dr. jur. Hubert Lang

Martin Drucker (1869-1947) - Lebenserinnerungen

Kapitel

  • Martin Drucker (1869-1947) – Lebenserinnerungen

I. Vorwort

Martin Drucker war insbesondere in den ersten drei Dekaden des vorigen Jahrhunderts einer der namhaftesten Anwälte Deutschlands. Besonders als Präsident des Deutschen Anwaltvereins hat er sich bleibende Verdienste erworben.
Sein Leben und Wirken geriet trotzdem weitgehend in Vergessenheit.
Sein Nachlass ist durch den Totalverlust seiner Kanzlei und durch die ebenfalls kriegsbedingte Vernichtung seiner Wohnung nur in geringen Teilen überliefert.
Die Lebenserinnerungen und die weiteren autobiografischen Schriften, die hier erstmals veröffentlicht werden, sind durch glückliche Umstände im Original erhalten geblieben.
Die Erinnerungen Martin Druckers sind wertvolle Dokumente der Zeit- und Personengeschichte. Sie sind bedeutsam für die deutsche Anwaltsgeschichte, wie auch für die Leipziger Stadtgeschichte.
Die Texte werden unverändert und vollständig abgedruckt. Nur dort, wo offensichtlich Schreibfehler vorlagen, wurde stillschweigend eine Korrektur vorgenommen. Um den typischen Sprachduktus zu erhalten, wurde das Manuskript auch nicht den heute geltenden Rechtschreibregeln angepasst.
Die unvollendet gebliebenen Lebenserinnerungen werden durch ein Nachwort ergänzt. Erwähnte Personen werden, soweit heute noch ermittelbar, in Kurzbiogrammen im Anhang näher vorgestellt.
Die handschriftlichen Manuskripte wurden durch Renate Drucker aus dem Nachlass ihres Vaters zur Verfügung gestellt. Sie hat auch unermüdlich zur Entzifferung der Handschrift beigetragen.
Zu ihren Ehren erscheinen aus Anlass ihres 90. Geburtstages diese Lebenserinnerungen.

Leipzig, den 11. Juli 2007

Hubert Lang

II. Lebenserinnerungen

Geboren bin ich am 06. Oktober 1869 in Leipzig und zwar in einem, wie mir erzählt worden ist, damals recht „herrschaftlichen“ Miet­hause der langen Nürnberger Straße[1] nächst dem Bayerischen Bahnhofe, das allerdings im Laufe der Jahrzehnte an der durchgreifenden Verhäßlichung jener Stadtgegend kräftig teilgenommen hat.
Ich bin in meinen Mannesjahren oft vorbeigegangen, habe mich aber nie überwinden können, das Gebäude zu betreten oder gar die Stätte, da meine Wiege stand, aufzusuchen. Dazu besaß ich wohl zuwenig hi­storischen Sinn und vielleicht zuviel Abscheu vor herabgewohnten Behausungen.
Nicht um widerlicher Rassenschnüfflerei ein paar Brocken hinzuwer­fen, sondern lediglich als Beitrag zur Familiengeschichte will ich über meine Abstammung Einiges hier festhalten.
Mein Vater Martin war als Sohn eines in Deutschland lebenden jüdi­schen Ehepaares am 30.07.1834 in Magdeburg geboren. Sein Vater hatte früher Michael Siegmund Levy Holländer geheißen. Der Zuname war eine Herkunftsbezeichnung. Denn der Vater meines Urgroßvaters war aus den Niederlanden nach Deutschland eingewandert und Hofjude beim Kurfürsten von Hessen in Kassel geworden.
Bei welchem Anlasse und aus welchen Gründen der Name Drucker an die Stelle des früheren Zunamens getreten ist, habe ich nie erfahren können.[2] Aber eine besondere Beziehung zu Holland muß dabei im Spiele gewesen sein. Denn dort ist der Name Drucker nicht selten, scheint sich auch von Holland aus in das Rhein- und Maingebiet ver­breitet zu haben.[3]
Die meisten holländischen Juden sind bekanntlich Einwanderer aus Spanien gewesen, wo man sie vertrieben hatte. Dorthin werden die Ursprünge meiner väterlichen Familie zu verlegen sein.
Meine Großmutter dagegen stammte aus Frankfurt a.d.O., demnach vielleicht aus einer von Osten eingewanderten Familie. Sie führte den alten Namen Fraenkel oder, nach einer Heiratsurkunde, früher Moses[4]. Die Ehe meiner Großeltern väterlicherseits war sonach die Verbindung von Angehörigen der beiden großen, geschichtlich, kultu­rell und auch rituell vielfältig unterschiedenen Gruppen, in die das abendländische Judentum zerfiel.
Der Vater meiner Mutter, Karl Klein, war in Altenburg zur Welt ge­kommen. Dorthin war sein Vater oder schon sein Großvater aus Stet­tin eingewandert. Deutschblütig war er zweifellos, höchstwahr­scheinlich auch norddeutscher Herkunft, ob gerade aus Pommern, ist nicht aufgeklärt.
Meine Großmutter[5] gehörte einer schon seit mehreren Generationen in Altenburg nachweisbaren Familie an, deren Stammesnamen Dölitzsch auf slawischen Ursprung hinweist.
Es ist demnach nach „Rasse“ und Stamm verschiedenes Erbgut, das wir sieben Geschwister Drucker, von denen allerdings der älteste Bruder Emil[6] schon im Alter von drei Jahren gestorben war, mitbekommen ha­ben. Inwieweit dadurch unser körperlicher Habitus und seine Lei­stungen beeinflußt sein mögen, läßt sich niemals ermitteln und ist auch völlig gleichgültig.
Für die geistigen Fähigkeiten und die Charakteranlagen kommt die Abstammung nicht in Betracht, denn sie vererben sich in aller Regel nicht. Das spreche ich mit aller Entschiedenheit aus. Wäre dem an­ders, so müßten die Nachkommen eines Poeten oder Komponisten dich­terische oder musikalische Leistungen aufweisen, die Kinder und En­kel von Dieben und Betrügern zum Stehlen und Fälschen geneigt sein, Feiglinge Angstmeier erzeugen.
Es ist ebenso wenig richtig, daß die Zugehörigkeit zu einem be­stimmten Volksstamm die geistige oder sittliche Konstitution des Einzelnen entscheidend beeinflußt. Ein friesisches Fischerkind, vom unbewußten Säuglingsalter an im abgelegenen Alpendorfe unter bayri­schen Holzfällern erzogen und aufgewachsen, nimmt deren Weltbild mit seiner Begrenzung und seinen sittlichen Hintergründen in sich auf und würde, in die nicht erlebte eigentliche Heimat zurückge­kehrt, dort fremd und gegensätzlich wirken und sich empfinden.
Welche angeblich „jüdische“ Mentalität weist der Abkömmling einer seit 100 Jahren in Deutschland heimischen, zur christlichen Reli­gion übergetretenen Familie auf, der, durch Gymnasium und Universi­tät hindurchgegangen, eine Professur für Literatur oder Mathematik bekleidet? Die geistige und sittliche Persönlichkeit des Menschen wird durch seine Umwelt und seine Schicksale geformt, nicht durch die Ahnen.
Ganz ohne Beziehung auf mich will ich Einiges von meinen Großeltern erzählen. Meines Vaters Mutter und meiner Mutter Vater habe ich nicht gekannt. Die erstere war gestorben, als mein Vater kaum acht Jahre alt war. Auf einem der Miniaturbilder, die einige meiner Vor­eltern darstellen, erscheint sie als eine Frau von großer Schön­heit; auffällig ist die Fülle ihres schwarzen Haares. Es war, wie mein Vater es beschrieb, so lang und so dicht, daß sie sich darein wie in einen Mantel hüllen konnte. Über ihr Wesen habe ich nicht viel erfahren, weil mein Vater bei ihrem Tode noch zu sehr Kind war, um sich darüber Rechenschaft geben zu können. Aber eine be­deutsame Tatsache ist zuverlässig überliefert.
Weil in Folge andauernden schweren Leidens meine Großmutter ihre beiden kleinen Söhne nicht im Hause behalten konnte und sollte, wurden sie zur Erziehung in das Haus eines evangelischen Geistli­chen in einem braunschweigischen Dorfe verbracht. Ein ebenso für diesen Pfarrer wie für meine Großeltern ehrenvolles Zeugnis vornehm freisinniger Denkweise im Anfang der 40er Jahre des vorigen Jahr­hunderts. Proselyten zu machen, war nicht das Ziel des trefflichen Mannes.
Mein Vater ist erst nach Jahren zur evangelisch-lutherischen Kirche übergetreten.[7]
Mein Großvater, Karl Klein, geboren am 28. Februar 1800 oder 1802[8] war Advokat und Notar in Leipzig und dort sehr angesehen, wie seine langjährige Stellung als Stadtverordnetenvorsteher[9] bezeugt. Sein Bild, besonders der Ausdruck der Augen und der Mund, verrät wohl jedem Physiognomiker den kühlen, überlegenen Juristen. Im Familien­leben war er streng und hielt bei seinen Kindern auf tadellose Auf­führung in und außer dem Hause. Politisch bekannte er sich zu einer konstitutionell gemäßigten Demokratie, achtete aber auch andere ehrliche Überzeugungen.
Meine Großmutter hat uns oft erzählt, wie er mit ihrem Bruder, dem alten 48er Arthur Dölitzsch[10], der ein Republikaner ohne Kompromiß geblieben war, lange politische Auseinandersetzungen führte, in de­nen niemals ein Mißton aufklang. Gestorben ist mein Großvater schon 1862[11].
