dr. jur. Hubert Lang

Juden in Leipzig

Der Rechtsstatus der Israeliti­schen Religions­gemeinde zu Leipzig

Der Rechtsstatus der Israeliti­schen Religions­gemeinde zu Leipzig seit seiner Gründung 1847 bis heute

Vorbemerkungen

Die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig teilte das Schicksal aller jüdischen Gemeinden Deutschlands in der Zeit des Nationalsozialismus. Jedoch auch in den Jahrzehnten vor der Machtergreifung Hitlers war der Kampf um die wahre Gleichstellung aller Bürger unabhän­gig von ihrem religiösen Glaubensbekenntnis bestimmt vom Kampf um die juristische Ausgestaltung dieser Rechte.
Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts verlief die Entwick­lung in den einzelnen deutschen Ländern durchaus unterschied­lich. In Sachsen verlief die juristische und praktische Umsetzung der Gleichstellung der jüdischen Bürger und ihrer Religionsgemeinschaften besonders zögerlich und spo­radisch.1
Eine erneute Modifizierung des Rechtsstatus der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig war mit dem Ende der Hitlerdikta­tur, der sowjetischen Besatzungszeit und schließlich der Grün­dung der DDR verbunden.
Auch wenn sich dieser Aufsatz ausschließlich mit der historischen Entwicklung der Leipziger Gemeinde befasst, dürften die rechtlichen Schlussfolgerungen im Wesentlichen für alle jüdischen Gemeinden in den neuen Bundesländern zu­treffen.

