dr. jur. Hubert Lang

Juden in Leipzig

Raphael Chamizer, Arzt und Bildhauer

„Daß sich der Drang nach künstlerischem Schaffen ganz elementar auch noch in vorgeschrittenem Alter durchzusetzen vermag und es Begabungen gibt, die erst spät ihre wahre Bestimmung erkennen, dann aber mit desto größerer Intensität ihre aufgespeicherte Kraft entladen, beweist das außergewöhnliche Beispiel Raphael Chamizers.“

Raphael Chamizer wurde am 10. März 1882 in Leipzig geboren, sein Geburtshaus stand in der Windmühlenstraße 28.

Sein Leben wurde entscheidend durch das künstlerisch aufgeschlossene und sich zum Judentum bekennende Elternhaus geprägt. Dr. phil. Moritz Chamizer (1847-1917), der Vater, war als Direktor der Orientalischen Abteilung des Drugulinverlages nicht nur ein namhafter Orientalist seiner Zeit, sondern auch ein engagierter und erfolgreicher Bibliophiler. Er sammelte Autographen von Goethe, Briefe und Manuskripte von Heine, Bücher, Bilder und Grafiken. Seine umfassende orientalische Bibliothek wurde später Bestandteil der Nationalbibliothek in Jerusalem.
Seine Mutter Agnes geborene Schwarz (1855-1916) brachte noch drei weitere Kinder zur Welt. Der älteste Sohn Erwin (1878-1956) wurde promovierter Jurist und war in Leipzig Besitzer einer Chemiefabrik.

So war es nur folgerichtig, daß der Sohn frühzeitig künstlerische Ambitionen entwickel-te. Die Lehrer lobten insbesondere seine Begabung im Zeichnen. Kunstgeschichte zu lesen, zog er bereits damals dem Vokabel lernen vor. Deshalb sollte er nach dem Willen seines Schuldirektors nach Abschluß des Realgymnasiums 1902 Architektur studieren. Raphael folgte jedoch dem Wunsch seines Vaters und studierte Medizin an der Leipziger Universität. Am 9. Januar 1908 reichte er seine Dissertation ein. Noch im gleichen Jahr eröffnete er in der Zöllnerstraße 4 (der heutigen Emil-Fuchs-Straße) seine Praxis. Bereits in dieser Zeit entstehen erste literarische Arbeiten. Gemeinsam mit seinem Freund Dr. Moses Woskin-Nahartabi, dem verdienstvollen Gründer der hebräischen Sprachschule in Leipzig, gibt er das „Liladenu“ heraus. Ein liebevoll gestaltetes hebräisches Lehrbuch für Kinder. Raphael Chamizer beweist seine Fähigkeit als Illustrator durch seine, der hebräischen Type feinfühlig zugeordneten Zeichnungen im ägyptischen Stil.

Ebenfalls im Jahr 1921 wandte sich der Leipziger Arzt mit der Herausgabe eines Jüdischen Almanachs für das Jahr 1682 an seine Glaubensgenossen. Das kleine Büchlein erschien im Verlag M. W. Kaufmann. Der Kalender wendet sich insbesondere an überzeugte Zionisten. Er ist vom Autor und Herausgeber liebevoll gestaltet und mit Illustrationen versehen. Besonders bemerkenswert sind jedoch die zwölf Briefe aus den letzten Lebensjahren Heinrich Heines, die wörtlich und teilweise sogar als Faksimile wiedergegeben werden.
Diese literaturhistorisch wertvollen Autographe stammten aus den Nachlass des Vaters und befanden sich nach dessen Tod im Besitz von Raphael Chamizer.

Eine Reise in die Kunststadt Florenz im Herbst 1924 wurde zum entscheidenden Wendepunkt im Leben des Arztes. Zu Michelangelos David – dem Wahrzeichen von Florenz – bemerkt er später folgendes:
„Diese himmelstürmende Jugend mit der mannbaren zielsicheren Entschlossenheit, diese feingegliederte Gestalt mit der drohenden Wucht sieghafter Größe, ein ragendes Zeugnis für den Ewigkeitswert wirklicher Kunst. In der Akademie stehen seine technischen Unvollendeten, de facto Vollendeten.
Schier erdrückend für jeden Kenner die Selbstverständlichkeit der Formgebung, die grenzenlose Sicherheit und Leichtigkeit, mit der der Meister sein Handwerk übte – über allen Werken das pulsierende Beben der Schöpfung“.