Seine Witwe, meine am 17. November 1807 geborene Großmutter, Kon­stanze, ist die Begleiterin unserer Kinderjahre bis zu ihrem zu Pfingsten 1887 (31. Mai) erfolgten Tode gewesen. Sie hatte einige Zeit nach dem Hinscheiden ihres Mannes die eigene Wohnung aufgege­ben und lebte abwechselnd in den Haushaltungen ihrer drei verheira­teten Töchter in Altenburg[12], Leipzig und Minden[13] in Westfalen, am meisten und längsten bei uns. In Leipzig hatte sie nicht nur ihre Freundinnen, alte Damen von einer etwas wunderlichen Grandezza, sondern auch eine sechsköpfige Enkelschar, der sie sich mit herzli­chem Behagen widmete. Ihren Stolz setzte sie darein, daß wir Ge­schwister möglichst nur solche Strümpfe tragen sollten, die sie selbst gestrickt hatte, nicht das gekaufte „neumodische Zeug“. Da sie im Stricken märchenhafte Leistungen vollbrachte, hat sie ihren Willen zum großen Teile durchgesetzt.
Aber mehr als unsere Kinderbeine haben unsere Kinderseelen von ihr empfangen. Sie war eine ausgezeichnete Erzählerin von ihr selbster­fundener Geschichten. Das waren nicht Märchen mit Zauberern oder Wundern, sondern Schilderungen aus dem täglichen Leben der Men­schen, stets in eine bald ernste, bald lustige Pointe auslaufend, nicht aber in ein moralisierendes Quid haec fabula docet[14]. Wir Ge­schwister und manche unserer Spielgefährten haben diesen schmucklo­sen und doch stofflich so reichen Erzählungen stundenlang mit glei­cher Spannung gelauscht wie in späteren Jahren der Erstaufführung eines bedeutenden Bühnenstücks.
Ich entsinne mich, daß im Deutschunterricht auf dem Gymnasium ein­mal die Aufgabe gestellt wurde, eine Erzählung niederzuschreiben, die wir gelesen oder gehört hätten. Da fiel mir eine der Großmut­tergeschichten ein, die vor Jahren mich gefesselt hatte; ich gab sie aus der Erinnerung mit den Worten der Großmutter wieder. Der Lehrer sprach hohe Befriedigung darüber aus und erkundigte sich nach meiner Quelle. Ich nannte sie und mußte ihm allerlei über die aus dem Vollen schöpfende Erdichterin berichten.
An meinen Großvater väterlicherseits[15] bewahre ich die zuverlässige Erinnerung, daß ich bisweilen auf seinen Knien sitzend am Fenster seiner in der Nonnenmühlgasse gelegenen Wohnung auf die Straße her­untergeblickt habe und von ihm über die beobachteten Vorgänge be­lehrt worden bin. Einzelheiten sind in meinem Gedächtnisse nicht haften geblieben, bin ich doch damals erst drei bis vier Jahre alt gewesen. Aber ich muß diesen Großvater doch fest in mein Herz ge­schlossen haben. Denn ich weiß genau, daß ich im August 1874 mit meiner Mutter bei deren Bruder, Dr. August Klein[16], in Süchteln auf­hältlich war und dort aus den Gesprächen der Erwachsenen erfuhr, daß mein Vater sich nach Leipzig begeben habe, weil der Großvater gestorben sei.
Da schlich ich mich aus dem Familienzimmer hinaus und wurde dann in einem dunklen Raum angetroffen, wo ich bitterlich weinte, weil mein guter Großvater nicht mehr lebe. Diese Vorgänge sind niemals wieder von irgend einer Seite mir gegenüber erwähnt, also nicht auf sol­chem Wege in meiner Erinnerung lebendig erhalten oder auch nur auf­gefrischt worden, sondern haben sich durch die seitdem verstriche­nen, mehr als sieben Jahrzehnte in meinem Bewußtsein als eigenes Erlebnis erhalten.
Was ich sonst noch von diesem Großvater weiß, verdanke ich fast ausschließlich Mitteilungen meines Vaters. Es mag dazu dienen, mei­nen Kindern und Enkeln ein skizzenhaftes Ahnenbild vor Augen zu stellen.
Mein Großvater hatte etwa um 1843 in Leipzig mit einem Juden fran­zösischer Abstammung eine Seidenhandlung unter der Firma Leppoc & Drucker gegründet. Dieses Unternehmen in der damals vornehmsten Handelsverkehrsstraße, der Katharinenstraße[17], gewann rasch Ansehen und Bedeutung. Ein Zeichen des fortschrittlichen Kaufmannsgeistes, der meinen Großvater beseelte, ist sein Entschluß gewesen, sich zum Einkauf selbst nach der Türkei zu begeben. Solche Reisen waren in jener Zeit ebenso beschwerlich wie gefährlich. Sie konnten auf lan­gen Strecken, so in den Balkangebieten nur zu Pferde ausgeführt werden.
Das hat mein Großvater mehrere Male getan. Wunderbarerweise ist ihm nie Ernstliches zugestoßen. Aber ehe er mit den Sitten jener östli­chen Landstriche genügend vertraut war, hat ihm seine Unkenntnis des dortigen zivilisatorischen Brauchtums manchen Streich gespielt. Auf dem ersten Ritt durch Nordgriechenland wurde in einer Herberge ihm ein Huhn als Mahlzeit angeboten. Solcher Unterbrechung des lan­desüblichen Schaffleisches froh, ließ er sich den Vogel braten. Als aber sein Messer die knusprig aussehende Speise zerteilte, verging dem Hungrigen der Appetit. Im Inneren des Hühnchens fanden sich alle Eingeweide vor. Daran stieß sich die griechische Gourmandise nicht.
Bei der Rückkehr von einer dieser Orientreisen traf der Großvater die Stadt Leipzig in heller Aufregung an. Das altberühmte Hotel de Pologne in der Hainstraße stand in Flammen und gefährdete infolge seiner Größe die Innenstadt beträchtlich[18]. Aber man wurde des Feuers Herr. Als der Druck der Angst von der Einwohnerschaft gewichen war, schlug die Stimmung um, wie es bei solchen Ereignissen gewöhnlich zu geschehen pflegt. Man erzählte sich allerlei Anekdoten von der Brandstätte.
Ein Mann, der aus einem oberen Stockwerke an einem Blitzableiter oder am Fallrohr herabgeklettert war, soll auf die Frage, welche Gedanken er auf diesem halsbrecherischen Wege gehabt habe, erwidert haben: „Als ich an der zweiten Etage herunterrutschte, dachte ich: „Sieh da, die Müllern hat auch noch Licht!“
Dieses Histörchen trägt den Stempel der Erfindung an sich. Nicht so ein anderes, das die Entdeckung des Feuers zum Gegenstand hat. Ein Hotellehrling hatte bemerkt, vielleicht fahrlässig verursacht, daß im Keller ein Spiritus enthaltendes Gefäß in Brand geraten war, und rannte nach oben, um das Unheil zu melden. Da er aber mit einem Sprachfehler behaftet war, vermochte er vor Aufregung kein ver­ständliches Wort herauszubringen. Mehrmals setzte er an, kam aber ein paar gestammelte Silben nicht hinaus. Da herrschte ihn ein an­wesender Polizeidiener, der vermutlich berufliche Erfahrungen mit Stotterern gemacht hatte, energisch an: „Wenn Du’s nicht sagen kannst, so sing es doch!“ Und nun erklang nach der geläufigen fröh­lichen Weise des Liedes vom Jungfernkranz die Meldung:

„Der Spiritus im Keller brennt
und alles steht in Flammen …“ –

Die Reisen meines Großvaters trugen goldene Früchte und verschaff­ten der Firma auch außerhalb ihres Sitzes viele Kunden. Darunter mischten sich auch zahlreiche polnische und russische Juden, die ihre Fahrten zur Leipziger Messe benutzen, um bei „Leppoc & Druc­ker“ seidene Tücher und andere Manufakturwaren einzuhandeln, die sonst nur schwer und zu höheren Preisen, als der direkte Import zu­ließ, erhältlich waren.
Erwünscht waren dies Aufkäufer wegen ihrer allzu östlichen Gewohn­heiten gerade nicht. Aber sie wurden nicht minder gewissenhaft be­dient, als die gewichtigen Kaufleute, die sich bei Leppoc & Drucker um Orientware bemühten. Die Denk- und Ausdrucksweise jener kleinen Leute wurde bisweilen durch komische Szenen bloßgelegt.
So trat einmal einer der polnischen Juden in den Verkaufsladen und verlangte seidene Schals zu sehen. Da diese Ware auf dem obersten, vom Fußboden aus nicht erreichbaren Regalbrett lag, wendete mein Großvater sich an einen Lehrling mit der Anweisung: „Geben Sie ihm eine Tritt!“ Das verstand der Kaufliebhaber falsch. „Wie heißt Herr Drucker, hab ich doch noch gar nicht geboten!“ Er glaubte sich durchschaut.
Ein andermal erschien ein besonders unerfreuliches Exemplar jenes Menschenschlags, schmierig, verwahrlost und eine widerliche Atmo­sphäre um sich verbreitend. Das war meinem Großvater zuviel. Er schreckte vor der üblen Erscheinung zurück und sagte verächtlich: „Pfui, Jeiteles, wie riecht Ihr!“ Darauf die spitzfindige Antwort: „Sie irren, Herr Drucker, Sie riechen, ich stink!“
Das Wachstum des Seidenhauses Leppoc & Drucker vergrößerte sich in solchem Umfange, daß die Inhaber den großen Schritt wagten, eine Einkaufsfiliale in Hongkong zu errichten. Von dort aus importierten sie unter Echtheitsgarantie chinesische Seidenstoffe und andere asiatische Textilien. Aber der Leiter dieses Zweiggeschäfts, meines Vaters einziger Bruder Heinrich[19], war vielleicht doch als Kaufmann den Schlichen und Kniffen der fernöstlichen Geschäftspartner nicht gewachsen.
Nach mehreren erfolgreichen Jahren erlitt die Hongkongfiliale ge­waltige Verluste. Aus alten Geschäftsbriefen meines Onkels, die ich vor Jahrzehnten selbst gelesen habe, die aber inzwischen durch Brand zugrunde gegangen sind, ist zu entnehmen, daß er das Opfer eines groß angelegten Betrugs geworden war. Die englischen Behörden in Hongkong sorgten nicht für Wiedergutmachung, waren dazu viel­leicht auch nicht imstande oder nicht geneigt, denn die Erschütte­rung des deutschen Eindringlings auf den östlichen Markt kam ihnen wohl nicht unerwünscht. Deshalb wurde das Hongkonggeschäft liqui­diert.