A. Der Rechtsstatus der Israelitischen Religi­ons­gemeinde zu Leipzig zwischen 1831 und 1917

Obwohl auch das Königreich Sachsen auf dem Wiener Kongreß 1815 in Artikel 16 der Bundesakte die Verpflichtung übernommen hatte, auf die Gleichberechtigung der Juden hinzuwirken, wurden unter dem damaligen Staatssekretärs des Inneren von Einsiedel2 zunächst keine diesbezüg­lichen Anstrengungen unternommen. Seit dem Inkrafttreten der Verfassungsurkunde vom 04. September 1831 gab es jedoch ständige Bemühungen, um die Gleichberechti­gung der Glaubensbekenntnisse auch im Königreich Sachsen durch­zuset­zen.
Dieses Ziel wurde jedoch erst mit der Änderung der Verfassungs­ur­kunde durch das Gesetz vom 3. Dezember 1868 erreicht, nach wel­chen § 33 nunmehr lautete: „Der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte ist unabhängig von dem religiösen Glaubensbe­kenntnis.
Den bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten darf das religiöse Bekenntnis keinen Abbruch tun.“
Trotzdem gab es auch dann noch zahllose diskriminierende recht­li­che Regelungen, welche mit der Verfassungsurkunde nicht in Ein­klang zu bringen waren. Diese Mißstände führten am 25. No­vember 1869 zu einer Petition an den sächsischen Landtag.3
Die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig wurde auf der Grundlage des sächsischen Gesetzes vom 18. Mai 1837 die Religi­onsausübung der Juden usw. betreffend und des Gesetzes Nr. 64 des Königreiches Sachsen wegen einiger Modificationen in den bürger­lichen Verhältnissen der Juden vom 16.08.1838 nach einem jahre­langen Konstituierungsprozeß4 im Jahr 1847 gegründet.5
Zentraler Streitpunkt bei der Diskussion des Gemeindestatuts war, ob dieses die Zwangsgemeinde festschreiben sollte. Dazu kam es letztendlich, so dass alle in Leipzig lebenden Juden zwangsweise Mitglieder dieser Gemeinde werden mussten. Sie hatten demgemäß auch die festgesetzten Abgaben bzw. Steuern zu zahlen. Die Zwangsgemeinde war darüber hinaus auch Einheitsgemeinde. Das schloss die Gründung weiterer jüdischer Religionsgemeinschaften in Leipzig kategorisch aus.
Wie in Preußen galt auch im Königreich Sachsen das Paro­chialprin­zip6, so dass jeder in Sachsen wohnhafte Jude aufgrund der Tatsache seiner Zugehörigkeit zum Judentum einerseits und seines Wohnsit­zes im Bezirk einer bestimmten Religionsgemeinde andererseits dieser Gemeinde ipso jure als Mitglied angehörte. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz sah das Gesetz nicht vor.
Das Gesetz vom 16.08.1838 fand im Wesentlichen seine sachliche Erledigung durch die Verordnung vom 12.08.1869 die Wirkung der Gleichstellung der Confessionen in bürgerlicher und staatsbür­ger­licher Hinsicht betreffend.
In der weiteren historischen Entwicklung, insbesondere nach der durch den Wegfall der Niederlassungsbeschränkungen wachsenden Zahl der Juden im Königreich Sachsen, war die rechtliche Stel­lung des einzelnen Juden zu seiner Kultusgemeinschaft unter­schiedlich.
Die Leipziger Gemeinde besaß, wie die Gemeinden zu Dresden und Chemnitz, ein vom Ministerium des Kultus und öffentlichen Un­ter­richts genehmigtes Statut vom 25. September 1884. Diese drei Ge­meinden waren daher – im Unterschied zu den Gemeinden in Plauen, Annaberg und Zittau – als „juristische Perso­nen des öf­fentlichen Rechtes“ anerkannt.
Das ergibt sich aus verschiedenen rechtlich relevanten Tatsa­chen. So gab ein Gesetz vom 20.07.1870, sowie die auf Grund die­ses Ge­setzes erlassenen Verordnungen vom 01.12.1870 diesen Ge­meinden das Recht der bürgerlichen Beglaubigung von Geburten hinsichtlich der sich im Königreich Sachsen aufhaltenden Israe­liten durch Ein­tragung in ein bei diesen Gemeinden zu führendes Register. Wei­tere Privilegien sind den Vorstehern dieser drei sächsischen Ge­meinden durch Verordnung des Justizministeriums vom 12.04.1877 zur Erleichterung der Legitimation gewährt wor­den. Darüber hinaus wurden bereits zu dieser Zeit für diese jü­dischen Gemeinden fi­nanzielle Mittel im Staatshaushaltsplan des Königreichs Sachsen eingestellt, die dann auch entsprechend verwendet worden sind.
Das entscheidende Argument für den Status der Leipziger Ge­meinde als juristische Person des öffentlichen Rechts ist je­doch die Tatsache, daß die durch das Statut festgesetzten Ge­meindeabgaben von den Mitgliedern gegebenenfalls im Wege der Zwangsvollstrec­kung in Verwaltungssachen beigetrieben werden konnten.
Im Königreich Sachsen waren nach ihrem rechtlichen Charak­ter drei Gruppen von Religionsgemeinschaften zu unterscheiden:

  1. die christlichen Bekenntnisse, die in Sachsen zur Zeit der Ent­stehung der Verfassung aufgenommen waren oder danach durch Ge­setz aufgenommen worden sind: die evangelisch-lutherische Kir­che, die römisch-katholische Kirche, die reformierte Kir­che und die deutsch-katholische Kirche;
  2. die durch besonderen Akt der Staatsregierung zugelassenen Religionsgemeinschaften: die israelitischen Religionsgemein­schaf­ten, die griechisch-katholische und die anglikanische Kirche;
  3. die auf Grund des § 21 des Gesetzes vom 20. Juni 1870 bestä­tig­ten dissidentischen Religionsgemeinschaften.

