Das gescheiterte Duell oder: Muß der Anwalt den Richter grüßen?
Paul Friedrich Werthauer (1858-1933)
Geheimer Hofrat, Rechtsanwalt, Unternehmer und Herausgeber
Vor der 4. Zivilkammer des Leipziger Landgerichts kam es in der Verhandlung am 3. Oktober 1889 zu einer unerfreulichen Kontroverse zwischen dem Vorsitzenden Richter H. und dem Rechtsanwalt Paul Werthauer, die weitreichende Konsequenzen für alle Beteiligten nach sich ziehen sollte. Der Landgerichtsdirektor H. bezeichnete die durch Werthauer vertretenen Ansprüche auf unsittlichen Verhältnissen beruhend und drückte sein Erstaunen darüber aus, daß sich jemand zur Vertretung derartiger Ansprüche bereit gefunden habe. Später bezeichnete H. seine Äußerungen ausdrücklich als persönlich erteilte Zurechtweisung des Anwalts.
Anläßlich zweier Begegnungen am 1. November, früh 9 Uhr vor dem Landgericht und am 9. November, mittags 12 Uhr am Obstmarkt hat es Rechtsanwalt Werthauer unterlassen, den Landgerichtsdirektor H. zu grüßen. Daraufhin ließ H. am 9. November 1889 durch Landgerichtsrat Dr. W. eine förmliche Erklärung des Inhalts überbringen, daß er auf Beachtung der hergebrachten Höflichkeitsformen bestehe, solange er den amtlichen Verkehr mit Rechtsanwalt Werthauer nicht vermeiden könne. Die Versagung des Grußes müsse als Achtungsverletzung gegen den Richterstand betrachtet werden, die H. daher als persönliche Beleidigung ahnden müsse.
Am 24. Dezember 1889 begegneten sich die Kontrahenten wiederum auf der Straße, ohne daß durch Rechtsanwalt Werthauer ein Gruß erfolgte. H. ließ dem Anwalt sofort durch Landgerichtsrat S. eine Herausforderung zum Zweikampf überbringen. Dieser hat die Annahme der Herausforderung zum Zweikampf von einer Erklärung des Vorstandes der Anwaltskammer, die für ihn als Anwalt die Bedeutung eines Ehrenrates habe, abhängig gemacht. H. hat keinen anderen Ehrenrat benannt, sondern in dieser Erklärung eine Ablehnung gesehen. Innerhalb einer kurz gestellten Frist, die wegen der Weihnachtsfeiertage erfolglos verstrich, sollte Rechtsanwalt Werthauer eine unbedingte Annahme der Herausforderung erklären. Seine Gegner behaupteten noch Jahre später, er habe die Herausforderung schlichtweg abgelehnt und sei daher nicht satisfaktionsfähig. Tatsächlich fand das Duell nicht statt.
Für die beteiligten Richter blieben die Vorgänge trotzdem nicht in Folgen. Der Landgerichtsdirektor und Hauptmann der Landwehrinfanterie H. wurde durch vom Leipziger Reichsgericht bestätigtes Erkenntnis am 8. Februar 1890 wegen Vergehens gegen § 203 Reichsstrafgesetzbuch zu drei Tagen Festungshaft verurteilt. Diese Strafe ist später allerdings durch Gnadenerlaß in drei Tage Stubenarrest (!) verwandelt worden.
Nach Rechtskraft des Urteils hatte das Sächsische Justizministerium zu prüfen, ob gegen die beteiligten Richter im Disziplinarwege etwas zu verfügen sei. Hierbei hatte das Ministerium auch Anlaß zu prüfen, ob der Richter überhaupt einen Anspruch darauf habe, vom Anwalt außerhalb des Gerichtsgebäudes gegrüßt zu werden.
Das Ministerium vermochte nicht anzuerkennen, daß H. in dem Unterlassen des Grüßens eine Beleidigung habe finden können, denn ein Anspruch auf Unterlassung einer Achtungsverletzung begründet keinen Anspruch auf Achtungserweisung.
Das Justizministerium sah in der Herausforderung zum Zweikampf nicht nur eine strafbewährte Handlung, sondern auch eine Verletzung der besonderen Pflichten, welche der Richterstand unterliegt, da dessen Würde darauf beruht, die Autorität der Gesetze aufrechtzuerhalten.
An der Verwerflichkeit ändere sich nichts dadurch, daß der Beschuldigte sich durch Rücksichten auf eine besondere Sitte, denen er wegen seiner gleichzeitigen Eigenschaft als Offizier Rechnung tragen will, zur Herausforderung zum Zweikampf verpflichtet fühlte.
Die Angelegenheit wurde daher zur weiteren Entscheidung an die Disziplinarkammer des Landgerichts Leipzig weitergegeben.
In diesem Verfahren beriefen sich alle drei Richter auf die Unverrückbarkeit der Denkungsweise des Offizierskorps, welchem sie angehörten. Rechtsanwalt Werthauer wird durch Landgerichtsrat Dr. W. in seiner Verteidigungsschrift „als höchstempfindlich bekannter Herr“ bezeichnet.
Landgerichtsdirektor H. vermochte in seinem Verhalten keine Verletzung der Würde des Richterstandes zu sehen. Ihm und seinen Freunden sei nicht eine einzige Stimme zu Ohren gekommen, welche die Herausforderung zum Zweikampf auch nur andeutungsweise als unwürdig für den Richterstand angesehen habe.
Hierbei ließ er die aufsehenerregenden sozialdemokratischen Proteste gegen ihn in der Sitzung der 2. Ständekammer am 25. Februar 1890 bewußt außer Betracht.
