dr. jur. Hubert Lang

Varia

Forderungen des Fiskus als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches gegenüber den NS-Verfolgten im Ergebnis der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts?

Aus der Praxis der Entschädigungsbehörden

Als die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für das Gebiet der früheren sowjetischen Besatzungszone in das Vermögensgesetz integriert wurde, mögen viele der Verantwortlichen darauf vertraut haben, daß durch die jahrzehntelange Praxis im Umgang mit diesem Thema in den 50er bis 70er Jahren in der alten Bundesrepublik eine solide rechtliche Basis vorhanden ist, um diese Verfahren zügig und ohne größere rechtliche Unwägbarkeiten abzuwickeln.
Eine solche Auffassung hat sich jedoch sehr als reine Illusion erwiesen. Zunächst wurde klar, in welchem Umfang rechtliche Fragen auch damals ungeklärt geblieben sind. Erinnert sei hier nur beispielhaft an die Problematik der Zwangsversteigerungen.
Weite Teile der Spruchpraxis waren darüber hinaus nur noch schwer mit dem heutigen Erkenntnisstand der historischen Forschung zum Nationalsozialismus und insbesondere zur Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in Übereinklang zu bringen. Erschreckende Entscheidungen aus den 50er Jahren wurden wieder „ausgegraben“, die offenbaren, wie verhaftet das damalige Denken mit dem Nationalsozialismus und dessen Ideologie gerade in der Justiz damals noch war. Das lag bekanntermaßen in nicht wenigen Fällen auch daran, dass frühere aktive NSDAP-Mitglieder nunmehr über Wiedergutmachungs-ansprüche von NS-Verfolgten zu entscheiden hatten.1
Ein entscheidender Schwerpunkt der neu und offenkundig auch unerwartet aufgetretenen Schwierigkeiten in der Bearbeitung von Ansprüchen der NS-Verfolgten gemäß § 1 Abs. 6 VermG ergab und ergibt sich jedoch daraus, daß eine zeitliche Nähe zu den zu bewertenden Vorgängen nicht mehr gegeben ist und Zeitzeugen in den meisten Fällen nicht mehr leben.
Fragen des Umfanges der Amtsermittlung und der Beweislastverteilung rücken hierdurch immer wieder in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen.
Wenn diese unbestreitbare sachliche Problematik bei dem konkreten Mitarbeiter der zuständigen Behörde dann allerdings auch noch mit schwer zu fassenden Vorurteilen oder Vorbehalten gegenüber den Antragstellern zusammentrifft, kann es im Einzelfall zu außerordentlich absurden Ergebnissen kommen. Ein Verfahren, an dem das Sächsi-sche Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen und die Oberfinanzdirektion Berlin maßgebend beteiligt waren, zeigt das in besonders beschämender Weise.
Mit Bescheid vom 18.05.1999 hat die damals zuständig gewesene Oberfinanzdirektion Berlin gegenüber den beiden Töchtern des vormaligen jüdischen Eigentümers Elias 0. erklärt, daß ihr rein rechnerisch im Ergebnis eine Forderung in Höhe von 107.223,60 DM gegenüber den Erben des NS-Verfolgten zusteht.

© Elias Ormann mit einer seiner Töchter im Garten Windscheidstraße 2 in Leipzig

Wie kann es aus der Sicht der Behörden zu einem solchen Ergebnis kommen?
Die damals noch lebende, im Jahr 1994 über 100jährig verstorbene Mutter der Antragsteller hatte ihre Tochter beauftragt, vermögensrechtliche Ansprüche geltend zu machen.
Die Anmeldung war sicher nicht klar formuliert, aber bei objektiver und sachgerechter Bewertung konnte die Behörde zu keinem anderen Ergebnis gelangen, als anzunehmen, daß hiermit grundsätzlich alle Vermögenswerte, die dem Ehemann bzw. Vater durch die Nationalsozialisten entzogen worden waren, angemeldet werden sollten.
Behörden sind im Verwaltungsverfahren grundsätzlich verpflichtet, Anträge von Bürgern sachgerecht auszulegen. Das ergibt sich aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren. Sofern ein Antrag nicht klar und eindeutig formuliert ist, hat die Behörde den Antragsteller erforderlichenfalls unter Fristsetzung zur Präzisierung seines Anspruches aufzufordern. Das sieht für das vermögensrechtliche Verfahren § 31 Abs. 1b VermG auch ausdrücklich vor. Andernfalls ist der vorliegende Antrag nach Sinn und Zweck des Anliegens des Antragstellers auszulegen.
Für die Ansprüche von NS-Verfolgten kann demgemäß grundsätzlich davon ausge-gangen werden, dass die Antragsteller alle verfolgungsbedingten Vermögensverluste zum Gegenstand ihres Antrages machen wollen. Etwas anders kann nur gelten, sofern sich aus dem Antrag selbst ausdrücklich ein Verzicht auf weitere Ansprüche ergibt. Das wird in aller Regel jedoch nicht der Fall sein. Warum sollten NS-Verfolgte bzw. deren Erben auf ihnen zustehende, aber im einzelnen gar nicht bekannte Ansprüche verzichten?
Von derartigen Erwägungen haben sich im hier zu beschreibenden Verfahren jedoch weder das Sächsische Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen noch die Oberfinanzdirektion Berlin leiten lassen.

