dr. jur. Hubert Lang

Juden in Leipzig

Renate Drucker

Vergänglichkeit ist etwas sehr Trauriges, werden sie sagen.
– Nein, erwidere ich, sie ist die Seele des Seins,
ist das, was allem Leben Wert, Würde und Interesse verleiht;
denn sie schafft Zeit – (Thomas Mann, in: „Altes und Neues“)

Renate Drucker wurde im Kriegsjahr 1917 als viertes Kind des Leipziger Rechtsanwalts und Notars Martin Drucker geboren. Auch beide Großväter waren bereits angesehene Advocaten in Leipzig gewesen. Mit Arthur Ottomar Olympius Dölitzsch, dem Bruder ihrer Großmutter, gehörte sogar ein namhafter 48er Advocat zu ihren Ahnen. Ihre Mutter Margarethe geborene Mannsfeld entstammte einer Richterfamilie. Sie war die Schwester des späteren sächsischen Justizministers Carl Mannsfeld.
Die Familie ist seit Generationen fest in Leipzig verwurzelt. Sie vereint in selten harmonischer Weise die protestantische Lebenswelt der mütterlichen Linie mit den jüdischen Wurzeln der väterlichen Vorfahren. „Daß mein Vater von Juden abstamme, erhöhte in eigenartiger Weise meine Selbstachtung.“ Dieser Leitsatz aus Martin Druckers Lebenserinnerungen bestimmte in gleicher Weise den nun geschlossenen Lebensweg seiner jüngsten Tochter.
Renate wuchs in einer Familie auf, in welcher breit gefächerte humanistische Bildung zum höchsten Gut gehörte. Trotzdem musste sie sehr früh erkennen, dass für Frauen noch in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts vielfältige Bildungsschranken bestanden, die auch in ihrer Familie nicht übersprungen werden konnten. Ihre Mutter litt darunter, dass sie ihr intellektuelles Potential nicht ausschöpfen konnte. Renate selbst hat zeitlebens bedauert, dass es ihr als Mädchen im Unterschied zu ihren beiden älteren Brüdern verwehrt war, die angesehene Thomasschule zu besuchen. Ihre Freunde waren größtenteils Thomasschüler und die wöchentliche Mottete wurde selten versäumt.
Der Musik wurde schon bei den Großeltern ein zentraler Platz im Leben eingeräumt. So war es nur folgerichtig, dass auch Renate die vielfältigen Möglichkeiten der Musikstadt Leipzig als unentbehrliche Bereicherung ihres Lebens aufnahm.
Die Eltern schickten ihre jüngste Tochter in die 1875 begründete Servièresche höhere Mädchenschule in der Sebastian-Bach-Straße 9 immerhin in unmittelbarer Nähe der Thomasschule. Hier erhielt Renate die für damalige Verhältnisse bestmögliche humanistische Ausbildung für Mädchen. Sie erinnerte sich bis in ihre letzten Lebensmonate sehr dankbar an diese Bildungsanstalt und ihre engagierten Lehrerinnen.
Noch bestimmender für ihre weitere Entwicklung dürfte aber der Wechsel an eine der namhaftesten deutschen Privatschulen gewesen sein: die Schule Schloß Salem am Bodensee, wo Renate 1936 das Abitur ablegte. In typisch Druckerscher Konsequenz entschied sich Renate dort gegen viele Widerstände in eine „Jungen-Klasse“ einzutreten. Sie war stolz darauf, dass sie sich dort bald Anerkennung und Respekt verschaffte.
In der Tradition ihrer Familie wurde es auch für sie sehr früh selbstverständlich, die Konsequenzen für eigene Überzeugungen zu tragen, gerade auch dann, wenn es sehr schmerzhaft war. Schon der Großvater Drucker war aus dem heißgeliebtem Unversitätsgesangsverein St. Paulus ausgetreten, als dieser Verein beschloss, künftig Juden nicht mehr aufzunehmen. Und ihr Vater hat schweren Herzens nicht wieder für das Amt des Präsidenten kandidiert, als der Deutsche Anwaltverein gegen seine feste Überzeugung beschloss, den Sitz von Leipzig nach Berlin zu verlegen.