Zu seiner Verteidigung zitierte H. schließlich seine Majestät den König wie folgt: „Denn einen Offizier, welcher im Stande ist, die Ehre eines Kameraden zu verletzen, werde ich ebensowenig in meinem Heere dulden, wie einen Offizier, welcher seine Ehre nicht zu wehren weiß.“ Er habe daher einen Spruch des militärischen Ehrengerichts zu erwarten gehabt, sofern er das Verhalten von Rechtsanwalt Werthauer hingenommen hätte. Seine Eigenschaft als Richter sei hierbei nicht als Entschuldigungsgrund anzuerkennen.
Seine Verteidigung gipfelt in der pathetischen Frage: „Heißt es aber nicht übermenschliches vom Richter zu verlangen, wenn er den Gesetzen zu ehren, die Geringschätzung seiner eigenen Gesellschaftskreise seiner Kameraden, vielleicht gar die Schmach der Entfernung aus dem Offiziersstande auf sich nehmen müßte?“
Das Sächsische Justizministerium hat seine Auffassung auch auf die Beschwerde der drei beschuldigten Richter nicht geändert, sondern ausdrücklich festgestellt, daß Landgerichtsdirektor H. die Umstände, die er später als zwingend für die Herausforderung bezeichnet, selbst herbeigeführt habe. Unabhängig davon, daß ein Anspruch auf das erste Grüßen durch den Anwalt nicht bestehe, konnte H. nicht ernsthaft glauben, daß Rechtsanwalt Werthauer die Mißachtung ausdrückende Aufforderung zu grüßen, solange sich der Verkehr mit ihm nicht vermeiden lasse, erfüllen werde.
Gesetzeswidrige Sühne einer Achtungsverletzung gegen den Richterstand erheische die von H. in Bezug genommene Sitte im übrigen nicht. Wäre dies der Fall, so würde die Offiziersstellung mit dem Richterdienst unvereinbar sein.
Die überlieferten Akten lassen nicht erkennen, daß die Auseinandersetzungen einen antisemitischen Hindergrund hatten.
Der am 11.09.1858 geborene Paul Werthauer war nicht nur der Sohn des hochgeachteten Vorstehers der Leipziger jüdischen Gemeinde, des Bankiers Alexander Werthauer, er war auch der wichtigste Vorkämpfer für die praktische Durchsetzung der Gleichberechtigung für seine jüdischen Glaubensgenossen innerhalb der sächsischen Justiz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese Ambitionen mußten zwangsläufig auf den entschiedenen Widerwillen bei der konservativen und überwiegend antisemitisch eingestellten Richterschaft stoßen.
Gegen die Benachteiligung jüdischer Referendare in Sachsen wandte sich Paul Werthauer auf Versammlungen und in der Presse. Auf seine Initiative richteten die sozialdemokratischen Abgeordneten Bebel und Liebknecht eine Anfrage an die sächsische Staatsregierung, welche die Diskriminierung jüdischer Referendare zum Gegenstand hatte. Die Abgeordneten wiesen ausdrücklich darauf hin, daß die gegenwärtige Praxis offenbar gegen die Reichsgesetze und die Landesverfassung verstieße.
Nachdem ein jüdischer Referendar Selbstmord 1882 begangen hatte, hatte er die nach diesem benannte Carl-Lilienfeld-Stiftung in Leipzig gegründet, um zumindest die finanzielle Situation seiner Glaubensgenossen während der jahrlangen Ausbildung etwas verbessern zu können.
Paul Werthauer, der zunächst an der Leipziger Kunstakademie studiert hatte, besaß eine außergewöhnliche Gesangsstimme. König Carlos I verlieh ihm 1892 den „Komtur mit Stern des Portugiesischen Christus-Orden“, nachdem er in einer Kirche seinen Gesang bewundert hatte. 1907 wurde er zum herzoglich sächsischen Geheimen Hofrat ernannt. Es folgten noch weitere namhafte internationale und nationale Würdigungen und Auszeichnungen, die seine besondere öffentliche Wertschätzung bezeugen.
Paul Werthauer war Gründer und Herausgeber des „Grundstücks-Archivs“ und der „Deutschen Orient-Korrespondenz“. In Berlin gehörte er zahlreichen bedeutenden Gesellschaften als Vorsitzender bzw. Aufsichtsratsmitglied an. Als Rentner widmete er sich ausschließlich der Pflege seines Tenorgesangs und der Malerei.
Sein unermüdliches Engagement für eine wahrhafte Gleichberechtigung veranlaßt den späteren Oberlandesgerichtsrat in Schleswig Siewert Lorenzen in seiner 1942 publizierten antisemitischen Hetzschrift „Juden in der Justiz“ zu heute nicht mehr zitierbaren Entgleisungen.[1]
Rechtsanwalt Paul Werthauer gab etwa 1904 seine Zulassung in Leipzig auf und verzog nach Berlin, wo er mit seiner Frau, der Tochter eines Breslauer Bankdirektors, eine glückliche Ehe führte. Anläßlich der Konfirmation seiner beiden Kinder ließ sich die Familie schließlich taufen. Seine Töchter lebten 1933 in sogenannten „privilegierten Mischehen“ und konnten so ihr Leben retten.
Paul Werthauer starb am 02.07.1933 in Berlin. Seine geliebte Frau Alice, geborene Schweitzer nahm sich in Angesicht der drohenden Deportation am 21.08.1942 im Alter von 64 Jahren das Leben.
[1] Siehe hierzu: Klaus-Detlev Godau-Schüttke, Ich habe nur dem Recht gedient. Die „Renazifizierung“ der Schleswig-Holsteinischen Justiz nach 1945, Baden-Baden 1993