 

Im Zusammenhang mit einer Entscheidung des Oberverwaltungsge­richts Dresden vom 17.03.1902 wurde offenkundig, daß die recht­li­chen Verhältnisse der israelitischen Religionsgemeinden im König­reich Sachsen einer weitergehenden Ordnung bedürfen.
Im Ergebnis der daraufhin eingeleiteten Bemühungen des Säch­si­schen Justizministeriums trat am 10.06.1904 das Gesetz Nr. 49 die israelitischen Religionsgemeinden betreffend in Kraft. Ge­mäß § 4 dieses Gesetzes erhielten nunmehr alle jüdischen Gemeinden in Sachsen den Status ei­ner juristischen Person des öffentlichen Rechts. Durch dieses Gesetz und eine hierzu ergangene Verordnung vom 29.06.1904 sind die Verhältnisse der israelitischen Religions­ge­meinden des Königreiches Sachsen abschließend geregelt wor­den.
Die territoriale Abgrenzung der Bezirke der israelitischen Re­li­gionsgemeinden im Königreich Sachsen erfolgte durch die Ver­ord­nung des Ministeriums für Kultus und öffentlichen Unterricht vom 7. März 1905. Hiernach sind in Sachsen acht Gemeinden errich­tet wor­den.
Eine Veränderung des Bezirkes dieser Gemeinden war demzufolge nur denk­bar im Falle der Auflösung aus Mangel an Mitgliedern. In solchen Fall wird der Bezirk der Religionsgemeinde mit dem ei­ner anderen zu vereinigen sein. Diese Religionsgemeinde ist dann Rechtsnach­folger der aufgelösten Gemeinde, sie tritt ins­besondere in ihre Vermögensrechte ein.

B. Der Rechtsstatus der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig nach der Weimarer Verfassung vom 11. August 1919

Nach der dargestellten historischen Entwicklung gehörte die Is­raelitische Religionsgemeinde zu Leipzig zu den sogenannten alt­korporierten Körperschaften öffentlichen Rechts, welche nach Ar­tikel 137 Abs. 5 der Weimarer Verfassung mit diesem Rechts­status fortbestanden.
Es ist davon auszugehen, daß der bis dahin in der sächsischen Ge­setzgebung verwandte Begriff der „juristischen Person der öf­fent­lichen Rechts“ mit dem nunmehr verwendeten Terminus Kör­perschaft des öf­fentlichen Rechts sachlich und rechtlich voll­ständig identisch ist.
Diese Tatsache wurde u.a. durch die Bekanntmachung des sächsi­schen Gesamtministeriums vom 13. September 1926 bestätigt, wo­nach sich die acht sächsischen israelitischen Religionsgemein­den unter der Bezeichnung „Sächsischer Israelitischer Gemeinde­verband“ ver­einigt haben und sowohl dieser Verband als auch seine Mitglieder die Religionsgemeinden in Annaberg, Bautzen, Chemnitz, Dresden, Leipzig, Plauen, Zittau und Zwickau Körper­schaften des öffentli­chen Rechts sind.7

C. Der Rechtsstatus der Israelitischen Religi­onsgemeinde zu Leipzig in der Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945)

Durch Reichsgesetz über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Kul­tusvereinigungen vom 28.03.1938 (RGBl. I S. 338) wurde der Israe­litischen Religi­onsgemeinde zu Leipzig der Körperschafts­status entzogen. Sie wurde, wie alle jüdischen Gemeinden, pri­vatrechtli­che juristische Person.
Der damalige Vorstand der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig war somit durch die Nationalsozialisten gezwungen wor­den, sich als eingetragener Verein zu konstituieren. Die Eintragung im Vereinsregister des Amtsgerichts Leipzig er­folgte unter der Nr. 2118 am 16.01.1940.8
Im Eintragungsersuchen vom 13.12.1939 wurde deshalb ausdrück­lich hervorgehoben, daß diese Eintragung im Vereinsregister keine rechtsbegründende, sondern lediglich rechtsklärende Be­deutung hat.9
Mit Inkrafttreten der 10. Durchführungsverordnung wurde die Is­raelitische Religionsgemeinde zu Leipzig (e.V.) wie alle ande­ren jüdischen Gemeinden im nationalsozialistischen Deutschland zwangsweise in die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland eingegliedert. Nach dieser Rechtsvorschrift verlor die Israeli­ti­sche Religionsgemeinde zu Leipzig ihre rechtliche Selbstän­dig­keit. Mit Anordnung des Reichsministers des Inneren vom 10.10.1942 wurde die Eingliederung vollzogen.10

