie für Leipzig nicht gegeben ist und umgekehrt. Leipzig würde aber auch wahrscheinlich die Zuzugsgenehmigung nicht geben. In dieser Richtung sind wir noch sehr weit von erwünschten Zuständen entfernt. Ich hoffe, lieber Eberhard, dass dieser Bericht Sie bei guter Gesundheit und auch im übrigen insoweit wie möglich zufriedenstellenden Verhältnissen antrifft, und bleibe mit herzlichsten Grüssen von uns allen

Ihr alter (Drucker)