Dass Renates Schulbesuch in Salem zeitweise in Frage gestellt war, hat sie erst Jahrzehnte später bei einem Besuch in Salem erfahren. Im dortigen Archiv fand sich ein Brief ihres Vaters, welcher ankündigte, dass er die weiteren Kosten des Schulbesuchs wahrscheinlich nicht mehr tragen könne. Ursache hierfür war, dass Martin Drucker nach Hitlers Machtübernahme das Notariat als wesentliche Einnahmequelle entzogen worden war.
Renate musste Salem zwar nicht verlassen, aber der Nationalsozialismus hatte sich auch über ihre Familie als dunkle und stetige Bedrohung gelegt. Viele Freunde emigrierten, andere wurden Opfer des Holocaust.
Renate war nun der Zugang zum Jura-Studium versperrt. Es war bis dahin für sie eine Selbstverständlichkeit gewesen, die große anwaltliche Tradition ihrer Familie fortzusetzen.
Die Familie war Renate wichtig. Sie zog in einer Zeit als dies noch nicht zur Normalität gehörte, als alleinstehende Mutter ihre Tochter Constanze groß. Männliche Kollegen fühlten sich deshalb in dieser Zeit noch befugt, sie mit unverholener Süffisanz als „Fräulein Drucker“ anzureden.
Die beiden Enkelkinder Isa und Susanne waren auch für Renate ein unverhoffter Segen. Liebe- und natürlich auch sorgenvoll hat sie deren erste Schritte bis zu ihrem gegenwärtigen Studium begleitet. Sie war voller Vertrauen, dass beide ihren Weg zielstrebig gehen werden.
Als wir 1990 die Gründung einer Stiftung ins Auge fassten, welche die weitere Erforschung der jüdischen Stadtgeschichte sicherstellen sollte, stellte Manfred Unger – damals Direktor des Leipziger Staatsarchivs – die Verbindung zu seiner einstmaligen hochverehrten Lehrerin Renate Drucker her. Die Chemie stimmte und sehr schnell waren wir uns über die weiteren Schritte einig. Renate war wie keine andere prädestiniert dafür, die Führung dieser Stiftung zu übernehmen, welche den Namen des Leipziger Rabbiners Ephraim Carlebach tragen sollte. Sie stellte auch die Verbindung zu Fred Grubel her, welcher sich bereit erklärte, die Präsidentschaft im Kuratorium zu übernehmen. So konnte schließlich 1992 in einem feierlichen Akt die Ephraim-Carlebach-Stiftung im Alten Rathaus ins Leben gerufen werden.
Bis ins hohe Alter hat Renate Drucker die Führung der Geschicke der Stiftung mit Umsicht und Einfühlungsvermögen in ihren Händen gehalten. Sie hat mit ihrer Sachkompetenz, Lebenserfahrung und Weisheit das Bild der Ephraim Carlebach Stiftung im In- und Ausland entscheidend geprägt.
Toleranz war das wesensbestimmende Merkmal ihrer Amtsführung. Doch diese war durchaus nicht grenzenlos. Trotz ihrer ausgleichenden, in sich ruhenden Art, trat sie Missachtung, Anmaßung und Egozentrik mit Entschiedenheit entgegen. Sie konnte, wenn es sein musste, durchaus auch sehr resolut agieren.
Renate Drucker blieb agil und geistig hellwach bis zuletzt. Sie war eine anregende Gesprächspartnerin und ein nie versiegender Quell umfassenden historischen Wissens. Immer wieder gab es Interviewanfragen, welchen sie freudig nachkam, auch wenn sie sich manches mal über mangelndes historisches Grundwissen ihrer Gesprächspartner wunderte.
So belegt ihr vielfältiges Engagement beispielhaft das gewaltige Potential, auf welches sich unsere glücklicherweise älter werdende Gesellschaft stützen könnte. Ein Quell an Wissen, Sachkompetenz und nicht zuletzt an Empathie, welcher leider ansonsten allzu oft ungenutzt bleibt.
Es hat Renate sehr viel bedeutet, dass das Forum Anwaltsgeschichte nur wenige Wochen vor ihrem Tod anlässlich des 140. Geburtstages ihres Vaters am früheren DAV-Haus eine Gedenktafel anbrachte, die sie noch selbst enthüllen konnte. Als die von ihr so hoch verehrte Schauspielerin Christa Gottschalk im Anschluss daran die feinsinnigen Parodien ihres Großvaters mit Gespür für den richtigen Ton vortrug, fühlte sich Renate nochmals in ihre Kindheitstage zurückversetzt, denn auch ihr Vater verfügte über einen außergewöhnlichen präzisen Sprachwitz. Sie war glücklich. Niemand ahnte damals, dass dies Renates letzter öffentlicher Auftritt sein würde.
Wer Renate Drucker kennen lernen durfte, wird im Angesicht des endgültigen Abschieds wohl nicht nur Trauer und Wehmut, sondern vor allem Dankbarkeit empfinden.

Sie hat uns überreich beschenkt.