Den Ersatz des Schadens übernahm mein Großvater gegenüber seinem Sozius allein, ohne rechtliche und nicht einmal mit moralischer Verpflichtung, sondern lediglich in übervornehmer Bewertung der Tatsache, daß sein Sohn der Geschäftsführer gewesen war. So dachte und handelte mein Großvater, der Handelsjude! Die Summe, mit der er den Sozius schadlos hielt, betrug nicht weniger als 100.000 Taler. Es war der größte Teil seines Vermögens. Deshalb war nach seinem Tode der Erbteil meines Großvaters unbeträchtlich, zumal der Groß­vater eine Witwe[20] und aus einer zweiten Ehe zwei Kinder[21] hinterließ.
Ich bin nicht darüber unterrichtet, wie lange die Firma Leppoc & Drucker bestanden hat. Vermutlich ist sie, nachdem auch Leppoc ohne Hinterlassung eines Sohnes verstorben war, liquidiert worden, weil keine der beiden beteiligten Familien einen Nachfolger stellen konnte, denn auch mein Onkel Heinrich hatte sich anderen Aufgaben zugewendet und starb zu San Franzisko im besten Mannesalter.
Aber auf den Nimbus, der die Firma umgeben hatte, bin ich noch in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts aus berufenem Munde hinge­wiesen worden. Bei irgendwelchem gesellschaftlichen Zusammentreffen kam Kommerzienrat Georg Becker, Chef des bedeutenden Leinenhauses, Carl Aug. Becker, der etwa 10 Jahre älter als ich war, mit Stolz auf die frühere Kaufmannschaft unserer gemeinsamen Heimatstadt zu sprechen. „Ja, rief er aus, wenn ich nur an die Katharinenstraße denke, was wohnten dort nebeneinander für Firmen. Da las man Leppoc & Drucker, Hermann Samson, Carl Aug. Becker.“ Er nannte noch einige andere. Aber in mir ließen seine Worte noch einmal das Bild des kühnen und gerechten Handelsherrn entstehen, meines Großvaters Siegmund Drucker. Sein Grab auf dem jüdischen Friedhof in Leipzig habe zuletzt ich pflegen lassen, bis diese Kultstätte von der Nazi­meute 1938 verwüstet wurde.[22]
Wenn nun der Rückblick auf meine Vorfahren sich bis zu meinen El­tern herangeschoben hat, so steigen Hemmungen in mir auf und Zwei­fel, ob es sich einerseits mit den Erfordernissen der Unbefangen­heit, zum anderen mit dem Imperativ der Pietät in Einklang bringen läßt, das Lebens- und Charakterbild der eigenen Eltern aus dem Schrein des Herzens herauszuholen und zur Schau zu stellen. Ich entscheide mich dafür, dem Wunsche meiner Kinder und meiner Schwie­gertochter mich zu fügen. Maßgebend ist die Einsicht, daß ohne meine Niederschrift meinen Enkeln die Urgroßeltern fast so fremd bleiben würden, wie zu meinem Leidwesen die meinigen mir. Und da ich fest entschlossen bin, die zu berichtenden Tatsachen nicht durch Sentiments überwuchern zu lassen, wird sich irreführendes Verzeichnen vermeiden lassen.
Meine Mutter Marie, am 19. Dezember 1841 in Leipzig geboren, hat im Kreise von fünf oder sechs Geschwistern[23] die Jugend eines Stadtkin­des aus einer in geordneten und auskömmlichen Verhältnissen leben­den höheren Bürgerfamilie verbracht, ohne daß bemerkenswerte Erei­gnisse überliefert wären. Es hat damals in Leipzig unter der Be­zeichnung Ratsfreischule[24] – das Gebäude steht heute noch am Flei­scherplatz – eine Schule gegeben, die nicht etwa, wie der Name an­zudeuten scheint, für Bedürftige bestimmt war, sondern in der die Kinder der städtischen Beamten und Angestellten kostenlos unter­richtet wurden. Vermutlich genossen die Kinder meines Großvaters dieses Benefizium infolge seiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Vor­steher der Stadtverordneten. Diese Ratsfreischule ist unter Leitung eines hervorragenden Direktors, mit dessen Tochter meine Mutter und ihre Schwestern eine bis zum Tode gepflegte, herzliche Freundschaft verbunden hat, offenbar eine ausgezeichnete Unterrichtsanstalt ge­wesen, die weit über den gewöhnlichen Schulbetrieb hinaus Kennt­nisse vermittelte und wohl mindestens das Bildungsziel der späteren Höheren Bürgerschule erstrebte.
Noch in meinen Gymnasialjahren habe ich wahrgenommen, wie gut meine Mutter in deutscher Literatur beschlagen war und wie mühelos ihre Allgemeinbildung ihr ermöglichte, mir sogar meine lateinischen Lernaufgaben abzuhören. Neben dem Schulunterricht war meine Mutter auch im Klavierspiel ausgebildet worden. Mit meinen Geschwistern und mir hat sie viel vierhändig gespielt, später aber das Spiel liegen las­sen müssen, weil ihr die Mühen des großen Haushalts, der in der Re­gel aus 11 Personen bestand, keine Zeit ließen.
Als meine Mutter etwa 14 Jahre alt geworden war, errichtete der durch die Gründung der Schrebergärten in Deutschland unsterblich gewordene Pädagoge Dr. Schreber eine Privatturnanstalt, die nament­lich auch das damals erst aufkeimende Mädchenturnen pflegen sollte. Mein Großvater ließ seine Töchter dort eintreten. Diese Turnerei meiner Mutter halte ich beileibe nicht für einen wichtigen Vorgang in ihrem Leben, sondern erwähne sie, weil der Besuch jener Turn­kurse sich in einer für die gesellschaftlichen Auffassungen meiner Großeltern bezeichnenden Weise abwickelte.
Die Familienwohnung lag mit der „Expedition“ (so hieß man damals die Geschäftsräume der Advokatur, ehe mit der 1879 sich mehr und mehr durchsetzenden Verpreußung der Ausdruck Rechtsanwaltsbureau sich einbürgerte) vereinigt, in der Katharinenstraße[25], die Schre­ber’sche Anstalt in der Zeitzer an der Ecke der Hohen Straße, etwa eine Viertelstunde entfernt. Aber – außerhalb der Stadt, vor dem Peterstor, das sich am Ausgang der Petersstraße dort, wo nach Nie­derlegung der alten Peterskirche (in der ich 1885 konfirmiert wor­den bin) das Gebäude der Reichsbankhauptstelle errichtet worden ist. Von diesem Orte bis zur damaligen Schreberschen „Orthopädi­schen Schule“ geht man jetzt etwa fünf Minuten. Aber allein durften die Mädchen aus anständiger Bürgerfamilie die Stadt nicht verlas­sen. Ihnen mußte ein Advokatenschreiber meines Großvaters in ange­messenem Abstand folgen und sie ebenso wieder heimwärts geleiten. So wollten es die Gebote der Schicklichkeit selbst noch in den Jah­ren nach 1848.
Kennen gelernt hatten meine Eltern sich im Hause meines Großvaters, bei dem mein Vater nach dem juristischen Staatsexamen als Hilfsar­beiter, wie man heute sagen würde, Referendar, oder damals wohl sagte Auskultator[26], beschäftigt war. Aber erst, nachdem diese Tätig­keit längst beendet, mein Großvater auch 1862 gestorben war, ist am 28. Februar 1865 die Ehe geschlossen worden. Sie ist ein reiner Neigungsbund gewesen, und das soll hier aus meiner und aller meine Geschwister fest gegründeten Überzeugung froh und stolz ausgespro­chen werden, geblieben, bis sie nach nahezu 50jähriger Dauer durch den Tod meines Vaters am 15. November 1913 gelöst wurde. Wohl uns, daß unsere Eltern uns eine solche Ehe vorgelebt haben!
Freilich hatten wir nicht immer eitel Sonnenschein gestrahlt. Auch Leid und Sorge hat sich eingestellt, schon in den ersten Jahren. Am 25.[27] März 1866 war das erste Kind geboren worden; nach meines Vaters Mutter wurde ihm der Vorname Emil gegeben. Dieser mein Bruder, des­sen Bilder in einem überaus schönen Gesicht ein großes ausdrucks­volles Augenpaar zeigen, erkrankte im April 1869 an Diphtherie, die ihn nach wenigen Tagen (11. April 1869) hinwegraffte. Unter diesem Schicksalsschlage hat meine Mutter unbeschreiblich schwer gelitten. Das haben meine am 23. Februar 1868 geborene Schwester Johanna und ich in unseren Kinderjahren deutlichst bemerkt. Wir selbst hätten in unserer frühsten Jugend sicherlich keine echte Trauer über den Tod des Bruders empfunden, zumal ich erst geraume Zeit später ge­boren war. Aber aus der ersten Zeit erwachenden Verständnisses weiß ich noch ganz deutlich, daß um jenes Ereignis der dunkle Schleier ärgsten Herzeleids sich unzerreißbar webte. Wenn die Mutter bei be­sonderen Gelegenheiten, etwa an Emils Geburts- oder Todestag oder als sie für uns das Weihnachtsfest rüstete, uns von dem dahingegan­genen Bruder Liebes und Gutes erzählte, so vermochte sie die sie ergreifende Erschütterung unseren scharfen Kinderaugen nicht zu verbergen und in unserer Gemüter trat Trostlosigkeit. Wir haben uns immer gescheut, den Vornamen Emil, auch wenn er einem fremden Kind eignete, auszusprechen, als ob wir schon dadurch an den Schmerz un­serer Mutter rührten, der zu unserem eigenen Schmerz geworden war. Vielleicht hat meine Mutter den Heimgang ihres Kindes deshalb nicht zu verwinden vermocht, weil er durch seltsame Geschehnisse in über­sinnliche Unheimlichkeit verflochten zu sein schien.
