„Der Führer wünscht keine besonderen Maßnahmen.“
Das Ende eines deutschen Rechtsanwalts
„Der Führer wünscht keine besonderen Maßnahmen.“ So lautet die Aktennotiz des Reichsjustizministers Gürtner nach einem Gespräch mit Hitler am 08. April 1938 in Linz über den Fall des Leipziger Rechtsanwalts Max Hellmann.
Max Hellmann wurde am 27. Mai 1884 in Leipzig als einziges Kind jüdischer Eltern geboren. Sein Vater, der Kaufmann Otto Hellmann, starb erst 61-jährig 1916 in Leipzig. Die Mutter Hedwig geborene Werner wurde 81 Jahre alt und starb 1942 im jüdischen Pflegeheim in der Leipziger Färberstraße.
Der Sohn Max besuchte die renommierteste Bildungseinrichtung Leipzigs, die Thomas-schule, wo er im Jahr 1903 das Abitur ablegte. In den Jahren von 1904 bis 1908 stu-dierte Hellmann Jura und war anschließend bis 1912 als Referendar tätig. Im gleichen Jahr legte er erfolgreich die zweite juristische Staatsprüfung ab und wurde am 1. April 1913 als Rechtsanwalt beim Amts- und Landgericht Leipzig zugelassen.
Max Hellmann war seitdem als Einzelanwalt tätig. Seine Praxis, wie auch seine Woh-nung, befand sich im eigenen Haus in der Nathalienstraße 6. Die Schwerpunkte seiner anwaltlichen Tätigkeit lagen im zivil- und strafrechtlichen Bereich. Es ist nicht ersicht-lich, daß Max Hellmann vor 1933 als Anwalt einmal besonders hervorgetreten ist. Irgendwelche Beanstandungen seiner Tätigkeit hat es aber offensichtlich ebenfalls nicht gegeben.
Rechtsanwalt Hellmann gehörte keiner politischen Partei an und bezeichnete sich selbst als deutschnational eingestellt.
Im Jahr 1937 soll sein monatliches Einkommen nur noch 100,00 RM –später nur noch 60,00 RM – betragen haben.
Im Jahr 1924 war Max Hellmann zum evangelisch-lutherischen Glauben übergetreten. Er heiratete die nichtjüdische Elsa Haferkorn, die früh und unerwartet am 14. Mai 1936 in Leipzig verstarb. Aus der Ehe waren keine Kinder hervorgegangen.
So blieb Max Hellmann in tiefer Trauer und ohne den relativen Schutz einer sogenann-ten „Mischehe“ zurück. Da er nicht gewohnt war, sich selbst zu versorgen, benötigte er Unterstützung bei der Haushaltsführung. Ihm stand eine 53-jährige nichtjüdische Auf-wartefrau zur Seite. Sein Essen wurde jedoch von einer 34-jährigen ebenfalls nichtjüdi-schen Hilfe zubereitet. Deshalb sollte Max Hellmann gegen das Blutschutzgesetz verstoßen haben.
Hieraus entwickelte sich der „Fall Hellmann“, über welchen im April 1938 schließlich Hitler und Gürtner sprachen.
Die in den Akten geschilderten Vorgänge, aus welchen sich allerdings die Gefühlslage und Motivation des Angeklagten nicht zweifelsfrei feststellen lassen, nehmen sowohl hochdramatische, wie auch schwejkische Züge an.
Im November 1937 war Max Hellmann die Anklageschrift des Oberstaatsanwalts beim Landgericht Leipzig vom 30. Oktober 1937 zugestellt worden. Hiernach wurde ihm vorgeworfen, „im Jahre 1937 in Leipzig als Jude eine weibliche Staatsangehörige deut-schen Blutes unter 45 Jahren in seinem Haushalt beschäftigt zu haben. Vergehen nach §§ 3, 5 Abs. 3 des Blutschutzgesetzes vom 15.09.1935″
Es kann nur gemutmaßt werden, warum Max Hellmann auf diese Anklageschrift in einer Weise reagierte, die die Nationalsozialisten als Provokation empfinden mußten. Sein Vorgehen gleicht teilweise dem eines Amokläufers, der nichts mehr zu verlieren hat.
