Anlagen
- 1. Briefwechsel mit der Familie
- 2. Briefwechsel mit Verwandten
- 3. Briefwechsel mit Juristen
- 4. Briefwechsel mit Freunden und Mandanten
- 5. Ehrengerichtliches Verfahren/Versetzung in den Ruhestand
- 6. Gertrud Landsberg, Briefwechsel
- 7. Gertrud Landsberg, Fotos
- 8. Nachlass Martin Drucker, Manuskripte
- 9. Sonstiges
- Personenregister - Nachlass Martin Drucker
Beglaubigte Abschrift!
Schwerin, Mecklenburg, den 27. März 1946.
Hans-Werner Gyßling
Ein Fels im Meer der Rektion.
Zum Tode Ernst Siehrs.
Vor kurzem ist Ernst Siehr, Rechtsanwalt in Bergen auf Rügen verstorben. Siehr stammte aus Insterburg in Ostpreußen, wo er als Rechtsanwalt vor dem ersten Weltkriege bereits in hohem Ansehen stand, als er durch seine Betätigung zunächst in der fortschrittlichen Volkspartei nach 1918 in der Deutschen Demokratischen Partei auch in der Politik zu Einfluss und Ansehen kam. Ernst Siehr gehörte als Vertreter des ostpreußischen Demokratie der weimarer Nationalversammlung von 1919 an.
Nachdem August Winning auf Grund seiner reaktionären Haltung im Kapp-Putsch 1920 als Oberpräsident von Ostpreußen sich unmöglich gemacht hatte, wurde Ernst Siehr sein Nachfolger. Viele Jahre hindurch ist Siehr auch die führende Persönlichkeit der ostpreussischen Demokraten gewesen, ohne jedoch vom Volke als blosser Parteimann empfunden zu werden. Die Ostpreussen fühlten, was sie an diesem Manne hatten. Er war einer ihrer Besten. –
Unbestritten war sein Ruf als Jurist. Eine Sache, die Ernst Siehr vertrat, war gut und sauber. Der arme Volksgenosse, der sogenannte kleine Mann, der sein Recht suchte, ging zu Ernst Siehr in dem Wissen, daß dieser Mann ihm helfen werde.
Als Oberpräsident war Siehr geachtet und verehrt vom ostpreussischen Volke, gehaßt und gefürchtet von der ostpreussischen Reaktion, die ihm Knüppel zwischen die Beine warf, wo immer sie konnte. Der Grossagrarier (Adolf) von Batocki-Bledau war der letzte Junker gewesen, der den höchsten Beamtenposten der Provinz Ostpreussen inne hatte (bis 1918). Winnig, der einstige Maurer, war als Oberpräsident von der allmächtigen Junkerklasse noch toleriert worden, weil er rechtzeitig ins „nationale“ Lager abgeschwenkt war. Landadel, Grossbesitz, Reaktion hatten sich eingebildet ein Dauerabonnoment auf den Platz in der Regierung in der Schönstrasse in Königsberg zu besitzen und nun saß da ein Demokrat und dazu einer, der sich nicht in die Suppe spucken ließ! Das republikanische Preußen der zwanziger Jahre konte sich auf Ernst Siehr verlassen; er diente dem Volke und der Republik nicht nur aus Pflichtgefühl, sondern mit dem Herzen.
Seine politischen Feinde haben beständig versucht, dem aufrechten Manne das Leben zu verbittern. Verdächtigungen, Verunglimpfungen waren an der Tagesordnung. Die Schnüffler fanden nichts, so sehr sie suchten. Siehr war persönlich bescheiden und bedürfnislos geblieben auch als Oberpräsident. Keine Dreckschleuder erreichte auch nur die Fussspitzen.
In Siehrs Amtszeit als Oberpräsident fiel der Bau von vielen Strassen, Siedlungen, Schulen, Hafenanlagen, Wasserwegen, die Druchführung der Meliorationen, die alle sein Werk waren.
Die Universität Königsberg verlieh Siehr 1926 die Würde eines Ehrendoktors. Im August 1932 quittierte Siehr auf eigenen Antrag das Amt als Oberpräsident, und zwar wegen dienstlicher Differenzen mit der in diesem Jahre durch Reichskanzler (Franz) v. Papen, dem Steigbügelhalter Hitlers in Preussen eingesetzten reaktionären Regierung.
Der Jugend der zwanziger Jahre war Ernst Siehr ein Beispiel und Vorbild. Seine hochragende, schon äußerlich achtungsgebietende Gestalt erschien nur selten an den Rednerpulten der großen Versammlungssäle in den ostpreußischen Städten. Aber wenn Siehr sprach, hatte er das Ohr des Volkes, war jeder Saal überfüllt. Was er sagte, war klar und wahr, einfach und sachlich. Pathos, Posen, Effeckte verabscheute er, auch darin ganz Oostpreusse. Er sprach so wie er war: ruhig, besonnen, vornehm, dabei energisch und zielbewußt. Es ging ihm immer um die Sache, nie um seine Person. Er wirkte wie ein Felsen im aufgewühlten Meere der Parteileidenschaften, in den Sumpfniederungen der herrschsüchtigen Reaktion. –
An einem strahlenden Frühsommertag des Jahres 1920 explodierte in Rothenstein vor den Toren Königsbergs, ein Munitionsdepot. Ernst Siehr hielt gerade im Königsberger „Artushoof“ einen Vortrag über Ostpreussens politische und wirtschaftliche Lage. Plötzlich brauste ein Sturmwind druch den Saal, die Mauern wankten, die Fenster zersplitterten, die Menschen sprangen auf. Schon war der Ausgang verstopft, eine Massenpanik drohte, die nackte Angst hatte die Menschen gepackt. Der Redner aber sprach weiter, ruhig und fest drang seine Stimme durch, mit keiner Bewegung, durch keinen Blick verratend, daß er überhaupt von dem zunächst völlig rätselhaften Ereignis Notiz genommen hatte. Er sprach weiter, als ob nichts geschehen wäre. Die eiserne Ruhe, die geistesgegenwärtige Besonnenheit des Redners wirkten Wunder. Die Menschen beruhigten sich. Die Panik wurde vermieden durch das Beispiel dieses einen Mannes.
So war Ernst Siehr, ein Freund und Anwalt des Volkes und des Rechtes. Ein großer Demokrat. Ein guter Deutscher.