Adelheid, die älteste Schwester meiner Mutter, war an den Arzt Dr. Gustav Rothe in Altenburg verheiratet, der, nachdem er im Jahre 1848 als Pfarramtskandidat wegen angeblich hochverräterischer Um­triebe Deutschland hatte verlassen müssen, in Nordamerika den ärzt­lichen Beruf ergriffen und mehrere Jahre ausgeübt, dann aber nach seiner Rückkehr auch in Deutschland Medizin studiert und die Appro­bation sowie den Doktortitel erlangt hatte. Diese doppelte Ausbil­dung hatte ihm ungewöhnlich weitgespannte Kenntnisse verschafft, die ihn in Verbindung mit vorzüglichen Charaktereigenschaften recht bald zu bestem Ruf und ausgedehnter Praxis kommen ließen. Ende der 60er Jahre und noch lange danach war in Deutschland die Diphtherie wohl der gefürchtetste, weil erntereichste Würgeengel der Kinder.
Rothe, mit der damaligen Therapie unzufrieden, grübelte nach einer neuen, wirksameren Behandlungsweise, meines Wissens in Anleh­nung an Gedanken, die er aus Amerika mitgebracht hatte. Aber, ehe seine Forschungen und Versuche sich zum Erfolge verdichteten, wurde sein einziges Kind, Lissy, kurz vor Vollendung des 3. Lebensjahres von der furchtbaren Krankheit befallen und erlag ihr alsbald.
Deshalb war meine Mutter, als bei Emil nach dem dritten Geburtstage die Diphtherie auftrat, von Anfang an in nur zu berechtigter banger Sorge gewesen. Und auch ihr Kind vermochte Gustav Rothe, der den Leipziger Ärzten zur Seite trat, nicht zu retten. Die Parallelität mit dem Schicksal der älteren Schwester wendete den eigenen Kummer in hintergründiges Grübeln. Diese Seelenqualen teilten sich auch anderen Familienmitgliedern mit. Die jüngere Schwester meiner Mut­ter, Elise, seit 1870 mit dem Fabrikbesitzer Hermann Rocholl in Minden (Westfalen) verheiratet, schrieb, als ihre erstgeborene Tochter Charlotte das dritte Jahr vollendet hatte, an meine bei uns in Leipzig wohnende Großmutter, daß sie mit Furcht und Zittern in ihres Kindes viertes Lebensjahr eingetreten sei und Gott danken wolle, wenn es ohne Verwirklichung ihrer Ängste vorübergehe. Aber ihre Hoffnung war eitel: auch Lotte Rocholl fiel im vierten Lebens­jahr, wie Lissy Rothe und Emil Drucker, der Diphtherie zum Opfer. In diesem grausigen Gleichtritt des Verhängnisses fehlt für ratio­nelle Erkenntnis jeder Zusammenhang. Aber nach einem solchen suchen und rätseln unwillkürlich die schweifenden Gedanken.
Wenige Jahre nach diesen Geschehnissen war unserem Onkel Gustav Ro­the vergönnt, seine Studien über Diphtheriebehandlung mit durch­schlagendem Erfolge belohnt zu sehen. Er hatte eine Serumbehandlung geschaffen, die zwar später von anderen erheblich weiter ausgebaut und verbessert worden ist, aber ihn in den Stand setzte, zahllose Kinder, fremde Kinder!, zu retten. Als bald danach ein medizini­scher Kongreß nach London einberufen wurde, war Dr. Gustav Rothe aus der kleinen deutschen Stadt Altenburg unter den Geladenen und wurde der Versammlung von dem berühmten Arzt Lord Lister als der Mann präsentiert, der sich um die Bekämpfung der Diphtherie unver­gängliche Verdienste erworben habe.
Das Leid meiner Mutter um Emils Hinscheiden brach noch einmal in erschütternder Schreckhaftigkeit durch. Das kleine Grab befand sich am Hauptwege der vierten Abteilung des Neuen Johannesfriedhofs, schräg gegenüber der Grabstätte des Großvaters Klein, die später auch die Großmutter aufgenommen hat. Meine Mutter nahm häufig meine Schwester Hanna und mich zum Besuche des liebevoll gepflegten Hü­gels mit. Einmal aber, als sie allein hinausging, es wird um 1880 gewesen sein, fand sie das Grab nicht mehr vor! Zunächst glaubte sie wohl, versehentlich in eine andere Abteilung des langgestreck­ten Friedhofs geraten zu sein. Aber die Nachbarschaft der väterli­chen Ruhestätte behob diesen Irrtum. Die Augen der völlig verstör­ten Frau suchten erneut die wohlbekannte Stätte auf: da fand sie die ihr geläufig gewordenen Namen auf den Tafeln der benachbarten Grä­ber, aber dort, wo Emil zur Ruhe gebettet worden war, zeigte sich ein fast frischer Hügel mit dem Namen eines anderen Kindes! Meine entsetzte Mutter brachte die grausige Wahrnehmung zu meinem Vater. Als er sich von der Richtigkeit der zunächst kaum glaublichen Mit­teilung überzeugt hatte, verlangte er Rechenschaft von der Fried­hofsverwaltung. Die Erörterungen ergaben ein geradezu beispiello­ses Versehen, eine gröbste Leichtfertigkeit untergeordneter Fried­hofsangestellter. Ein in der Nähe befindliches älteres Grab hatte nach Ablauf der Belegungszeit, da Erneuerung nicht verlangt worden war, den Bestimmungen gemäß aufgelassen werden sollen. Mit ihm war Emils Hügel verwechselt worden! Die Friedhofsbehörde selbst war über diese Liederlichkeit empört. Sie versuchte die Eltern des neu bestatteten Kindes zu Aufgabe des Grabes zu veranlassen – sie lehn­ten ab; Zwang kam nicht in Frage, weil ihnen die Stelle auf zwanzig Jahre verbrieft war. Auch meinen Eltern ging die Inbesitznahme des entweihten Grabes oder die Einrichtung eines neuen an einer anderen Stelle gegen alles Gefühl. So blieb es bei der amtlichen Grabschän­dung und bei der brennenden Wunde, die namentlich meiner Mutter zu­gefügt worden war.
Soll ich nun vom Leben, Wesen und Wirken meines Vaters in diesen Blättern aufzeichnen, was ich darüber erfahren und selbst wahrge­nommen habe, so muß ich besorgen, daß die Fülle der Erinnerungen den Rahmen dieser Niederschrift sprengen werde, deren Zweck doch nur sein kann, den Enkeln und Urenkeln ein Abriß der Familienüber­lieferung und Umrißzeichnungen von Ahnenbildern zu hinterlassen. Es ist auch mißlich, daß meinem Berichte, dem kein systematisches Quellenstudium zugrunde liegt, die historische Geschlossenheit und Einheitlichkeit fehlen muß und er nur aus Miszellen bestehen kann, die wegen ihrer spontanen und regellosen Herkunft aus meinem Ge­dächtnisse nicht im zutreffenden Wertverhältnisse zu einander und zum Ganzen der berührten Lebensläufe stehen. Wer dies disiecta mem­bra[28] aneinanderzufügen unternimmt, wird nur einen Torso erzielen, und wohl jeder Versuch einen anderen. Die Ergänzung zur Statue bleibt, wie in der Skulptur, im Nachdenken und der Phantasie an­heimgestellt.
Mein Vater hat in Leipzig die Thomasschule besucht, auch in jener Zeit ein Kleinod unter den Gymnasien. Er war Abiturient von Michae­lis 1851. Sein Wunsch war Musiker zu werden. Dazu war er ungewöhn­lich gut veranlagt. Er besaß das absolute Gehör, sang sehr schön und spielte so ausgezeichnet Geige, das er trotz seiner Jugend auf Veranlassung seines Lehrers Rietz, der als Mendelssohns Nachfolger in der Leitung des berühmten Leipziger Konservatoriums in die Mu­sikgeschichte eingegangen ist, bisweilen aushilfsweise im Theater­orchester mitwirkte. Aber der Beruf eines Künstlers entsprach nicht den von meinem Großvater vertretenen Grundsätzen bürgerlicher Soli­dität. Sie haben damals noch sehr weite Verbreitung gehabt. Mein Vater erzählte uns schmunzelnd ein allerliebstes Histörchen, daß er auf der Thomasschule erlebt hatte. Als dort ein Schüler vorzeitig abging, wurde er von einem alten Professor in fast verächtlichem Tone gefragt: „Was will denn D.[29] nun werden?“ Auf die Antwort: „Ich will mich der Musik widmen“ wurde er mit den Worten verabschiedet: „So, so. Aber das sage ich D.: in meinen Hof kommt er mir nicht!“ Wenige Jahre danach zählte D. zu den bekanntesten Pianisten Deutschlands.
Derart amusisch wie seine dünkelhaften Pauker, empfand mein Großva­ter nicht. Seine ablehnende Haltung gegenüber den Wünschen seines Sohnes entsprang der Sorge um dessen wirtschaftliche Zukunft. Der Sohn verschloß sich den Mahnungen des Vaters, dessen Lebensklugheit er vertraute, nicht; entsagte der Künstlerlaufbahn und ging nach Heidelberg, um Rechtswissenschaft zu studieren. Die Wahl gerade dieser Fakultät war ein Gebot seiner Geistesanlage. Ihm zu eigen war ein überaus kritischer Verstand, der die Grenzen der Begriffe und ihre Inhalte mit aller Schärfe zu erkennen und in Wort wie Schrift zu wahren wußte. Aber in ihm wurzelte auch ein sicheres Ge­fühl für Recht und Gerechtigkeit, daß ihm bis ans Ende seiner Tage treu geblieben ist. Nie hat er eine Sache vertreten, wenn nach sei­ner Überzeugung dem Klienten zwar das formelle Gesetz, aber nicht die Moral des Rechts zur Seite stand. Utilitätszugeständnisse auf diesem Gebiete der Entschlüsse hat er sich niemals gestattet.