Es kann eigentlich nicht angenommen werden, daß der hochgebildete Rechtsanwalt tatsächlich an den „Erfolg“ seines Vorgehens glaubte. Andererseits muß ihm die akute Gefahr, in die er sich brachte, wohl bewußt gewesen sein.
Jedenfalls hat Max Hellmann sich selbst verteidigend in seiner Erwiderungsschrift auf die Anklage vom 13. November 1937 beantragt, den Führer zur Hauptverhandlung als Zeugen mit folgender Begründung zu laden:
„Das Beweisthema würde lauten: Der Führer soll auf meinen Vorhalt in der Hauptver-handlung als Zeuge den Inhalt seiner Reden bekunden, daß sein Wille einzig und allein in den Gesetzen und Verordnungen verankert sei. Der Wortlaut sei so einfach klar dem kleinen Mann verständlich, daß daran nichts zu deuteln sei. Deutelungen seien lediglich Wunschgedanken einzelner, die nun Märtyrer schaffen, nicht aber seinem Willen folgen.“
Nachdem der Antrag umgehend und erwartungsgemäß abgelehnt worden war, hat Max Hellmann am 17. Dezember 1937 den Gerichtsvollzieher beauftragt, dem „Führer und Reichskanzler“ eine Zeugenladung gemäß § 220 StPO zuzustellen.
Mit der Begründung, daß Hitler gemäß § 49 StPO nicht geladen werden könne, hat der Gerichtsvollzieher auf entsprechende Anweisung des OLG-Präsidenten die Zustellung abgelehnt.
Daraufhin hat Hellmann am 29. Dezember eine briefliche Ladung unmittelbar zugestellt. Zur Begründung der Zeugenladung führt er aus, daß die 34-jährige Frau in seiner Woh-nung „für sich, für ihren eigenen Haushalt“ Kartoffeln gekocht habe. Dies sei nach dem klaren Gesetzeswortlaut jedoch nicht strafbar.
Hitler wurde in der Ladung aufgefordert, die Zimmernummer des Verhandlungssaales beim Wachtmeister zu erfragen. Er wurde gleichzeitig bereits darauf hingewiesen, daß seine Entlassung nach der Vernehmung nicht erfolgen könne, da Fragen an den Zeugen noch bis direkt vor Verkündung des Strafurteils möglich werden. Diese Formulierungen wurden als Verhöhnung Hitlers später in der Nazi-Presse besonders scharf angegriffen.
Max Hellmann wurde bereits am 6. Januar 1938 vorläufig festgenommen und kam schließlich am 31. Januar 1938 in Untersuchungshaft.
Am 15. Januar 1938 hatte die Hauptverhandlung vor dem Schöffengericht Leipzig in der Elisenstraße stattgefunden. Dem Angeklagten wurde seitens des Staatsanwaltes die persönliche Ladung Hitlers wiederholt vorgehalten. Er soll hierauf zu seiner Verteidigung erwidert haben:
„Es habe ihm vollkommen fern gelegen, den Führer und Reichskanzler zu kränken oder etwa mit der Absicht zu handeln, ihn in seiner Ehre zu kränken. Er habe im Gegenteil seine Hochachtung zum Ausdruck bringen wollen.“
Max Hellman wurde wegen Verstoßes gegen das Blutschutzgesetz zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt.
Als bei der vorangegangenen Durchsuchung seiner Wohnung ein Schreiben an Hitler vom 24.02.1936 vorgefunden worden war, kamen nach Aktenlage erstmals Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Leipziger Rechtsanwalts auf.
Der Inhalt dieses Briefes ist tatsächlich Ausdruck einer verzweifelten Selbstkasteiung eines deutschen Rechtsanwaltes, der sich zu Unrecht als Jude diffamiert fühlt.
Sein verstorbener Vater sei ein Fanatiker gegen das Ostjudentum1 gewesen.
Er soll gesagt haben:
„Die Ostjuden werden, wenn wir sie weiter so in Deutschland einziehen lassen, unser Deutschland verjuden und die deutschen Juden langsam entdeutschen.“
Der Vater habe seine deutsche Gesinnung an ihm ausgelassen. Deshalb erhielt er privaten Religionsunterricht in rein deutscher Sprache.