Am folgenden Tag ging Chamizer zum Baptisterium, wo er tief beeindruckt vor den Tüten Ghibertis stehen bleibt. Hier trifft der Leipziger Arzt, nach intensiver Auseinandersetzung mit sich selbst, eine Entscheidung, die sein ganzes Leben grundsätzlich verändern wird. Er bricht seinen Florenz-Aufenthalt sofort ab. Der Tag seiner Rückkehr nach Leipzig wird der Beginn der künstlerischen Arbeit für den Zweiundvierzigjährigen.

In schneller Folge entstehen die Porträtbüsten „Der Philosoph“, „Der Prophet“, „Der Idiot“ und schließlich „Die Salome“.

Ari Ibn-Sahav, Autor des Buches „Raphael Chamizer – das plastische Werk“ schreibt: „Diese ersten Arbeiten kamen wie im Rausch, rein visionär, ohne daß er Anhaltspunkte hatte in Form, Material und Technik; alles wächst ihm unter den Händen, ohne daß er etwas „wollte“. Ihm ist die naturalistische Form Nebensache, er gibt nur die Form für den Inhalt. Die Salome stempelte ihn zu einem Bildner, der sich an Großfiguren wagen kann. Sie verlangte nach Überlebensgröße. Ohne Zögern errichtet er an seinem Hause ein Atelier, formt sie nochmals in großem Ausmaß für den Guß in Bronze.

Dieses Atelier entstand in der Bismarckstraße 22, wohin der Arzt und Bildhauer inzwischen umgezogen war. Die inmitten eines Gartens gelegene hochherrschaftliche Villa steht noch am Ende der heutigen Ferdinand-Lassalle-Straße. Das Gebäude ist, im Gegensatz zur benachbarten berühmten Musikbibliothek, sogar gut erhalten.

Raphael Chamizer drängte es jetzt immer mehr zur Ganzplastik.
Deshalb reiste er nach Laas und suchte Marmorblöcke aus, die ihn auf lange Zeit von den Problemen der Beschaffung frei machen sollten.

Als erste Großfigur entsteht die „Trauer“. Sie ist das einzige Werk, das in seiner undankbaren Heimatstadt erhalten geblieben ist. Heute erinnert diese überlebensgroße kauernde Frauenfigur auf dem Alten Jüdischen Friedhof, dort wo früher die Feierhalle stand, an die nicht endende Trauer über das unsägliche Leid, das Juden über Jahrhunderte widerfuhr.

Zunächst widersteht der Künstler den jetzt einsetzenden Überredungsversuchen, sein Schaffen in einer Ausstellung der Öffentlichkeit zu präsentieren, doch schließlich kommt es zu einer Verständigung mit dem Leipziger Kunstverein. Es ist ihm sogar vergönnt, im Jahre 1927 in der Gedächtnisausstellung für Lovis Corinth (1858-1925) im Museum für bildende Künste seine Werke zeigen zu dürfen. Der Kunsthistoriker Dr. Karl Schwarz (1885-1962), damals Leiter des Jüdischen Museums in Berlin und später Direktor des Museums in Tel Aviv, empfand die Exposition als große Überraschung.
Daß diese Wertung auch in den Jahren danach nicht verblaßte, beweist die außergewöhnliche Beurteilung, die das Werk in dem eingangs zitierten Buch „Die Juden in der Kunst“ gefunden hat. Im Gemeindeblatt, dem offiziellen Nachrichtenblatt der Israeli-
tischen Religionsgemeinde zu Leipzig, war zu lesen: „In der Lovis-Corinth-Ausstellung, über deren Wert man nicht mehr zu streiten braucht, stellt Raphael Chamizer zum ersten Male Plastiken aus. Plastiken, in zwei Jahren geschaffen, von einer Vielseitigkeit, Verinnerlichung und Größe, die erstaunen lassen.“

Im Frühjahr 1931 zieht der Bildhauer in das frühere Atelier des von ihm hochverehrten Max Klinger (1857-1920) in der Karl-Heine-Straße um.
Hier arbeitet er an einer neuen Fassung des „Hiob“.