Die geltend gemachten Ansprüche wurden zunächst nur beim Amt zur Regelung offener Vermögensfragen der Stadt L. bearbeitet. Dieses forderte zur Konkretisierung auf und verwies ausdrücklich von Amts wegen darauf, daß das Grundstück J-Straße in L. dem Elias 0. gehört hatte.
Selbstverständlich haben die Erben umgehend bestätigt, daß sich die Anmeldung auch auf dieses Grundstück bezieht. Ab diesem Zeitpunkt ging das Amt zur Regelung offener Vermögensfragen über Jahre, insbesondere auch in mehreren InVorG-Verfahren, davon aus, daß eine fristgerechte Anmeldung der Erben nach Elias 0. vorliegt.
Plötzlich trat jedoch auch die Conference on Jewish Material Claims against Germany auf, die bestritt, daß die Erben fristgerecht angemeldet hatten. Ein beabsichtigter Bescheid kündigte zunächst noch die Rückgabe an die Erben nach Elias 0. an.
Dann erging am 28.09.1998 überraschend ein Bescheid, der eine Restitution an die Conference on Jewish Material Claims against Germany verfügte. Nunmehr behauptete die Behörde, sie habe sich über Jahre hinsichtlich der Erklärungen der Erben nach Elias 0. geirrt und diese fehlerhaft als fristgerechte Anmeldung interpretiert.
Der Widerspruchsausschuß hat diese Entscheidung am 04.08.1999 aufgehoben und das Grundstück an die Erben nach Elias 0. zurückzuübertragen.

Bestandteil der geltend gemachten Ansprüche war neben der Rauchwarenhandlung des Elias 0. auch ein Grundstück in W., welches erst durch langwierige Recherchen konkret ermittelt werden mußte. Da die Erben zunächst annahmen, daß es sich hierbei um ein betriebliches Grundstück handelt, erfolgte die Konkretisierung gegenüber dem für das Betriebsvermögen zuständigen Sächsischen Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen.

Der Anspruch zum Firmenvermögen, einer Rauchwarenhandlung am Leipziger Brühl mit Außenstellen in Berlin, wurde seitens des Sächsischen Landesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen mit einem Entschädigungsgrundlagenbescheid vom
15. Oktober 1997 positiv beschieden. In den Gründen wurde ausdrücklich festgestellt, daß zum Betriebsvermögen keine Grundstücke gehörten. Hinsichtlich des dem Privatvermögen zuzuordnenden Grundstückes in W. wurde eine gesonderte Entscheidung angekündigt.
Dieser Bescheid wurde rechtskräftig. Die Akten wurden an die Oberfinanzdirektion Berlin zur Berechnung der Entschädigung abgegeben.
Im Zuge der weiteren Ermittlungen ergab sich, daß die Verfügungsberechtigte das Grundstück in W. wegen der fehlenden Konkretisierung bereits veräußert hatte. Es wurde folglich unstreitig gestellt, daß die Antragsteller nunmehr lediglich die Herausgabe des Veräußerungserlöses verlangen könnten.
Im Laufe des weiteren Verfahrens wurde festgestellt, daß sich das Grundstück im Privatvermögen des Elias 0. befand und auch bereits seit 1929 nicht mehr seinerseits als Rauchwarenfärberei genutzt, sondern an Dritte verpachtet worden war. Obwohl für Privatvermögen grundsätzlich die Zuständigkeit des Amtes zur Regelung offener Vermögensfragen gegeben gewesen wäre, bearbeitete das Sächsische Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen diesen Anspruch weiter.
Schließlich erging am 11.12.1998 ein Bescheid, auf dessen Grundlage das Bundesvermögensamt zur Herausgabe des Veräußerungserlöses verpflichtet wurde. In Ziffer 2 dieser Entscheidung wurde jedoch unter Negierung des bereits ergangenen rechtskräftigen Entschädigungsgrundlagenbescheides zum Firmenvermögen entschieden: „Der auszukehrende Verkaufserlös in Höhe von 241.500,00 DM wird auf einen verbleibenden Entschädigungsanspruch voll angerechnet.“
Während des schwebenden Verfahrens zur Restitution des Grundstückes hatte das Sächsische Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen im April 1998 die weitere Bearbeitung des Entschädigungsverfahrens bei der Oberfinanzdirektion Berlin zum Betriebsvermögen gestoppt. Mit Schreiben vom 06.04.1998 wurde die Oberfinanzdirektion Berlin aufgefordert, „wegen aktueller Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts“ die Berechnung der Entschädigung auszusetzen. Dieser Aufforderung kam die Oberfinanzdirektion Berlin selbstverständlich nach, indem sie die Bearbeitung einstellte.
Auf welcher Rechtsgrundlage das geschah, bleibt unklar.
Unabhängig davon, daß die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, mit welcher die Vorgehensweise begründet wurde, die Auffassung des Sächsischen Landesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen zweifelsfrei mangels sachlicher Einschlägigkeit nicht zu stützen vermag, hat sich die Behörde auch nicht mit der Grundsatzfrage auseinandergesetzt, ob aktuelle Rechtsprechung überhaupt auf rechtsbeständige Verwaltungsakte Rückwirkungen entfalten kann. Es kann jedoch überhaupt keinem ernstzunehmenden Zweifel unterliegen, dass selbst höchstrichterliche Entscheidungen in keinem Fall nicht verfahrensgegenständliche bestandskräftige Bescheide revidieren können.
Nunmehr erließ die Oberfinanzdirektion Berlin am 18. Mai 1999 in Ausführung des Entschädigungsgrundlagenbescheides des Sächsischen Landesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen zum Betriebsvermögen folgenden Bescheid:

  1. Es wird festgestellt, daß die Erben nach Herrn Elias O. keinen Anspruch auf Zahlung von Entschädigung gegen den Entschädigungsfonds besitzen.1
  2. Das Verfahren ist kostenfrei; Auslagen werden nicht erstattet.

Diese Entscheidung beruht auf folgender zusammengefaßter Berechnung:

Einheitswert Betriebsgrundstück:2 32.100,00 RM/DM
Schätzwert Betriebsvermögen: +26.500,00 RM/DM
Zwischensumme: 58.600,00 RM/DM
abzüglich Verbindlichkeiten: -25.030,90 RM/DM
Schätzwert Betriebsvermögens insgesamt: 33.569,10 RM/DM
multipliziert mit dem Faktor 4 = 134.276,40 RM/DM
abzüglich Verkaufserlös -241.500,00 RM/DM
Differenz = -107.223,60 RM/DM

Da somit der Anspruch auf Auskehr des Verkaufserlöses für das Grundstück F.-straße in W. die Entschädigungssumme übersteigt, wird keine weitere Entschädigung mehr gezahlt.

Da die NS-Verfolgten also den Wert eines unstreitig entzogenen Grundstücks in W. zurückerhalten haben, sind ihnen damit auch Entschädigungen zum Betriebsvermögen in Leipzig und Berlin zugeflossen.
Sie müssen sogar zur Kenntnis nehmen, daß ihnen der Fiskus mehr als 100.000 DM zuviel gezahlt haben soll. Bei dieser Betrachtungsweise bleibt eigentlich nur noch unklar, weshalb die Oberfinanzdirektion Berlin auf die Rückforderung des zuviel Geleisteten verzichtet.
Die beiden Töchter haben gegen diese absurde Entscheidung der Oberfinanzdirektion Berlin am 05.06.2001 Klage beim Verwaltungsgericht Berlin erhoben. Dort ist seitdem das Verfahren unter dem Aktenzeichen 25 A 145.01 anhängig.

Die Ehefrau von Elias O. ist während des laufenden Verfahrens 1997 im Alter von 102 Jahren verstorben. Die jüngere Tochter beging schließlich im Jahr 2003 82jährig verzeifelt Selbstmord.

Beide werden also das Ende dieses absurden Verfahrens, das noch nicht abzusehen ist, nicht mehr zur Kenntnis nehmen können.

So sieht die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die deutsche Regierung 60 Jahre nach dem Ende der Hitlerbarbarei in der Praxis jenseits der alljährlichen Gedenkund Festreden aus.

Überarbeitete und aktualisierte Fassung der Erstveröffentlichung:
Zeitschrift für offene Vermögensfragen 1999, Heft 4, S. 264-265

  1. Vergleiche hierzu insbesondre: Klaus-Detlev Schüttke, Ich habe nur dem Recht gedient. Die „Renazifizierung“ der Schleswig-holsteinischen Justiz nach 1945, Baden-Baden 1993
  2. gemeint ist hier das zuvor ausdrücklich als Privatgrundstück bezeichnete Flurstück in W.