Im 16. Jahrhundert hätten zahlreiche Arier, um das Hebräische besser studieren zu können, die jüdische Religion angenommen. Das geriet dann jedoch in Vergessenheit. Zu diesen Menschen hätten die Vorfahren seines Vaters gehört. Anders sei dessen arisches Herz und seine deutsche Gesinnung nicht zu erklären. Max Hellmann bat Hitler, ihn „aus dem Judentum herauszunehmen“!
Und weiter schreibt er wörtlich:
„Und wenn ich – infolge Fehlens jeder Beweismittel – einen ablehnenden Bescheid erhalte, dann kann ich nur wünschen, daß es der medizinischen Wissenschaft bald gelingen möge, am lebenden Menschen die Herzen auszutauschen, so mein nur deutsch empfindendes Herz irgend einem Manne einzupflanzen, der auf der Straße feste ‚Heil Hitler!‘ brüllt und so wenig deutsch empfindet, daß er als arischer Deutsch-Germane erst noch geschult werden muß.“
Ein medizinisches Gutachten stellte „angeborene Anomalien, die sich vorwiegend auf dem Gebiete des Gemüts- und Willenslebens zeigen,“ fest. Warum sich derartige „angeborene Anomalien“ bei dem 54-jährigen vor 1933 in keiner Weise gezeigt haben, wird aber nicht ausgeführt.
Am 28. Januar 1938 wurde Max Hellmann dem Oberstaatsanwalt auf Anordnung der Gestapo Dresden zugeführt. Auf dessen Antrag erging am 01. Februar wegen der Zeugenladung Hitlers ein Haftbefehl wegen Vergehens nach § 2 Abs. 1 und 2 Heimtückegesetz.
Auch gegen diesen Haftbefehl legte der Leipziger Rechtsanwalt Beschwerde ein, die natürlich vom zuständigen Sondergericht Freiberg zurückgewiesen wurde.
In der Klageschrift stellt der zuständige Oberstaatsanwalt beim Sondergericht für das Land Sachsen fest:
„Im übrigen erheischen die selbst für einen Juden unerhörte Unverschämtheit und die kaum zu überbietende Dreistigkeit des Beschuldigten eine strenge Bestrafung.“
Der „Stürmer“ benutzte im März 1938 diese Vorgänge, um ein weiteres Mal unter der Überschrift „Jüdische Herausforderung“ ganzseitig gegen Juden seine infame Hetze zu betreiben.
Am 15. September 1938 – genau drei Jahre nach Verkündung der Nürnberger Gesetze – erging gegen Max Hellmann das Urteil des Sondergerichts. Unter dem Vorsitz von Landgerichtsdirektor Friesicke wurde er zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Zur Verbüßung der Strafe wurde Max Hellmann in die Strafanstalt Bautzen verbracht.
Am 04. April 1938 erhob der Generalstaatsanwalt beim Ehrengericht der Rechtsan-waltskammer Anklage wegen der gleichen Beschuldigungen. Am 28. Mai 1938 wurde ein Vertretungsverbot nach § 95 RRAO gegen Max Hellmann ausgesprochen. Mit Beschluß vom 12. Dezember 1938 wurde dieses Verfahren eingestellt, weil der Reichsjustizminister zwischenzeitlich die Zulassung aller jüdischen Rechtsanwälte zum 30.11.1938 zurückgenommen hatte.
Nach Verbüßung der Gefängnisstrafe wurde Max Hellmann in das Konzentrationslager Buchenwald verbracht, wo er am 13.10.1939 unter nicht bekannten Umständen den Tod fand. Als Todesursache ist vermerkt: „Lungenödem, Degeneration des Herzmuskels“. Die Urne wurde auf dem alten jüdischen Friedhof in der Berliner Straße beigesetzt.
Der im April 1938 geäußerte Wunsch Hitlers war damit wohl in zynischer Weise erfüllt. Max Hellmann war keine „besondere“ Behandlung zuteil geworden. Er teilte vielmehr das Schicksal Millionen anderer, die keine Deutschen mehr sein durften.
Erstveröffentlichung:
BRAK-Mitteilungen 2003, S. 113 ff.
- In Leipzig spielte die Auseinandersetzung mit dem Ostjudentum eine besondere Rolle. Am damals wichtigsten Messehandelsplatz mit dem Osten und dem internationalen Zentrum der Rauchwarenindustrie hatte sich die zweitgrößte jüdische Gemeinde Deutschlands, gemessen an der Zahl seiner ostjüdischen Mitglieder, gebildet.