„Auf dem letzten Stückchen Erde, das ihm geblieben ist, kauert der große Dulder. Die Knie hoch angezogen, mit der Linken sich krampfhaft haltend, sucht er durch das Licht der Sonne seine endliche Erlösung. Der ganze Körper ist geballt und doch ein Häuflein nur in Gottes großer Natur. Seine Züge sind nicht verbittert, sie fragen nach den letzten Rätseln des Seins. Bejahung das Ganze, denn das Leben klammert sich noch an das Kleinste. – Hiob ist der primäre Odysseus auf der Irrfahrt in das unbekannte Land des Schicksals. Er versinnbildlicht aber nicht ein Einzelschicksal, sondern das des ganzen jüdischen Volkes, das zur Qual geboren, dennoch sein Leben bejaht.“

Das sind Aussagen des Künstlers zu dieser Plastik, die wenigspäter durch das Engagement von Dr. Karl Schwarz ihren Standort im Museum in Tel Aviv fand.

Im Sommer 1931 beginnt Raphael Chamizer in seinem Sommerhaus in Wengen in der Schweiz mit der Arbeit an zwei Holzreliefs: „Die Schöpfung“ und „Das Hohe Lied“. Er wagt sich damit an ein für ihn völlig neuartiges Material: Lettische Eiche, 4,5 Meter lang und 1 Meter hoch. Diese Arbeit brachte er an seinem Sommerhaus an, welches noch existiert, aber von dem Holzrelief fehlt jede Spur.

Nach der Machtübernahme Hitlers vergräbt sich Chamizer immer mehr in die Arbeit. 1935 wendet er sich einem sehr ernsten und auch gefährlichen Thema zu: Nietzsche, eine überlebensgroße Bronzebüste.
Gefährlich deshalb, weil Klinger eine allgemein anerkannte Büste geschaffen hatte. Er entschloß sich, eine ganz andere Auffassung zu geben, die zu keinem Vergleich mit der des großen Vorbildes verpflichtet. Im Klingerschen Atelier standen ihm dieselben Unterlagen zur Verfügung, insbesondere die Totenmaske und alle Fotografien, auch die aus den letzten Jahren. Chamizer befaßte sich sehr eingehend mit Nietzsches Werk und kommt zu folgendem Schluß:
Nietzsche ist kein Philosoph. Bei ihm überwiegt das Dichterische und das Tragische. Er hat viel Prophetisches an sich. Er versteht mehr zu zürnen, als zu lieben. Der Keim seiner Krankheit liegt lange in ihm, wohl ein Grund, daß er nicht lachen konnte. So wurde er gestaltet: Unendlich tief leidend und im Leid zum Seher werdend. – Der Sockel der Büste, durchaus unkonventionell, wird zur dringenden Notwendigkeit. Er deutet seine Lagerstätte an. Der Kopf ist mühevoll gleichsam aus dem Kissen aufgerichtet und leicht seitlich geneigt, als könne er seinen schweren Inhalt kaum noch tragen.

Im Sommer 1936 arbeitet Raphael Chamizer wieder in seinem Schweizer Sommerhäuschen. Die Zeiten lasten schwer auf ihm.

Wenig ist jetzt noch über sein weiteres Schicksal zu erfahren. Ein Sohn des Künstlers, Herr Gideon Chamizer, geboren am 12. März 1916 in Leipzig, lebt noch heute in Bielefeld, er berichtet: 1938 gelang es der Familie, nach Israel auszuwandern. Zurück blieb die Schwester des Bildhauers, Lucie Löbl. Sie wohnte wie Dr. Woskin in der Wiesenstraße 21. Bei ihr wurden damals auch die meisten Plastiken eingelagert. Was aus diesen Werken später wurde, konnte bislang nicht geklärt werden. Einige kleine Plastiken befinden sich noch heute im Familienbesitz. Lucie Löbl und ihre Tochter Rahel fuhren später völlig hilflos auf einem Kohlendampfer auf der Donau hin und her. Da niemand diese aus der Messestadt Vertriebenen aufnehmen wollte, wurden auch sie Opfer des Holocaust.

Der Arzt und Bildhauer Raphael Chamizer starb 1957 nach langer schwerer Krankheit – die letzten Jahre war er fast vollständig gelähmt – 75jährig in Haifa.

Überarbeitete Fassung der Erstveröffentlichung:
Leipziger Blätter 1991, Heft 18, S. 64-66