In Heidelberg sprang er in das Corps Rhenania[30] ein, dasselbe, dem von der Wende des Jahrhunderts an sein und mein späterer Sozius Eckstein angehört hat. Aber er scheint dem Zwange des Verbindungser­lebens keinen rechten Geschmack abgewonnen zu haben, denn er hat sich nach nicht langer Zeit von dem Corps getrennt. Das ist in al­ler Freundschaft geschehen; Eckstein hat den Namen meines Vaters in den Listen der damaligen Corpsangehörigen gefunden. Ich glaube, daß die Abkehr vom Verbindungswesen unter dem starken Einflusse eines anderen Studenten erfolgt ist, den mein Vater in Heidelberg kennen­gelernt hatte, des rechtsbeflissenen Conrad Rieger aus Cöthen in Anhalt, der ihm einige Semester voraus war. Aus dieser Begegnung ist ein Freundschaftsbündnis von seltenster Innigkeit und Tiefe er­wachsen, das bis zu Riegers erst in diesem Jahrhundert eingetrete­nen Ableben gedauert und auf die beiden Familien sich erstreckt hat. Damals in Heidelberg traten die beiden Studenten sich aber nicht infolge der übereinstimmenden Berufswahl näher, sondern weil sie weitgehende Übereinstimmung in fast allen ihren Anschauungen entdeckt hatten und dabei auch auf die gleiche Liebe zur Musik ge­stoßen waren.
Ich will hier einschalten, daß der spätere Justizrat Conrad Rieger jahrzehntelang an der Spitze des Musiklebens seiner Vaterstadt Cöthen gestanden hat und daß es ihm zuzuschreiben ist, wenn es die ersten Künstler nicht verschmähten, in diesem kleinen Orte mit den­selben Programmen aufzutreten wie in Leipzig, Köln, Berlin und auf Reisen im Auslande. Ich selbst habe in Cöthen manchem ausgezeichne­ten Konzert beigewohnt und bei den sich daran anschließenden gesel­ligen Zusammenkünften einige Künstler von Weltruf in persönlichem Gespräche kennen gelernt.
Conrad Rieger wurde Jurist nicht aus innerer Berufung, sondern wohl deshalb, weil unter allen akademischen Laufbahnen die des Advokaten ihm als diejenige erschien, in der er die Freiheit seines Wesens am leichtesten werde behaupten können. In einem des Freundes Lebensge­schichte witzig glossierenden Hochzeitscarmen hat mein Vater Con­rads Berufswahl als Zufall erscheinen lassen. Das ist eine Über­treibung, aber so hübsch dargestellt, daß ein paar Verse hier wie­dergegeben sein mögen. Rieger sei, so schildert der Dichter, noch bis zur Stunde der Immatrikulation in größter Verlegenheit hin­sichtlich der zu wählenden Fakultät gewesen und habe unschlüssig in der Reihe der Angemeldeten geharrt. Aber:

Da wird ein anderer inskribiert
der sich als ictus prädiziert.
Riegerus denket: „I für mich!
da werde auch ein ictus ich.“
(Ictus = heute vergessene Abkürzung von iuris consultus.)

Die Heidelberger Semester meines Vaters sind, wie seine Kolleghefte beweisen, dem Studium in erster Linie gewidmet gewesen, aber auch mancher übermütige Studentenstreich herkömmlicher Art ist im Freun­deskreise ausgeheckt worden. Wir Kinder haben an den Erzählungen darüber viel Belustigung gehabt. Aber ich muß darauf verzichten, hier diesen Ulk zu registrieren. Wohl aber sei ein besonders hüb­sches Abenteuer berichtet, das meines Vaters Charakterhaltung gut beleuchtet.
Er hatte von den in einigen Badeorten errichteten Spielbanken ge­hört und fuhr eines Tages nach Bad Homburg, um sich den Betrieb an­zusehen. Obwohl er nie in seinem Leben sich an einem Glücksspiel beteiligt hat, auch nicht an einem unschuldigsten Skat, denn er kannte kaum die Karten, oder etwa einer staatlichen Lotterie, setzte er doch einen mäßigen Betrag am Roulettetische. Und nun ging’s, wie in Spielerromanen so oft gelogen wird: der blutige Neu­ling gewann und gewann, bis schließlich mehr als sechshundert Gold­gulden aus seinem bescheidenen Ersteinsatz geworden waren. Aber der Rausch des Gewinnens bekam keine Macht über ihn. Kaltblütig strich er die große Summe ein und begab sich zu einem Bankier, dem er den runden Betrag von sechshundert Gulden mit dem Auftrage übergab, ihm dieses Geld unter keinen Umständen zurückzugeben, auch wenn er es noch so dringlich verlangen sollte, sondern ihm nächsten Tags nach Heidelberg zu schicken. Der Bankier versprach das, mein Vater begab sich noch einmal ins Casino, das Spielglück wiederholte sich aber nicht und er reiste zurück. Nach zwei Tagen erschienen auf seiner Bude ein paar Freunde, an der Spitze Conrad Rieger, genannt „Der Große“. Sie hatten ihn vermißt. „Wo bist du gewesen, Nabob?“, so inquirierte streng der Große. „Ich habe einen Ausflug gemacht.“ „Wohin ?“ „Muß ich das sagen?“ „Du warst doch nicht etwa in Hom­burg?“ „Ja, dort war ich!“ „Und hast natürlich gespielt und dein Geld verloren!“ Der Inkulpat schwieg und beschwor damit eine ernste Philippika herauf, die er sich von dem älteren Freunde gefallen lassen mußte wie der Fuchs vom Corpsburschen. Aber noch waren die Vorwürfe und Ermahnungen des Großen nicht beendet, als zum grenzen­losen Erstaunen der Besucher der Geldbriefträger nach Herrn Martin Drucker fragte, und nachdem der Quartiergeber ihn rekognosziert hatte, ihm einen schwer mit Siegeln belasteten Wertbrief aushän­digte. Wortlos überreichte „Naböbchen“ ihn dem Großen, der starr vor Staunen das Übersendungsschreiben des Homburger Bankiers und die 600 Goldgulden betrachtete. Trotz der betonten Verwerflichkeit des Glücksspiels hatte der Große und die Freunde nichts gegen die Verwendung eines Teils des Sündengeldes zu einem solennen Mahl ein­zuwenden. Aber tiefsten Eindruck hatte, wie „Onkel Rieger“ uns spä­ter erzählt hat, die kühle Überlegung gemacht, mit der das Naböb­chen den Glückszufall des Kasinos gemeistert hatte.
In Heidelberg sind wohl auch die „Blüten aus dem Treibhause der Ly­rik“, wenigstens zum Teil, entstanden, jene in ihrer Art einzig da­stehende Sammlung parodistischer Gedichte, die mein Vater erstma­lig, als er noch nicht 20 Jahre war, im Verlage von Johann Ambro­sius Barth in Leipzig anonym veröffentlichte. Die Eleganz der Verse und die Grazie des bei aller Treffsicherheit niemals verletzenden Spottes haben das kleine Buch zu einer Delikatesse für literarische Feinschmecker gemacht. Nach dem Verfasser, den streng geheimzuhal­ten der mit ihm befreundete Verleger[31] sich verpflichtet hatte, ist vielfach geforscht worden; aber sein Name ist immer nur von Mund zu Mund in einem engen Kreise Eingeweihter umgegangen. Vor Jahrzehnten erschien einmal aus der Feder von Richard M. Meyer, wenn ich mich nicht irre, ein Aufsatz über die Satire in der deutschen Dichtung, der unter Heraushebung der „Blüten“ als einer vollendeten Leistung bedauerte, daß der Verfasser sich nicht nenne. Ich bat meinen Vater um die Erlaubnis, den Professor aufzuklären, erhielt sie aber nicht. Umsomehr erstaunte ich, als 30 Jahre nach meines Vaters Tode in einer Parodiensammlung von Dr. Ernst Heimeran, München, eins der Gedichte mit Angabe des Autors abgedruckt war. Dr. Heime­ran hatte, wie er mir auf Anfrage mitteilte, ein Exemplar der zwei­ten Auflage in der Bayrischen Staatsbibliothek gefunden, wo auch der Dichter registriert war. Bei einer späteren Auflage, wohl der dritten, schlug der Verleger zeichnerische Ausschmückung vor, indem er hinzufügte, er habe einen jungen Künstler kennengelernt, der das rechte Verständnis für den Charakter der Gedichte besitze und ihn festzuhalten wisse. Zögernd stimmte mein Vater zu. Der Versuch ge­lang über Erwarten gut. Die kleinen Zeichnungen, in der Regel nur figürliche Einschiebungen in den Anfangsbuchstaben eines Gedichts, sind selbst zu Meisterstücken der Ironie geworden. Der damals noch unbekannte Zeichner war – Max Klinger! Auf einer Ausstellung seiner Werke, die im 20. Jahrhundert im Leipziger Museum stattfand, wurden die „Blüten“ gezeigt. Der Name des Dichters wurde auch bei dieser Gelegenheit nicht preisgegeben.