D. Der Rechtsstatus der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig nach 1945

Die Conference on Jewish Claims against Germany stellte sich in den vermögensrechtlichen Auseinandersetzungen nach dem 03.10.1990 auf den Standpunkt, dass die Israelitische Religi­onsgemeinde zu Leipzig eine Neugründung nach 1945 sei. Es gibt allerdings keinen sachlichen Hinweis oder gar Beweis da­für, daß sich nach dem Ende des II. Weltkrieges in Leipzig eine jüdi­sche Gemeinde als Körperschaft des öffentlichen Rechts neu ge­gründet haben könnte. Das war auch nach der herrschenden noch darzustellenden Rechts­auffassung der Alliierten nicht erforderlich, da die ursprüng­li­che Leipziger Ge­meinde fortbestand und besteht. Der Entzug der Körperschaftsrechte 1938 und die Zwangsauflösung der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig 1939/40 waren na­tionalsozialistische Gewaltmaßnahmen, denen wegen ihrer Un­recht­mäßigkeit keine fortdauernde rechtliche Wirkung zukommen konnte und kann.
Nachdem das Reichsbürgergesetz vom 15.09.1935 mit allen hierzu erlassenen Verordnungen durch das Gesetz Nr. 1 der Militärre­gie­rung in Deutschland in Artikel 1 Abs. 1 i aufgehoben wurde, ist auch die 10. Verordnung hierzu weggefallen.11 Die zwangsweise Eingliederung der Israelitischen Religionsge­meinde zu Leipzig in die nicht mehr existierende Reichsvereini­gung der Juden in Deutschland war unzulässig und war als für die Zukunft nicht erfolgt anzusehen. Durch die Alliierten wurde demgemäß ausdrücklich bestätigt, daß die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig mit ihrem Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts niemals untergegangen ist, sondern fortbesteht.

Diese Tatsache wird auch belegt durch ein Schreiben des Nachrichtenblattes der Stadt Leipzig vom 06.06.1945 und ein weiteres Schreiben des Oberbürgermeisters der Reichsmesse­stadt Leipzig vom 15. 06.1945.12 Am 05.08.1945 besichtigte der Oberbürgermeister gemeinsam mit dem Vorstand der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leip­zig die ver­wüsteten jüdischen Friedhöfe, um über deren umge­hende Instand­set­zung zu beraten.13 Am 08.081945 empfing der Oberbürgermeister der Stadt Leip­zig die Herren des Vorstandes der Israelitischen Religionsge­meinde zu Leipzig im Rathaus.14
Bereits am 28.10.1945 weihte die Israelitische Religionsge­meinde zu Leipzig in Anwesenheit des damaligen Oberbürgermei­sters, Dr. Erich Zeigner, die einzige in der Bausubstanz erhal­ten gebliebene Synagoge in der Keilstraße wieder ein.15

Das Maß der Verpflichtungen der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leip­zig nach Kriegsende lässt sich keinesfalls an der Zahl der Mit­glieder messen. Vielmehr hatten sich der Vorstand und die kleine Verwaltung in enormen Maße um aus den Konzentrationsla­gern zu­rückgekehrte durchreisende Glaubensgenossen zu bemühen. Diesen waren Unterkunft und Lebensmittelkarten zu beschaffen. In der Folge der erlittenen KZ-Haft starben sehr viele Überlebende kurz nach Kriegsende hier in Leipzig. Die Verwaltung hatte ent­sprechend ih­ren satzungsmäßigen Aufgaben und ihrer Fürsorge­pflicht dafür Sorge zu tragen, daß diese Toten hier würdig und angemessen be­stattet werden konnten, unabhängig davon, ob diese Gemeindemit­glieder waren oder nicht. Den Zurückgekehrten hatten die Verwaltung und der Vorstand der Is­raelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig bei der Wohnungssu­che, der Zuteilung von Lebensmittelkarten und der Arbeitsbe­schaffung behilflich zu sein. Darüber hinaus trafen nach Kriegsende unzählige Anfragen von frü­heren Gemeindemitgliedern ein, die überlebende Familienmit­glieder und Verwandte suchten. Gerade diese Arbeit verursachte einen er­heblichen und mit außerordentlich schmerzlichen Schriftwechsel verbundenen Arbeitsaufwand.

