Dr. Curt Graf (1888–1971)
Anwalt und Sozialdemokrat in Leipzig
Curt Graf wurde am 16.09.1888 in Glogau als ältester Sohn des jüdischen Kantors Max Graf1 (1858–1929) geboren. Die Familie kam zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Leipzig, als der Vater hier eine Lehrerstelle an der Religionsschule der hiesigen jüdischen Gemeinde übernahm.
1907 begann G. sein Jura-Studium in Leipzig. Nach einem Semester in Berlin kehrte er zurück und absolvierte schließlich 1911 die erste und 1914 die zweite juristische Staatsprüfung.
Im gleichen Jahr legte er seine Dissertation „Das Recht der israelitischen Religionsgemeinschaft im Königreich Sachsen“ vor. G. ist damit der erste Jurist, der sich mit einem Thema promovierte, welches das Recht der Juden in Sachsen zum Gegenstand hat. Der Rechtsstatus wurde zum damaligen Zeitpunkt durch das Gesetz vom 10. Juni 19042 bestimmt, welches das erste diesbezügliche Gesetz vom 18. Mai 18373 abgelöst hatte. G. konnte seine Arbeit auf den Forschungen des Leipziger Rechtshistorikers Otto Stobbe (1831–1887)4 aufbauen, welcher sich als der Begründer der Rechtsgeschichte der Juden5 bleibende Verdienste erworben hat.
Auch nach der Gründung des Deutschen Reiches hatte sich das Recht der jüdischen Gemeinden in den deutschen Ländern unterschiedlich entwickelt. In Sachsen besaß die israelitische Religionsgemeinschaft keinen Rechtsstatus, da ein Oberverband6 im Gesetz nicht vorgesehen war. Den Status einer juristischen Person des öffentlichen Rechts besaßen nur die acht Gemeinden, deren territoriale Zuständigkeit durch Gesetz geregelt war. Diese Gemeinden waren Zwangs- und Einheitsgemeinden.
G. legte mit seiner Arbeit eine erste umfassende Darstellung der historischen und aktuellen Rechtslage vor, die im Jahr 1925 mit der ebenfalls an der Leipziger Juristenfakultät vorgelegten Dissertation von Wilhelm Harmelin7 erweitert und ergänzt wurde. Zu dieser Zeit hatte sich die rechtliche Situation mit Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 19198 vereinheitlicht und grundsätzlich geändert.
G. erlangte im Juli 1916 die Zulassung zur Anwaltschaft am Amts- und Landgericht in Leipzig. Seine anwaltliche Tätigkeit wurde jedoch durch die Kriegsteilnahme im gleichen Jahr unterbrochen. Schwer verwundet und u. a. mit dem EK II ausgezeichnet, kehrte G. erst 1918 zurück und nahm seine Anwaltstätigkeit wieder auf. Im Jahr 1923 erfolgte seine Ernennung zum Notar. Seine Klientel war sehr vielfältig. Er vertrat einerseits die Interessen führender Banken, wie der ADCA und der Leipziger Immobilienbank, anderseits war er der ständige Rechtsberater freier Gewerkschaften und der Leipziger Volkszeitung.
Das Profil seiner Anwaltskanzlei wurde entscheidend durch sein bereits als Student im Jahre 1908 begonnenes politisches Engagement als Mitglied der SPD geprägt. G. gehörte deshalb auch zu den aktivsten Anwälten der Roten Hilfe Deutschlands9.
In dieser Zeit war G. zu einem der Führer der Sozialdemokratie in Leipzig geworden. Als 1922 am Reichsgericht der Staatsgerichtshof des Deutschen Reiches zum Schutze der Republik10 gebildet wurde, wählte ihn der Reichstag zum Mitglied dieses Gerichts.
Folgerichtig war auch sein politisches Auftreten von seinen Erfahrungen als Anwalt mit der Justiz der Weimarer Republik geprägt. G. erlebte die national-konservative Richterschaft als entschiedenen Gegner der Republik.