Von Heidelberg siedelte mein Vater auf die Universität Leipzig über, deren juristische Fakultät auch damals in hohem Rufe stand. Freilich konnte nicht jeder der Dozenten als begeisternder Lehrer gelten. Unter ihnen war beispielsweise ein früherer Advokat Oster­loh – mit seinem Enkel bin ich einige Jahre zur Schule gegangen – der die großen Kenntnisse, die er sicherlich besaß, seinen Zuhörern in einer derart langweiligen Weise vortrug, daß sie sein Auditorium flohen. Dieser Abwehr konnten sie sich allerdings in dem Prozeß­praktikum, das Osterloh abhielt, nicht bedienen, denn hier mußten schriftliche Arbeiten angefertigt werden. Dabei ereigneten sich bisweilen infolge der eigenartigen Eingesponnenheit des Gelehrten lustige Vorfälle. Als er eines Tages den Praktikanten ihre Arbeiten über die von ihm gestellte Aufgabe, im Prozesse über einen gegebe­nen Tatbestand einen anwaltlichen Schriftsatz zu fertigen, zurück­gab, bemerkte er bei der Kritik, er fühle sich peinlich dadurch be­rührt, daß einer der Herren durch die Wahl des dem fingierten An­walt beigelegten Namens den ehrenwerten Stand, aus dem doch er, Osterloh, hervorgegangen sei, verhöhnt habe; der Schriftsatz sei unterzeichnet: Preller, Advokat. Worauf sich einer der Kursusteil­nehmer erhob und erklärte: „Verzeihen Sie, Herr Professor, eine Verhöhnung war wirklich nicht beabsichtigt. Ich heiße Preller und will selbst Advokat werden.“
Im Leben der Universität und der Musikstadt Leipzig traten in jenen Zeiten die Pauliner hervor, der Universitätssängerverein zu St. Pauli. Das war keine sich von anderen Studentenverbindungen ab­schließende Korporation, sondern eine nur den Männergesang pfle­gende Vereinigung, der jeder musikalisch befähigte Student beitre­ten konnte, auch wenn er anderswo aktiv war. Vielleicht hat gerade die Vernachlässigung des Komments zugunsten der musikalischen Ziele die Leistungsfähigkeit der Sänger auf beachtliche Höhe gesteigert. Zur Zeit meines Vaters genossen sie den Ruf des tüchtigsten Männer­chors in Leipzig und weit und breit. Weil aber das Erhabene vom Lä­cherlichen nur durch einen Schritt getrennt ist, blieben dem künst­lerischen Empfinden meines Vaters die Geschmacksverirrungen nicht verborgen, die beim mehrstimmigen Männergesang sowohl die Komposi­tion wie den Vortrag nur zu häufig ergreifen und ihn ins Lächerli­che verschieben. Solchen Unfug stellen die von meinem Vater gedich­teten und in Musik gesetzten Quartette bloß, die er unter dem Spotttitel erscheinen ließ. „Lieder der vereinigten Bürgergesangs­vereine zu Schnarrtanne“[32]. Von einem scharfblickenden Verleger, Con­stantin Sander in Firma FEC Leuckart, in recht gefälliger Ausstat­tung herausgebracht, bei der ironisierende Zeichnungen auf dem Ti­telblatt dem parodistischen Gehalt jeder der Kompositionen witzig andeuten, hat das wiederum, wie die „Blüten“ ohne Nennung des Dich­terkomponisten erschienene Werkchen überall, wo es in einsichtigen Musikerkreisen bekannt wurde, freudige Anerkennung und Zustimmung gefunden. Selbstverständlich können diese Lieder nicht auf das Pro­gramm eines öffentlichen Gesangskonzertes gestellt werden: der vor­tragende Chor würde sich und das ganze Männerquartettsingen selbst verspotten. Für die Darbietung im geschlossenen Kreise werden sie nie veralten können; sie sind die eleganteste und liebenswürdigste, zugleich aber einleuchtendste Kritik an der Verballhornung des Män­nerchorwesens, in Berechtigung und Wirkung an keine Zeit gebunden. Es gibt wohl selten einen Menschen, der so virtuos das ridendo di­cere verum[33] zu handhaben weiß wie mein Vater.
Bei den Paulinern und für sie hat mein Vater noch einige andere li­terarische Gelegenheitsdichtungen[34] geschaffen, die bedauerlicher­weise nicht mehr vorhanden sind. Das eine war ein dramatisches Spiel entweder zu einer Weihnachtsfeier oder zu dem alljährlichen Stiftungsfest. Weil in jenen Zeitläuften die Bekämpfung der Trichi­nengefahr die öffentliche Meinung beschäftigte, wandelte der Dich­ter den Titel des berühmten äschyleischen Schauspiels „Die Trachi­nierinnen“ in „Die Trichinierinnen“[35] ab und führte im Stile der klassischen Tragödie, namentlich auch in ihrer pomphaften Sprache, eine ungemein lustige Liebesgeschichte vor. Beileibe keine Trave­stie des Äschylus, dem nur der abgewandelte Titel und das Gewand entlehnt wurde. Leider habe ich niemals eine vollständige Nieder­schrift vor Augen gehabt. Das Manuskript hatte, wie bei den meisten der gelegentlichen Dichtungen meines Vaters, sein Freund Konrad Rieger an sich genommen, der in seinen letzten Jahren bisweilen von geistigen Abweichungen befallen wurde und in solchem Zustande mit anderen Papieren auch jene Niederschriften vernichtet haben soll. Beim „Paulus“, an den ich mich wendete, war das Archiv in Unordnung geraten und daher das Stück nicht aufzufinden. Von einer späteren Aufführung her besaß aber ein anderer wesentlich jüngerer Pauliner, der von uns Kindern Onkel genannt wurde, eine freilich recht lüc­kenhafte Abschrift. Von ihm, dem Rektor Buschkiel am Gymnasium zu Chemnitz, erlangte meine Schwester Hanna diese Blätter. Sie gaben uns zwar kein vollständiges Bild, zeigten uns aber, daß auch in diesem Bühnenwerke unserem Vater seine Sprachkunst, seine Darstel­lungsgabe, sein in jeder Situation schlagfertiger Witz treu geblie­ben waren. Was ich von den vollendeten Jamben und von den antiken Rhythmen der Chöre im Gedächtnis behalten habe, ist zu geringen Um­fangs, um einen Eindruck des Ganzen hervorrufen zu können. Die Ab­schriften, die Hanna von den an den Onkel Buschkiel zurückgegebenen Blättern gefertigt hatte, sind am 4. Dezember 1943 und am 27. Fe­bruar 1945 bei der Vernichtung von Sickerts und dann meiner Wohnung verbrannt. (Ob sich bei meinem Bruder Carl in Uppsala etwa eine Ab­schrift erhalten hat, kann ich jetzt nicht feststellen.)
Den Brandbomben ist auch der „Baedeker des Paulus“ zum Opfer gefal­len, den mein Vater anläßlich eines hervorgehobenen Stiftungsfe­stes, wohl des 50. verfaßt hat.[36] In einem Buchdeckel der bekannten roten Farbe jener Reiseführer wird nach einer ein beliebiges Städ­tebild mit der Unterschrift: „Leipzig von Portorico aus gesehen“ zeigenden Vignette des Titelblatts zunächst in flüssigen gereimten Versen ein Führer durch Leipzig gegeben, dann folgt, ebenfalls in gebundener Rede, das Festprogramm, ebenso wie der Führer durchsetzt und überstrahlt von blendendem Witz, und den Schluß bildet ein „Wörterbuch“ zum Gebrauche für die auswärtigen Festteilnehmer. Jede Vokabel in ihrer Übertragung ein Spottblitz.
Die Dankbarkeit und Verehrung, die meinem Vater im Paulus entgegen­gebracht und doch auch geschuldet wurde, hatte ihren Ausdruck in der Hingabe und Widmung eines kostbaren Ringes gefunden. Nachdem aber der Berliner Hofprediger Stöcker mit seinen antisemitischen Tiraden nicht nur den Verein Deutscher Studenten hervorgerufen, sondern im viel weiterem Umfange das Universitätsleben verseucht hatte, faßte auch ein Konvent des Paulus, der schon längst aus dem freien Sängerverein eine geschlossene Verbindung geworden war, den Beschluß, Juden nicht weiter aufzunehmen. Auf meinen Vater, der üb­rigens seit Jahrzehnten der evangelisch-lutherischen Kirche ange­hörte, bezog der Beschluß sich schon deshalb nicht, weil er nur künftige Eintritte betraf. Möglicherweise ist den meisten Paulinern die Abstammung des hochangesehenen Alten Herrn nicht einmal bekannt gewesen, denn der Rassenantisemitismus war damals gerade in Leipzig unbekannt, wo die aus Deutschen und Ausländern, darunter vielen Hu­genotten, aus Protestanten, Katholiken und Juden sich zusammenset­zende durchaus paritätisch und tolerant eingestellte vornehme Kauf­mannschaft mehr noch als die Universität den Ton des gesellschaft­lichen Verkehrs bestimmte. Aber jener üble Vereinsbeschluß empörte meinen Vater dermaßen, daß er sofort auf seine Alte-Herrenschaft verzichtete, alle Brücken zum Paulus abbrach und ihm den Siegelring zurückschickte.
Mit dem juristischen Doktordiplom seit dem 21.12.1857[37] ausgerüstet (1907 ist es in Goldschrift erneuert worden) ließ nach Absolvierung des Vorbereitungsdienstes und aller Prüfungen mein Vater sich in der Goethestraße in Leipzig als Advokat nieder und zwar zunächst in Gemeinschaft mit seinem Freunde Heinrich Roßbach. Einige Tage da­nach betrat, mit Spannung erwartet und mit Freuden begrüßt, der er­ste Klient die Expedition. Er gehörte dem Freundeskreise an, be­tonte aber, daß er diesmal in Rechtsangelegenheiten vorspreche. „Höre, Drucker, könntest Du nicht mal hundert Thaler für mich ein­klagen?“ Entzückt über ein so fettes Mandat bekannte der Herr Advo­kat seine selbstverständliche Bereitwilligkeit: „Natürlich; von wem hast Du das Geld zu bekommen?“ „Von wem ich’s zu kriegen habe? Ich habe Dich doch gefragt, ob Du nicht 100 Thaler für mich einklagen könntest. Du sagst Ja. Wie Du das machst, mußt Du als Advokat wis­sen. Wenn ich jemanden wüßte, von dem ich 100 Thaler kriegen könnte, brauchte ich doch Dich nicht zu bemühen!“ Damit ging er, scheinbar entrüstet und enttäuscht. – Dieses Luftmandat blieb vereinzelt; die Praxis entwickelte sich be­friedigend.
An Beschäftigung fehlte es meinem Vater schon deshalb nicht, weil er auch Patrimonialrichter und Notar war.
