dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

3. August 1946.

Lieber Hans-Helmuth!

Dein vor wenigen Tagen hier eingegangener Brief vom 15. Juli des Jahres hat mich tief erschüttert. Ich hatte bereits Versuche unternommen, über das Schicksal Deiner lieben Mutter etwas zu ermitteln, konnte aber durch einen meiner Bekannten nur feststellen, dass an der letzten Berliner Wohnung Deiner Mutter eine Aufschrift des Inhalts angebracht war, dass Frau Krenzlin sich nach Bayern begeben habe. Ich schloss selbstverständlich daraus, dass sie zu Dir gelangt sei, kannte ja aber Deine Adresse nicht. Ich bin aufs tiefste betrübt darüber, dass sie von ihrem Leiden nicht wieder genesen ist, und ich spreche Dir und den Deinen die allerherzlichste Teilnahme aus. Wenn es auch die Umstände so gefügt haben, dass Deine Mutter und ich seit Jahrzehnten nicht mehr persönlich zusammengetroffen sind, so hat doch diese Zeit nicht vermocht, das enge verwandtschaftliche Verhältnis in Vergessenheit geraten zu lassen, das uns seit unserer Kindheit- ich weiss noch genau, dass wir einander im Hause Deiner Grosseltern in Minden zuerst im Jahre 1874 begegnet waren – immer gepflegt worden war und gerade in den letzten Jahren zu einem lebhafteren Briefwechsel geführt hatte. Keine meiner Kusinen hat mir so nahe gestanden wie Deine Mutter. Der Gedanke, dass sie nun aus dieser Welt gegangen ist, drückt mich nieder. Aber ich teile Deine Auffassung, dass in der Bewahrung Deiner Mutter vor einem schrecklichen Siechtum doch ein Trost für ihren Tod gefunden werden muss.
Ich danke Dir, dass Du alsbald nach Deiner Rückkehr aus der Gefangenschaft mir geschrieben hast.
Hoffentlich ist es Dir trotz aller schwierigen Verhältnisse möglich, für Dich und Deine engste Familie eine befriedigende Existenz aufzubauen. Ihr habt ja das grosse Glück, dass Ihr vor dem Schlimmsten bewahrt geblieben seid. Es wird Dir sicherlich gelingen, in Lübeck festen Fuss zu fassen.
Mit meiner Familie habe ich in dem verfluchten Krieg, wie auch Du ihn nennst, sehr schweres erlebt. Meine beiden Söhne sind gefallen. Bei viermaliger Ausbombung habe ich meine gesamte Habe verloren, und alles, was wir an Vermögen und Wertpapieren besassen, ist auf Grund der in der russischen Besetzungszone durchgeführten Massnahmen völlig entwertet worden. Im März vorigen Jahres war ich mit meiner Familie nach Jena entwichen, weil meine Abschaffung in ein Konzentrationslager bevorstand. Nach dem Einmarsch der Amerikaner wurde ich zurückgerufen und übe nun wieder meine Praxis aus. An der oben angegebenen Adresse habe ich eine sehr gute, wenn auch nur mit geborgten Möbeln eingerichtet Wohnung gefunden, die meine Töchter, meine Schwiegertochter sowie meine beiden kleinen Enkel mit mir teilen.
Meine ältere Tochter ist nach Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft als Aerztin am Kinderkrankenhaus tätig, die jüngere ist Universitätsassistentin, nachdem sie in Strassburg ihr philologisches Doktorexamen abgelegt hatte. Wenn nicht der Rückblick in die Vergangenheit und die allgemeine Unsicherheit über die Entwicklung der künftigen Verhältnisse uns bedrückte, müssten und würden wir mit unserer jetzigen Lage zufrieden sein.
Ich bitte Dich, Deiner Gattin mich unbekannterweise bestens zu empfehlen und bleibe mit herzlichen Grüssen

Dein (Drucker)