Die Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig hatte sich um die beiden vormals nicht in ihrer Rechtsträgerschaft stehenden jüdi­schen Altersheime, die Ariowitsch-Stiftung in der Auen­straße und der Färberstraße, sowie das Schußheim’sche Alters­heim in Leipzig-Wahren zu kümmern. Da viele gebrechliche, pfle­gebedürftige und hilflose jüdische Glaubensgenossen zu versor­gen waren.16
Mit Schreiben der Zentralverwaltung für Wissenschaft, Kunst und Erziehung des Landesverwaltung Sachsen wurde der IRGL bestätigt, dass sie als juristische Person des öffentlichen Rechts im Sinne von § 4 des Gesetzes vom 10.06.1904 anerkannt ist.17
Mit Befehl des Obersten Chefs der Sowjetischen Militärverwaltung und des Oberbefehlshabers der Gruppe sowjetischer Besetzungstruppen in Deutschland Nr. 82 vom 29.04.1948 wurde die Rückgabe des durch den Nazistaat beschlagnahmten Eigentums an demokratische Organisationen angeordnet. Zu diesen Organisationen gehörte auch die IRGL. In Vollziehung dieses Befehls übertrug die Landesregierung Sachsen an die IRGL zwölf Grundstücke zurück.18 Der Rechtsstatus wurde mit einer Erklärung des Stellver­tretenden Ministerpräsidenten der DDR vom 09.07.1952 ausdrück­lich bestätigt.19
Seit der Änderung Verfassung im Jahr 196820 gab es den Rechtsstatus der Körperschaft des öffentlichen Rechts in der DDR nicht mehr. Art. 39 Abs. 2 DDR-Verf. garantierte lediglich den Religionsgemeinschaften das Recht zur Ausübung ihrer Tätigkeit. Rechtlich wurden seit diesem Zeitpunkt die Religionsgemeinschaften als selbstständige Organisationen dem Zivilrecht unterstellt.

