dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

Dr. M. Drucker
Leipzig S 3
Brandvorwerkstraße 80

Leipzig, den 4. April 1946

Lieber Carl!

Vor kurzen bekam ich aus Frankfurt Nachricht von Dir und benutze selbstverständlich sofort die Wiedereröffnung des Auslandsbriefverkehrs um Dir zu antworten. Endlich ist nun die qualvolle Unkenntnis von Eurem Ergehen beseitigt, und zum ersten Male erfuhren wir, dass sowohl Konrad und seine Familie wie auch Richard noch am Leben sind. Von Konrad hatten wir ja seit Ende 1939 nichts mehr gehört, von Richard auch wohl seit drei Jahren nichts. Bitte gib doch beider jetzige Adressen an, ebenso wie die von Isa.
Da sich nicht feststellen lässt, welche Briefe Dich in dem letzten Jahre erreicht haben, will ich wenigstens einiges Wichtiges erwähnen.
Nach Heinrichs Tod holte ich im Februar vorigen Jahres Ursel und die beiden Jungen aus Aue hierher zurück. Am 27. Februar wurde bei einem besonders schweren Bombenangriff unser Haus in der Schwägrichenstraße völlig zerstört. Wir waren obdachlos und brachten einige Wochen bei verschiedenen Bekannten zu. Als mir dann das Konzentrationslager drohte, entzogen wir uns der Verfolgung durch Uebersiedlung nach Jena, wo wir bei Bekannten Aufnahme fanden. Dort blieben wir bis in den Juni. Dann wurde ich auf Betreiben einflussreicher Leipziger Persönlichkeiten und der Amerikanischen Besatzungsmacht zurückgeholt; wir bekamen auch bald die oben angegebene neue Wohnung, die zwar aus nur 4 1/2 Zimmern besteht, aber in einem schönen hochmodernen Hause liegt. Eingerichtet sind wir freilich mit Möbeln, die aus wohl acht verschiedenen Haushaltungen geborgt sind, denn was am 27. Februar noch gerettet worden war, ist am 6. April in einem Lagerhaus verbrannt. Hier in der Brandvorwerkstrasse wohnen wir also zu sechs Personen: ausser mir Ursel mit den beiden ganz reizenden Jungen, Renate und seit Dezember auch Ina. Sie war aus dem russischen Kriegsgefangenenlager in Thorn, wo sie sieben Monate lang gearztet hatte, entlassen worden und bemüht sich jetzt um Anstellung an einer Klinik. Renate ist Universitätsassistentin, ausserdem aber auch Bibliothekarin auf dem Bureau und ehrenamtliche Sekretärin des Ausschusses für Rechtsanwälte und Notare, dessen Präsident ich bin. Vom ersten Tage meiner Rückkehr an hat meine Praxis geradezu stürmisch eingesetzt. Ich kann sie nicht bewältigen, trotz Eckstein und mehr als einem Dutzend Angestellten. Stark in Anspruch genommen bin ich auch durch meine Berufung zum Vizepräsidenten der Sächsischen Anwaltskammer in Dresden, wohin ich mindestens einmal monatlich zu Sitzungen reisen muss. Von dort habe ich vor fünf Wochen Betty mit zu uns gebracht; sie bleibt hier bis zur Uebersiedlung der Boses nach Borna, wo Teddy Amtsgerichtsdirektor geworden ist. Carl Mannsfeld ist am 14. Februar 1945 durch einen ihn in die Schläfe treffenden Bombensplitter getötet worden; Betty wurde dabei schwer verletzt und hat Monate in Krankenhäusern in Dresden zugebracht, ist auch noch immer beim Gehen behindert. Ernst Mannsfeld ist Ministerialrat in der Landesjustizverwaltung. Alle drei Familien haben alles beim Fliegerangriff verloren.
Am 28. März war mein goldenes Doktorjubiläum, bei dem ich stark gefeiert wurde.
Dobriners und Cohns sind wieder in Leipzig; Eure Grüsse sind ausgerichtet und werden freundlichst erwidert. Fritz Cohn hat übrigens von einiger Zeit versucht, Euch durch einen Bekannten Nachricht zukommen zu lassen.
Mit grossen Bedauern erfuhr ich aus Deinem Briefe, dass Gertrud mit einem Augenleiden zu kämpfen hat. Hoffentlich lässt es sich beheben. Sage ihr, dass es mir ähnlich geht. Auf dem linken Auge hat sich die Sehkraft stark vermindert, die Ursache ist ärztlich noch nicht festgestellt.
Bitte lasst uns bald hören, dass es Euch im Uebrigen befriedigend ergeht. Was macht die Wissenschaft?
Mit herzlichen Grüssen an Euch beide von uns allen

(Martin)