Als der Reichsjustizminister Emminger 1924 mittels eines „juristischen Staatsstreichs“ (Radbruch) ohne Begründung das Strafgerichtsverfassungsgesetz11 änderte, kam es auch in Sachsen zu politischen Auseinandersetzungen. Richard Schmidt12 bezeichnete diese Verordnung als eine „unheilverkündende Weihnachtbescherung“. Die Umgestaltung des Schwurgerichts in ein großes Schöffengericht wurde durch das Reichsgericht später als rechtsgültig festgestellt13.
Bereits am 22. Januar 1924 fand im Leipziger Volkshaus eine öffentliche Versammlung der SPD statt, deren Hauptredner der soeben zurückgetretene sächsische Justizminister Neu14 war. Auf dieser Veranstaltung hat G. zweimal das Wort ergriffen und hierbei die anwesenden Richter scharf angegriffen. Insbesondere die Aussage, dass die Einsetzung des Staatsgerichtshofes als eine Ohrfeige für den deutschen Richterstand zu verstehen sei, die dieser wohlverdient habe, führte zu einem aufsehenerregenden ehrengerichtlichen Verfahren.
Der zuvor in keiner Weise negativ auffällig gewordene G. wurde mit Urteil des Ehrengerichts der Sächsischen Anwaltskammer vom 17.01.1925 mit einer Verwarnung belegt. Diese Bestrafung erhöhte am 10.10.1925 der Ehrengerichtshof am Reichsgericht, indem er einen Verweis aussprach. Das Urteil attestierte G. in den Gründen: „Nach seinem Auftreten vor dem Ehrengerichtshof besitzt er einen scharfen Verstand, … ebenso beherrscht er die freie Rede in mehr als gewöhnlichem Mass.“
Wegen seiner herausgehobenen politischen Position in Leipzig geriet G. mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 sofort ins Visier der neuen Machthaber. Als der Verlag der Leipziger Volkszeitung im März 1933 beschlagnahmt und geschlossen wurde, kam G. erstmals für zwei Tage in Schutzhaft.
Obwohl G. seine Zulassung zur Anwaltschaft erst nach 1914 erlangt hatte, wurde ihm diese nicht sofort entzogen, da er Kriegsteilnehmer gewesen war. Das Notariat hat er allerdings sofort verloren.
Im April 1935 wanderte G. mit seiner Familie zunächst nach Tschechien aus. In Prag absolvierte er sogar noch 1938 erneut die erste juristische Staatsprüfung.
Im August 1938 gelingt G. die Auswanderung nach London, wo er zunächst in der Kriegsindustrie und später als juristischer Hilfsarbeiter in einem Anwaltsbüro arbeitet.
Nach Kriegsende folgt G. seinen beiden Töchtern nach Sao Paulo. Dort kann er sich allerdings nicht wirklich einleben. Ab 1953 wird G. wieder als Rechtsberater juristisch tätig. Im gleichen Jahr erhält er seine Wiedereinbürgerung nach Artikel 116 Abs. 2 Grundgesetz, da er am 15.01.193815 ausgebürgert worden war.
Im Jahr 1957 reift bei G. der Entschluss, nach Deutschland zurückzukehren. Wie andere frühere Leipziger auch, wählt er Frankfurt am Main als seinen künftigen Wohnsitz. Sein an die dortige Anwaltskammer gerichteter Antrag auf Wiederzulassung zur Anwaltschaft stößt dort auf keine grundsätzlichen Bedenken. Fehlende Dokumente kann G. durch Verweis auf angesehene Freunde und Kollegen aus seiner Leipziger Zeit16 ersetzen.
Nach Klärung der Residenzpflicht wurde G. mit Wirkung vom 15.07.1957 zur Rechtsanwaltschaft bei dem Amtsgericht und dem Landgericht Frankfurt am Main zugelassen. Bereits im Oktober des gleichen Jahres erfolgte die Ernennung zum Notar.
G. waren noch viele Jahre erfolgreicher Anwaltstätigkeit vergönnt. Wie die Glückwunschschreiben zu seinem 70. und 75. Geburtstag belegen, hat er sich in der Frankfurter Kollegenschaft außerordentlich wohl gefühlt und war hoch angesehen.