In Sachsen besaßen viele adlige Rittergutsbesitzer das Privileg ei­gener selbständiger Gerichtsbarkeit für ihren Sprengel, mußten aber die Rechtsprechung durch einen zum staatlichen Richteramt befähig­ten Juristen ausüben lassen. Dazu wählten sie wohl ausnahmslos tüchtige Advokaten aus benachbarter größerer Stadt. Auch mein Vater war mehrere Jahre Patrimonialrichter für einen bei Wurzen gelegenen Rittergutsbezirk, dessen Name mir entfallen ist. In gleicher Eigen­schaft waren in der Nachbarschaft andere Leipziger Advokaten tätig. So nahmen denn in der Regel mehrere dieser juristischen Doppelwesen einen Wagen gemeinsam, mit dem sie sich zuerst nach Rittergut X be­gaben, wo der Reisegenosse A als Patrimonialrichter Gerichtstag ab­hielt, während seine Begleiter B und C als Vertreter der Parteien auftraten, und fuhren dann weiter zum Gerichtstag in Y, wo vor B als Richter nun A und C als Advokaten tätig wurden, und so weiter. Nirgends und niemals hat wohl ein so unbegrenztes Einvernehmen zwi­schen Richtern und Rechtsanwälten bestanden. Ob daran in jedem Falle auch die Gerichtsuntertanen freudig teilgenommen haben, ist rechtsgeschichtlich nicht zu belegen.
Bedeutsamer als dieser vorübergehende Nebenberuf meines Vaters war seine Tätigkeit als Notar. Das sächsische Recht unterschied damals zwischen beschränktem und unbeschränktem Notariat, letzteres auch Vollnotariat genannt. Das beschränkte Notariat bestand im Wesentli­chen nur in der Befugnis zur Aufnahme von Wechselprotesten und zu Unterschriftsbeglaubigungen. Nach einer uns heute schwer verständ­lichen Kompetenzverteilung stand der Universität Leipzig das Recht zu[38], aus den Reihen der promovierten Juristen solche „Protestnotare“ zu kreieren und diese Rechtsstellung brachte mein Vater in seine Advokatenpraxis schon mit. Das Vollnotariat aber, das die höchst wichtige und finanziell einträgliche Befugnis zur Aufnahme von Ur­kunden, also beispielsweise von Testamenten, Verträgen, Generalver­sammlungsprotokollen in sich schloß, wurde nur vom Justizministe­rium und auch nur in einer geringen Anzahl von Fällen verliehen, bisweilen, wie böse Zungen oder Mißvergnügte behaupteten, als Be­lohnung für politisches Wohlverhalten. Nur auf einem einzigen Wege konnte ein Advokat die Ernennung zum Vollnotar gewissermaßen er­zwingen: wenn er nämlich seine Fähigkeit zur Aufnahme notarieller Urkunden in einer modernen Fremdsprache durch eine Prüfung nach­wies. Von dieser höchst seltenen Voraussetzung Gebrauch zu machen, war mein Vater in der Lage. Ohne (bis in jene Zeit) Gelegenheit zu Auslandreisen besessen zu haben, sprach er vorzüglich französisch, italienisch, englisch; las auch spanisch und portugiesisch geläu­fig. Als ihm als Rekonvaleszenten nach einem Nervenfieber der Arzt leichte Lektüre gestattete, ließ er sich von seinem Schreiberlehr­ling aus einer Buchhandlung eine holländische Grammatik und ein Übungsbuch holen; als er genesen war, sprach er auch diese Sprache.
Auf solche Kenntnisse gestützt, meldete er sich beim Justizministe­rium zur Ablegung der Notariatsprüfung, und zwar gleich in zwei Sprachen, französisch und italienisch. Englisch vermied er aus kol­legialer Rücksicht auf einen Kollegen (Bärwinkel), der für diese Sprache kurz vorher die Zulassung erwirkt hat. Nach einiger Zeit wurde mein Vater zum Landgerichtspräsidenten gebeten, der ihm die Prüfungsaufgaben für Französisch vorlegte. In Klausur waren einige Urkunden zu entwerfen, wohl auch Übersetzungen zu fertigen. Als mein Vater diese Arbeiten nach kürzester Zeit abliefert, wollte der Präsident mit ihm einen späteren Termin zur Ablegung der Prüfung für Italienisch vereinbaren, ging aber auf den ihn verblüffenden Wunsch meines Vaters ein, ihm sofort die Aufgaben zu übergeben. Sie wurden ebenso rasch an demselben Vormittage bearbeitet. Nachdem noch vom Ministerium bestellte Dolmetscher die Fehlerlosigkeit und Zuverlässigkeit der Sprachanwendung geprüft und bestätigt hatten, wurde meinem Vater die Berechtigung zur Aufnahme von Notariatsur­kunden in französischer und italienischer Sprache zuerkannt. Damit war er in jungen Jahren Vollnotar geworden. Die dadurch erlangten Amtsbefugnisse haben sich mit weitgreifendem Erfolg besonders hin­sichtlich der Protokollierung in Generalversammlungen von Aktienge­sellschaften ausgewirkt. Mein Vater verstand es, anhand der Tages­ordnungen diese Niederschriften so geschickt vorzubereiten, daß sie sofort bei Schluß der Versammlung verlesungsfähig waren. Wegen die­ser zeitsparenden Technik wurde er als Notar insbesondere auch von Bankleitungen geschätzt, die auf ein und denselben Tag in ihre Ge­schäfträume die Versammlungen mehrerer Gesellschaften mit kürzesten Zwischenräumen ansetzten und doch auf schnellste Abwicklung sich verlassen konnten.
Die Aufnahme solcher Protokolle war eine Fernwirkung der fremd­sprachlichen Leistungen meines Vaters. Das er von Amts wegen als Dolmetscher für französisch und italienisch verpflichtet wurde, war ihm wenig erwünscht, denn er konnte deshalb seine Zuziehung in Strafsachen gegen Ausländer nicht ablehnen, und diese übrigens mi­serabel bezahlte Tätigkeit lag ihm durchaus nicht.
Aber auch bessere unmittel­bare Folgen seiner Berechtigung zu Beur­kundungen in französischer und italienischer Sprache stellten sich ein. Nicht nur in Leipzig, wo namentlich zu Meßzeiten viele Auslän­der eintrafen, sondern auch in anderen Orten und außersächsischen Bundesstaaten trat gar nicht selten das Bedürfnis auf, notarielle Urkunden mit Personen, die der deutschen Sprache nicht mächtig wa­ren, aufzunehmen. Die Konsulate, die über die Amtsbefugnisse meines Vaters unterrichtet waren, wie­sen solche Klienten an ihn. Das gab ihm zugleich die erwünschte Ge­legenheit zur Pflege ausländischer Konversation.
Als einträglichster Teil der notariellen Beschäftigung erwies sich indessen namentlich seit Anfang der 90er Jahre das Wechselprote­stieren, also gerade diejenige Tätigkeit, die nicht vom Vollnota­riat abhängig war, ohne solches mein Vater aber kaum im nennenswer­ten Umfange zugefallen sein würde. Die Banken in Leipzig, allen voran die Reichsbankhauptstelle, betrieben in der Zeit vor dem Er­sten Weltkriege das Wechselankaufgeschäft in einem in späterer Zeit weder erwünschten noch möglichen Maße, und da sie beim Vorhanden­sein guter Indossamente auf die Bonität des Acceptanten wenig Ge­wicht legten, so gab es naturgemäß zahllose Proteste mangels Zah­lung oder Deckung. Die Reichsbankhauptstelle beschäftigte damit sechs mit großer Umsicht ausgewählte Vollnotare, die gerade auch für schleunigste Erledigung der Proteste Gewähr zu bieten schienen. Jeder dieser sechs Notare war zweimal im Jahre je einen Monat lang zur täglichen Übernahme der Protestaufträge, fast nur zum Medio- und Ultimotermin dazu verpflichtet. Die Arbeit in jenen zwei Mona­ten war so schwierig zu bewältigen, daß der Notar zu anderer Tätig­keit nur ganz ausnahmsweise Zeit fand. Das Protestgeschäft wickelte sich folgendermaßen ab. Vor neun Uhr morgens holte ein Bureauan­gestellter das erste Paket zu protestierender Wechsel am Schalter der Reichsbank ab. Sie wurden rasch nach den Stadtgegenden, in de­nen sie vorzulegen waren, sortiert, worauf mein Vater sich in einer Droschke, später in ein Taxi setzte, von Straße zu Straße die Wech­sel vorlegte und die Erklärungen der Angegangenen entgegennahm. Nach Ablieferung dieser protestierten Wechsel auf dem Bureau begab er sich mit dem nächsten Päckchen auf die Reise; ebenso geschah es innerhalb der mit 6 Uhr ablaufenden Protestfrist mit denjenigen Wechseln, die um 12 Uhr und um 4 Uhr bei der Reichsbank abgeholt worden waren. Der weitaus zeitraubendste Teil des Protestgeschäftes war die Ausfertigung der Protesturkunde. Noch nach meines Vaters Tode ging die gesetzliche Vorschrift dahin, daß über die Vorlegung des Wechsels und die daraufhin abgegebene Erklärung eine selbstän­dige Urkunde aufzunehmen und von ihr eine Abschrift in das Protest­register einzutragen sei. In der Urkunde mußte eine vollständige Abschrift der Vorder- und der Rückseite des Wechsels enthalten sein. Diese umständliche Schreibarbeit mußte am Tage der Protest­aufnahme erledigt werden. Erst die spätere Gesetzgebung hat an die Stelle der selbständigen Protesturkunde eine kurze, auf dem Wechsel selbst oder einem angeklebten Zettel zu setzende ganz kurze Erklä­rung treten lassen und die Abschrift ins Protestregister beseitigt. Zu Lebzeiten meines Vaters half man sich dadurch, daß man als Ur­kunde einen in möglichst allen Fällen verwendbaren kopierfähigen Vordruck ausfüllte und ihn in einem Kopierbuch abklatschte. Aber obwohl das von meinem Vater ausgearbeitete Formular ein unüber­treffliches Muster zur Vereinfachung des Textes darstellte, ging die Protestarbeit an manchen Tagen fast über die Kräfte des Notars und aller seiner Angestellten. Das wird jeder Sachkundige bestäti­gen, der erfährt, daß an einem einzigen Tage mitunter weit über 100 Proteste allein für die Reichsbank aufzunehmen waren, zu denen wei­tere von der Allgemeinen Deutschen Credit-Anstalt[39] und anderen Klienten des Notariats kamen. An solchen Tagen blieben die Ange­stellten bis in die Nachtzeit im Bureau; auch ich, damals Student und Referendar, beteiligte mich an der Schreiberei, bisweilen wohl auch mein Bruder Carl.