E. Der Rechtsstatus der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig nach dem 03.10.1990

Die Wiedervereinigung führte für die jüdischen Gemeinden in den neuen Bundesländern dazu, dass deren Rechtsstatus grundsätzlich dem der jüdischen Gemeinden in den alten Bundesländern angepasst wurde. Im Zusammenhang mit der Durchführung des Vermögensgesetzes mussten die betroffenen jüdischen Gemeinden überraschend zur Kenntnis nehmen, dass ihr jahrzehntelanges Selbstverständnis durchaus nicht unstreitig war. Es entbrannte über 40 Jahre nach dem Ende der Hitler-Diktatur ein teilweise sehr emotional geführter Streit darüber, ob die jüdischen Gemeinden im Ergebnis des Holocaust untergegangen waren oder nicht.
In der Fachliteratur fand diese Problematik nur marginal Beachtung.21 Harald Reichenbach22 vertrat auf dem Kongreß „Offene Vermögensfragen der Verfolgten des Naziregimes“ am 17./18. April 1996 in Berlin die Auffassung, dass die jüdischen Gemeinden im Ergebnis des Holocaust untergegangen seien. Die heutigen Religionsgemeinden seien Neugründungen und nicht Rechtsnachfolger der untergegangenen Gemeinden, in diese Position sei vielmehr die Jewish Claims Conference gemäß § 2 Abs. 1 VermG eingetreten. Zur vermögensrechtlichen Einordnung des Befehls der SMAD Nr. 82 zur Rückgabe des durch den Nazistaat beschlagnahmten Eigentums an demokratische Organisationen.
Die Auffassung der Conference on Jewish Claims against Germany, dass die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig durch die Übernahme der mit SMAD-Befehl Nr. 82 übertragenen Vermögens­werte in unzulässiger Weise bereichert sei, da die Gemeinde auf wenige Mitglieder reduziert gewesen sei, ist zum einen sachlich unzu­treffend zum anderen jedoch auch formal rechtlich irrele­vant.
Die der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig übertrage­nen Vermögenswerte genügten wie die weitere Entwicklung insbe­sondere in den 50er Jahren deutlich machte nicht um die mini­mierten Auf­gaben der jüdischen Gemeinde wahrzunehmen. An dieser Situation hat sich auch nach der Wiedervereinigung nichts geän­dert. Die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig war und ist auf staatliche Unterstützung angewiesen, um ihre in keiner Relation zur Mitgliederzahl stehenden Aufgaben zu bewältigen. Das gilt in ganz besonderen Maße für die Pflege, Wartung und Erhaltung der vier zur Leipziger Gemeinde gehörenden jüdischen Friedhöfe. Nach einem vorliegenden „Verzeichnis der Juden im Bezirk Leip­zig nach dem Stande vom 15. Februar 1945“ lebten hier sechsun­dachtzig Frauen, Männer und Kinder.23 Sofort nach dem Einmarsch der Amerikaner in Leipzig wurde ein provisorischer Vorstand gebildet, welcher aus den Herren Ri­chard Frank, Alfred Muscatblatt und Leo Teichtner bestand. Herr Ernst Goldfreund übernahm die Geschäftsführung.
Das Bundesverwaltungsgericht hat sich in einem Urteil vom 15.10.199724 mit dem Rechtsstatus von jüdischen Gemeinden im Gebiet der ehemaligen DDR auseinandergesetzt. Das Verfahren hatte die Israelitische Synagogengemeinde Adass Jisroel angestrengt, weil das Land Berlin die Rechtsauffassung vertrat, dass die Gemeinde erst 1986 neu entstanden sei. Im voran gestellten Leitsatz zum Urteil des BVerwG heisst es wörtlich:
„Religionsgemeinschaften in der ehemaligen DDR, die bereits vor dem Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung Körperschaften des öffentlichen Rechts waren oder denen der öffentlich-rechtliche Korporationsstatus unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung verliehen worden ist, haben diesen Status am 3. Oktober 1990 verfassungskräftig wiedererlangt.“25
Das Verwaltungsgericht Berlin hatte in seinem erstinstanzlichen stattgebende Urteil klargestellt: „Die in den Jahren 1938/39 gegen sie ergriffenen Maßnahmen sind als Willkürakte nichtig.“26 Dem widersprach das vom Land Berlin angerufene Oberverwaltungsgericht Berlin mit dem Berufungsurteil vom 22.02.1996. Der Rechtsstatus habe nicht als „leere Hülle“ fortbestehen können und „die jahrzehntelange Untätigkeit der überlebenden Gemeindemitglieder“ könne nur so verstanden werden, dass diese sich „mit der Zerschlagung der Gemeinde abgefunden“27 habe. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte in dem oben zitierten Urteil die erstinstanzliche Entscheidung des VG Berlin.
In Art. 140 GG wurde der ursprüngliche Rechtsstatus gemäß Art. 137 Abs. 5 WRV ausdrücklich fortgeschrieben resp. wieder hergestellt.
Die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig ist somit seit dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages am 03.10.1990 wieder Körperschaft des öffentlichen Rechts. Sie ist rechtlich identisch mit der im Jahr 1847 konstituierten Gemeinde.


Zeittafel

1815
Bundesakte es Wiener Kongresses verpflichtet auch Sachsen auf die Gleichberechtigung der Religionen hinzuwirken.

04.09.1831
Inkrafttreten der sächsischen Verfassungsurkunde

18.05.1837
Gesetz die Religionsausübung der Juden usw. betreffend

16.08.1838
Gesetz Nr. 64 wegen einiger Modificationen in den bürgerlichen Verhältnissen der Juden.

01.06.1847
Gründungsversammlung der IRGL

03.12.1868
Änderung der sächsischen Verfassungsurkunde, welche in § 33 die Gleichberechtigung der Religionen vorsah.

12.08.1869
VO die Wirkung der Gleichstellung der Confessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Hinsicht betreffend.

