dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

1. Juni 1946

Meine liebste Freundin!

Kurz nachdem Joel mir Deine Adresse mitgeteilt hatte, traf Dein Brief vom Ostersonntag ein. Wie es auf mich wirkjte, nach so vielen Jahren die Schriftzüge wiederzusehen, die ein Menschenalter lang mich durch die verschiedensten Lebenslagen begleitet haben, brauche ich Dir nicht zu sagen. Glück und Wehmut vermischten sich zu einer mich tief ergreifenden Stimmung. Am Liebsten hätte ich Dir sofort geantwortet; am Schlusse dieses Briefes will ich Dir mitteilen, warum das bisher unmöglich war. Jetzt vor allem gebe ich dem tiefsten Dankgefühl dafür Ausdruck, daß Du mit dem Leben durch diese grauenvolle Zeit hindurch gekommen bist und Dir eine geachtete befriedigende Berufsstellung unter Freunden erworben und erhalten hast. Das Teacher-Examen, auf das Du so stolz bist, will mir fast als eine Selbstverständlichkeit erscheinen, wenn ich mir vergegenwärtige, das Du von jeher geleistet hast.
Die schrecklichen Ereignisse in Deiner engsten Familie haben mich erschüttert. Als Ule (Ulrich Bergmann) dahinging,fasste ich seinen Tod als eine Art Ankündigung dessen auf, was mir bevorstand. Aber dass Deine liebe Mutter von Theresienstadt nach Birkenau veschickt und seitdem verschollen ist, wusste ich bis heute nicht. Kurz vor ihrer Uebersiedlung nach Halle war ich mit Renate in Naumburg bei ihr gewesen und von Halle aus blieben wir auch in Verbindung. In Theresienstadt riss das alles ab.
Die Ankunft Dieters (Bergmann) bei Dir ist allerdings ein märchenhafter Glücksfall. Im Januar dieses Jahres bekam ich von ihm eine Karte, in der er mir seine Einlieferung in englische Kriegsgefangenschaft mitteilt. Ich bemerkte erst bei nochmaliger Prüfung, dass diese Karte von 24. Januar 1945 datiert war und nun wahrscheinlich verspätet freigegeben worden war.
Was ich inzwischen erlebt habe, lässt sich auch beim Streben nach grösster Sachlichkeit nicht darstellen. Sei versichert, das nach unserer Ueberzeugung, die wir die ganze Last des Nazismus haben ertragen müssen, im Auslande sich niemand eine Vorstellung von den wirklichen Verhältnissen machen kann, unter denen wir, die wir nicht nur nichts mit dieser Meute zu tun haben wollten, sondern von ihr gehetzt wurden, gelebt haben. Bei der seelischen Belastung ist es auch nicht geblieben. Du hast noch erfahren, dass meine Frau im Januar 1939 starb. Unter den Eindrücken der Judenprogrome vom November 1938 verschlimmerte sich ihr Herzleiden mehr und mehr. Der frühe Tod ist nach der Versicherung der Aerzte eine unmittelbare Folge jener Erlebnisse gewesen.
Bald nach Kriegsausbruch wurden beide Söhne eingezogen. Peter fiel im Juli 1942 bei El Alamein in Aegypten, einem der verbrecherischsten Abenteuer der Naziwehrmacht. Heinrich hatte im November 1941 geheiratet. Ich war damit völlig einverstanden, weil damals der Verbot der Heirat von Mischlingen unmittelbar vor der Türe stand. im Juli 1943 wurde sein erster Sohn Michael geboren, im November 1944 er zweite namens Christian. Den hat er aber nicht mehr gesehen, denn Ende Januar 1945 ist er auf der Landstraße von Schlesien nach Berlin ermordet worden.
Meine Schwiegertochter mit den Jungen hatte ich schon 1943 nach Aue im Erzgebirge bei einer Arztfamilie evakuiert. Als die Nachricht von Heinrichs Tode eintraf, wollte meine Schwiegertochter mit den Jungen nicht mehr von mir getrennt bleiben; wir haben damals ja alle damit gerechnet, Opfer der Bomben zu werden. Sie war wenige Tage in Leipzig, als bei einem fürchterlichen Angriff das Haus in der Schwägrichenstraße völlig vernichtet wurde. Das war nicht das erste gleichartige Ereignis. Schon am 4. Dezember 1943 war mein schönes Büro mit der unersetzlichen Bibliothek in Flammen aufgegangen. Im Juli 1944 wurde die Hälfte des Wohnhauses weggerissen. Das Fazit ist, dass unsere gesamte bewegliche Habe vernichtet ist und mit alleiniger Ausnahme des Flügels und des Inhalts einer Anzahl Kisten, die wir nach und nach auswärts untergebracht hatten.
Die Obdachlosigkeit sollte sich dahin auswirken, dass ich in ein Konzentrationslager abgeführt würde. Dem konnte ich mich noch rechtzeitig entziehen, indem ich mit Schwiegertochter und Enkeln sowie Renate in Jena untertauchte. Von dort wurde ich Anfang Juli zurück geholt, übe seitdem die Praxis an der von Dir benutzten Adresse aus und bin sowohl Präsident des hiesigen Anwaltsausschusses wie Vizepräsident des sächsischen Anwaltskammer in Dresden.
Renate hatte schliesslich in Strassburg weiter studieren dürfen und dort ihr Doktorexamen (Mittellatein) summa cum laude abgelegt, als die Franzosen bereits einmarschierten. Sie ist jetzt in Leipzig Universitätsassistentin mit Lehrauftrag, liest aber noch nicht, weil die historischen Fächer zu diesem Zwecke noch nicht freigegeben sind.
Ina war eine Reihe von Jahren als Aerztin in Pommern dienstverpflichtet, geriet dort in russische Gefangenschaft und war noch sieben Monate in einem Lager in Thorn. Im Dezember kehrte sie hierher zurück und ist jetzt als Aerztin im Kinderkrankenhaus angestellt.
Das wäre das Wesentliche von den äusseren Ereignissen. Dass ich bisher nicht schreiben konnte, erklärt sich durch eine Erkrankung, die mich schon fast vier Wochen ans Haus und im wesentlichen ans Bett fesselt. Während ich einer Herzbehandlung unterzogen wurde, ergab eine Röntgenuntersuchung, dass ich seit Wochen an einer Lungen- und Rippenfellentzündung litt. Es ist ein Rätsel, dass ich in diesem Zustand die Praxis ausüben und sogar mehrere Autoreisen habe unternehmen können. An der Tatsache jener Erkrankung selbst ist aber nicht zu zweifeln. Man bemüht sich nun, mich nach und nach wieder zu Kräften zu bringen. Sobald das einigermassen erreicht ist, schreibe ich Dir wieder.
Für heute wir für immer herzlichst
Dein (Martin)