Die Tatsache, dass ihm die Juristenfakultät seiner einstigen Heimatstadt 1938 den Doktortitel aberkannt hatte, ist G. nicht zur Kenntnis gelangt. Er hat diesen Titel deshalb zeitlebens mit gutem Recht getragen.
G. starb am 17. April 1971 an den Folgen eines tragischen Verkehrsunfalls.
Werke: Das Recht der israelitischen Religionsgemeinschaft im Königreich Sachsen, Diss. jur., Frankfurt am Main 1914
Quellen: STAL, AG Leipzig Nr. 3832 (Personakte Notar); Bundesarchiv Berlin, R 3005, Pers. 1741 (Ehrengerichtshof der Rechtsanwälte); Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, 110 W Acc. 31/99, Nr. 210174 (Wiedergutmachung); Rechtsanwaltskammer Frankfurt am Main (Personalakte); Persönliche Informationen von Susanne Glückauf geborene Graf (Tochter) und Peter Low.
1 Der Vater war ein Vertreter des religiös-liberalen Judentums, hierzu: Barbara Kowalzik, Das jüdische Schulwerk in Leipzig 1912–1933, Weimar 2002
2 Gesetz, die Rechtsverhältnisse der israelitischen Religionsgemeinden betreffend
3 Gesetz, die Religionsausübung der Juden und den für diesen Endzweck zu gestattenden Erwerb von Grundeigentum betreffend
4 Hierzu: Guido Kisch, Otto Stobbe und die Rechtsgeschichte der Juden, in: Forschungen zur Rechts- und Sozialgeschichte der Juden in Deutschland während des Mittelalters, Band 1, S. 199–234, Sigmaringen 1978
5 Stobbe: Die Juden in Deutschland während des Mittelalters in politischer, sozialer und rechtlicher Beziehung, Braunschweig 1868
6 heute: Landesverband Sachsen der jüdischen Gemeinden
7 Wilhelm Harmelin: Grundzüge der Geschichte und Verfassungen der öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaftlichen Oberverbände des deutschen Judentums, Dissertation Leipzig 1925
8 insbesondere durch den gemäß Artikel 140 Grundgesetz fortgeltenden Artikel 137 WRV
9 Schneider/Schwarz: Die Rechtsanwälte der Roten Hilfe Deutschlands, Bonn 2002, S. 131; dort wird diese Tätigkeit allerdings irrig dem jüngeren Bruder Eugen Peter G. (1904–1965) zugeschrieben.
10 Verordnung über den Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik vom 30. Juni 1922
11 VO über die Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 17.11.1923 und 4.1.1924, die sogenannte Emminger-Verordnung
12 Schmidt, Richard (19.01.1862 Leipzig – 31.03.1944 Leipzig), Prozeßualist, kam 1922 von Kiel nach Leipzig, sein Nachfolger wurde 1932 Leo Rosenberg (1879–1963).
13 Lobe, Zur Würdigung der VO über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4. Januar 1924, in: Deutsche Juristen-Zeitung 1924, S. 81–89
14 Neu, Karl Alfred Eugen (21.12.1871 Reichenbach – 07.11.1969 Leipzig), Rechtsanwalt (1901), Präsident des Amtsgerichts Leipzig (1922), von Oktober 1923 bis Januar 1924 war N. sächsischer Justizminister. Bis März 1933 wirkte er als Abgeordneter für die SPD im Sächsischen Landtag. Nach dem Zusammenbruch des Hitlerregimes wurde N. zum Präsidenten des Landgerichts Leipzig berufen. Dieses Amt hatte er bis 1952 inne.
15 Diese Ausbürgerung soll allerdings unwirksam gewesen sein, da G. zuvor die tschechische Staatsbürgerschaft erworben hatte. (STAL, Devisenstelle Nr. 161)
16 Kurt Kroch (1884–1960), Anwalt und Notar in Leipzig, später in Frankfurt am Main; Prof. Hans Kirchberger (1884–1968), Rechtsanwalt am Reichsgericht, später am BGH in Karlsruhe und Gerhard Heiland, seit 1922 Polizeipräsident in Leipzig, später Richter am Bundesverfassungsgericht