25.11.1869
Petition im sächsischen Landtag wegen anhaltender Diskriminierungen

20.07.1870
Gesetz, welches die IRGL befugt, bürgerliche Beglaubigungen von Geburten von Israeliten zu erteilen.

12.04.1877
VO über die Erleichterung der Legitimationen und Bereitstellung finanzieller Mittel im Staatshaushaltsplan des Königsreichs Sachsen.

25.09.1884
Durch das vom Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterricht genehmigte Statut wird die IRGL als „juristische Person des öffentlichen Rechts“ anerkannt.

17.03.1902
Urteil des OVG Dresden offenbart, dass die rechtlichen Verhältnisse der jüdischen Gemeinden einer weitergehenden Ordnung bedürfen.

29.06.1904
Gesetz und VO über die Verhältnisse der IRGen des Königsreichs Sachsen. Gemäß § 1 blieben die Rechte gemäß § 56 der Verfassungsurkunde vom 04.09.1831 den christlichen Konfessionen vorbehalten (betr. freie öffentliche Religionsausübung).

07.03.1905
VO über die territoriale Abgrenzung der acht in Sachsen existierenden jüdischen Gemeinden.

11.08.1919
Weimarer Reichsverfassung gewährt Glaubensfreiheit (Art. 135) und verbietet eine Staatskirche (Art. 137)

13.09.1926
Bekanntmachung über die Gründung des „Sächsischen Israelitischen Gemeindeverbandes“

15.09.1935
Reichsbürgergesetz

28.03.1938
Reichsgesetz über die jüdischen Kultusvereinigungen entzieht den Körperschaftsstatus

04.07.1939
10. DVO zum RBG ordnet zwangsweise die Eingliederung aller jüdischen Gemeinden in die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland an.

16.01.1940
Die IRGL wird als privatrechtlicher Verein im Vereinsregister des AG Leipzig eingetragen.

10.10.1942
Vollzug der Eingliederung auf Anordnung des Reichsministers

Unbekannt (nach 1945)
Gesetz Nr. 1 der Militärregierung in Deutschland hebt in Art. 1 Abs. i das RBG und andere Vorschriften auf.

15.06.1945
Schreiben des OBM der Stadt Leipzig bezüglich des Rechtsstaus der IRGL

28.10.1945
Wiedereinweihung des Synagoge in der Keilstraße

29.01.1946
Schreiben der Zentralverwaltung für Wissenschaft, Kunst und Erziehung in Sachsen bestätigt den Status der IRGL als juristische Person des öffentlichen Rechts nach § 4 des Gesetzes vom 10.06.1904

29.04.1948
Befehl Nr. 82 der SMAD über die Rückgabe von beschlagnahmten Eigentum

09.07.1952
Erklärung des stellv. Ministerpräsidenten bestätigt ausdrücklich den Rechtsstatus der IRGL

26.03.1968
Änderung der DDR-Verfassung schafft den Status der Körperschaften öffentlichen Rechts ab. Alle Religionsgemeinschaften sind seitdem selbstständige Organisationen nach dem Zivilrecht.

03.10.1990
Inkrafttreten des Einigungsvertrages. Der Rechtsstatus aller Religionsgemeinschaften in der ehemaligen DDR wird dem er Gemeinschaften in der BRD angepasst. Sie werden also wieder Körperschaften des öffentlichen Rechts.

15.10.1997
Das Urteil des BVerwG bestätigt ausdrücklich diese Tatsache in einem Leitsatz.

1 Vergleiche hierzu insbesondere: Manfred Unger; in: Unger/Lang, Juden in Leipzig. Eine Dokumentation, Leipzig 1989, S. 8 ff.
2 Detlev Graf von Einsiedel (1773-1861), Staatsmann und Eisenhüttenunternehmer. Er nahm als Bevollmächtigter des Königsreichs Sachsen am Wiener Kongress teil.
3 Vergleiche hierzu: Emil Lehmann, Die Rechtsverhältnisse der Juden in Sach­sen, Pe­tition an den Landtag des Königreichs Sachsen um Aufhebung der mit § 33 der Verfassungsur­kunde in Wider­spruch stehenden Be­stimmungen vom 25. November 1869.
4 Erste Bemühungen um eine Gemeindegründung sind bereits im Jahr 1835 belegt. Im Jahr 1836 wurde nachweislich ein Gemeindesiegel mit der Inschrift „Israelitische Gemeinde zu Leipzig“ verwendet.
5 Vergleiche hierzu: Curt Graf, Das Recht der Israelitischen Religionsge­meinschaft im Königreich Sachsen, Inaugural-Disserta­tion zur Erlangung der Doktorwürde bei der Juristi­schen Fakultät der Universität Leip­zig, Frankfurt am Main 1914 und Josef Reinhold, Jüdischer Messebesuch und Wiederansiedlung von Juden in Leipzig im 18. und 19. Jahrhundert; in: Judaica Lipsiensia, Leipzig 1994.
6 Das Parochialprinzip war der Organisationsgrundsatz der christlichen Kirchgemeinenden. Mit der Einteilung des Territoriums in Parochien (Kirchgemeinden) wurde sichergestellt, dass es keinen Raum gibt, der nicht der Kirche angehört.
7 Vergleiche hierzu: Wilhelm Harmelin, Grundzüge der Geschichte und Verfassungen der öffentlich- rechtlichen religionsgesellschaftlichen Oberverbände des deutschen Juden­tums, Leipzig 1925.
8 Vergleiche hierzu: Vereinsregister, Registerakten im Staatsarchiv Leipzig, Polizeipräsidium Leipzig Nr. 2265.
9 Vergleiche hierzu: Eintragungsersuchen vom 13.12.1939 im Staatsarchiv Leipzig, Polizeipräsi­dium Leipzig Nr. 2265.
10 Vereinsregister, a.a.O, Blatt 44.
11 Vergleiche hierzu insbesondere: Matthias Etzel; Die Aufhebung von nationalsozialistischen Ge­setzen durch den Al­liierten Kontrollrat (1945-1948), Tü­bingen 1992
12 Quelle einfügen!
13 Vergleiche hierzu: Schreiben des Oberbürgermeisters vom 03.08.1945, IRG-Archiv
14 Vergleiche hierzu: Einladung vom 06.08.1945, IRG-Archiv.
15 Vergleiche hierzu: Einladung der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig vom ??? und Schreiben der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig an Herrn Dr. Zeigner vom 29.10.1945, IRG-Archiv.
16 Vergleiche hierzu: Schreiben an den Oberbürgermeister vom 12.09.1945, Schreiben vom 10.08.1945 und vom 12.11.1945, IRG-Archiv.
17 Das Schreiben vom 29.01.1946 wurde unterzeichnet durch den Staatssekretär Dr. Emil Menke-Glückert (1878-1948).
18 Schreiben der Landesregierung Sachsen vom 26.08.1948.
19 Vergleiche hierzu: Bestätigung des stellv. Ministerpräsidenten Otto Nuschke vom 09.07.1952.
20 Die Verfassung trat gemäß § 10 des Gesetzes zur Durchführung eines Volksentscheides über die Verfassung der DDR vom 26.03.1968 (GBl. I, S. 192) am 09.04.1968 in Kraft.
21 Vergleiche hierzu: Weber, Körperschaftsstatus bzw. Rechtsfähigkeit von Religionsgemeinschaften kraft Regierungsakt der ehemaligen DDR, NJW 1998, S. 197 ff.
22 Ministerialrat im Bundesjustizministerium
23 Quellenangabe einfügen!
24 Veröffentlicht in: NJW 1998, S. 253 ff.
25 Urteil des BVerwG vom 15.10.1997, Az.: BVerwG 7 C 21.96.
26 Urteil des VG Berlin vom 10.10.1994, Az.: VG 27 A 1.93.
27 Urteil des OVG Berlin vom 22.02.1996, Az.: OVG 5 B 93.94, S. 5.

Quelle:
Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig
Bestand 20031 Polizeipräsidium Leipzig, Nr. PP-V 2265