Das Wechselprotestieren hat meinen Vater auch für die Autodroschke gewonnen. Im Jahre 1905 oder 1906 schickte eines Nachmittags nach 5 Uhr die Reichsbank ein über einen recht hohen Betrag lautenden Wechsel, der versehentlich liegen geblieben war und nun an diesem als den letzten Protesttage vor 6 Uhr protestiert werden mußte, wenn das Regreßrecht nicht verloren gehen sollte. Das Geschäftslo­kal des Bezogenen, wo der Wechsel vorgelegt werden mußte, lag weit draußen im Norden der Stadt. Ich bewog meinen Vater, der bis dahin von den Autos, die nur zu oft Unfälle verursachten, nichts wissen wollte, eine solche Droschke mit mir zu besteigen. Auf diese Weise, und nur so, weil nämlich der Bezogene sein Geschäftslokal gewech­selt hatte und sich deshalb eine Polizeinachfrage nötig machte, ge­lang die fristgemäße Protestaufnahme. Von diesem Tage ab bediente mein Vater sich regelmäßig der Autodroschke, durch deren Benutzung er viel Zeit ersparte.
Bei den Gängen und Fahrten als Protestnotar drängte meinem Vater sich ein besonderes Unterscheidungsmerkmal der einzelnen Stadtvier­tel und Straßen auf, nämlich der in ihnen herrschende spezifische Geruch. Daß in den Häusern des Brühl das Naphtalin als Motten­schutzmittel sich aufdringlichst bemerkbar machte, empfand und wußte jedermann. Aber es gab auch andere lokalisierte Düfte. Im vorderen Teil der Grimmaischen Straße wurden die Passanten durch aus den Souterrainräumen der Konditorei Felsches[40] strömende süßliche Gerüche entzückt oder angewidert; in der Kurprinzstraße[41] roch es nach Markthallenwaren, in der Kramerstraße[42] aus der Sackschen Reit­bahn nach Pferden und ihren Ausscheidungen, in der Schreberstraße nach den köstlichen Essenzen einer Fabrik für ätherische Oele. Das sind einige Beispiele der durch die empfindliche Nase meines Vaters getroffenen Feststellungen, gegen die auch sie „protestierte“. Er selbst aber sammelte, registrierte, ordnete diese Wahrnehmungen und machte sie Wissbegierigen in weniger zu Nutz und Frommen, als zur Belustigung anschaulich dadurch, daß er eines Tages im Anwaltszim­mer des Landgerichts ein Stadtplan mit der Überschrift aushängte: „Die Stadt Leipzig, nach Gerüchen gegliedert“. Auf diesem Plan war in der Art, in der man auf einer Landkarte die Verbreitung der ver­schiedenen Tier- und Pflanzenarten innerhalb eines Erdteils oder Landes ersichtlich macht, für jeden Geruch eine bestimmte Farbe zur Kolorierung des von ihm beherrschten Bezirks verwendet worden, so­ daß ein recht buntes Bild entstand. Dieser wissenschaftlich ge­tarnte Scherz meines Vaters hat Anfang der 90er Jahre viel fröhli­chen Beifall gefunden, ist ihm auch von engstirnigen Köpfen als eine Verhöhnung der Stadtverwaltung verdacht worden, aber auch jetzt noch nicht ganz vergessen. Meine Tochter Ina lernte 1944 in Schlawe die dorthin aus dem bedrohten Berlin übergesiedelte Tochter des im Ruhestand lebenden bekannten Berliner Staatsrechtslehrers Heinrich Triepel kennen, der, aus Leipzig gebürtig, mir seit der Gymnasialzeit bekannt und der Bruder meines intimen Jugendfreundes Herrmann Triepel ist. Als Frau von Gebhardt ihrem Vater die Begeg­nung mit meiner Tochter berichtet hatte, gab Geheimrat Triepel in seinem Antwortschreiben seiner Freude darüber Ausdruck, daß seine Tochter mit einem Mitglied unserer Familie zusammengetroffen sei, sprach von gemeinsamen Leipziger Erlebnissen und erkundigte sich nach der „Karte der Gerüche Leipzigs“, die er als Referendar im An­waltszim­mer gesehen hatte. Sie muß diesem Gelehrten doch einen tie­fen Ein­druck gemacht haben.
Nach dieser langatmigen Abschweifung ins Notariat kehre ich zur ad­vokatorischen Praxis des Vaters zurück. Sie hat einmal eine etwa einjährige Unterbrechung unter besonderen Umständen erfahren. Der Oheim meiner Mutter, der schon in anderem Zusammenhang erwähnte Ad­vokat Arthur Ottomar Olympius Dölitzsch in Altenburg, hatte sich finanziell erheblich an der Gründung einer Privateisenbahngesell­schaft am Unterrhein beteiligt. Es lag ihm deshalb daran, in deren Leitung durch ihm persönlich nahestehende Vertrauensmänner vertre­ten zu sein. Einen solchen fand er in der Person des Bruders meiner Mutter, des Advokaten Dr. August Klein, der als Direktor der Ge­sellschaft nach Süchteln übersiedelte. Aber der Onkel bestürmte auch meinen Vater, einen gleichartigen Posten zu übernehmen. Die Neuheit der Aufgabe und die mit ihrer erfolgreichen Erfüllung verbundenen Aussichten reizten meinen Vater. Da ihm die Rückkehr zur advokato­rischen Tätigkeit offenblieb, gab er dem Drängen des Onkels nach und verlegte seinen Wohnsitz nach Düsseldorf. Meine Mutter mit Hanna und mir folgte ihm nach, nachdem er dort eine passende Fami­lienwohnung gefunden und eingerichtet hatte. Ich weiß noch genau des späten Abends im Anfang des Jahres 1874 mich zu erinnern, als wir nach einer sehr langwierigen und anstrengenden Bahnfahrt ein behaglich durchwärmtes Zimmer einer Parterrewohnung in der Kaiser­allee[43] in Düsseldorf betraten und dort auf reich bedecktem Eßtisch zum ersten Male einen ganzen großen Holländer Käse der uns als sol­cher erst vorgestellt wurde, erblickten. Gleich die erste Scheibe, die wir kosten durften, mundete uns nicht minder als das uns bis dahin gleichfalls unbekannte Rheinische Apfelkraut, ein Brotauf­strich, dessen Schmackhaftigkeit es mich immer hat verwundern las­sen, warum er bei uns in Leipzig nur ganz ausnahmsweise feilgehal­ten wird. Ein dritter uns Kindern neuer Genuß war das köstliche Ge­bäck Spekula­tius. Der erste Eindruck, den wir von Düsseldorf emp­fingen, war also durchaus freundlich. Er ist auch niemals verwischt worden. Denn wir verlebten dort eine fröhliche Kinderzeit. Da war nament­lich ein achtjähriges Mädchen, das mich in sein Herz ge­schlossen hatte, mit uns die herrlichsten Spiele spielte und mit uns im Kai­serpark spazieren ging. Ich glaube, dieses Kind ist meine erste Liebe gewesen. Seinen Namen habe ich vergessen, aber die Er­innerung an diese Freundin ist erhalten worden durch eine von ihr mir zu meinem fünften Geburtstage geschenkte Kaffee- oder richtiger Milch­tasse, auf der die mein Selbstbewußtsein mächtig steigernde Widmung zu lesen war: „Dem artigen Knaben“. Diese Kindheitsreliquie ist im Haushalte meiner Eltern und dann meinem eigenen allzeit sorglichst behütet worden; ich durfte sie nur an Festtagen benut­zen. Einmals hörte ich munkeln, ein unachtsames Dienstmädchen habe den Henkel zerbrochen. Aber am nächsten Feiertage trank ich wieder aus dem un­beschädigten artigen Knaben. Meine gute Mutter hatte wohl durch Be­schaffung einer Ersatztasse einen frommen Betrug begangen, um mein kindliches Gemüt vor Erschütterung zu bewahren.
Unfroh wirkte der Rheinstrom auf uns Kinder. Auch wenn die Ufer­landschaft der Düsseldorfer Gegend hübscher gewesen wäre als sie ist und wenn wir schon Sinn für Naturschönheit besessen hätten, würden wir in dem breiten Strombett nur eine häßliche Wasseransamm­lung erblickt haben, in die man hineinfallen und in der man ertrin­ken könne. Es wird an einem Frühjahrssonntage gewesen sein, als die Eltern mit uns einen Ausflug auf einem Rhein-Dampfer unternahmen. Wir Kinder standen dicht an unsere Mutter gedrängt, weniger aus an­erzogener Artigkeit, als aus Angst wegen des schwankenden Schiff­leins und der bedrohlichen Wellen des schmutzig-gelblichen Wassers. Der Dampfer passierte einen Brückendurchlaß. Ich sehe noch heute vor mir, wie das Mittelstück der Brücke ausgeschwenkt wurde, um die Fahrbahn freizumachen. In diesem Augenblicke riß ein plötzlicher Windstoß mir meinen Strohhut vom Kopfe und entführte ihn in die Flut. Mein Schreck hätte kaum heftiger gewesen sein können, wenn ich selbst ins Wasser gestürzt wäre. Auch Hanna war von Entsetzen gepackt. Wir sahen zwar unter Zittern und Zagen zu, wie einige Bootsleute mit langen Hakenstangen den Hut herausfischten, fanden aber keine Ruhe. Von diesem Erlebnisse ist in mir ein bei jeder Stromfahrt sich geltend machendes unbehagliches Angstgefühl zurück­geblieben. Ich vermag nicht von Dresden nach Pillnitz auf dem Deck zu fahren, ohne auf den Augenblick zu spannen, in dem meine Kopfbe­deckung in die Elbe fliegen wird.
Trotz meines dürftigen Orientierungsvermögens und meiner Unempfind­lichkeit gegen örtliche Situationen hat sich das von uns in Düssel­dorf bewohnte Haus meinem Gedächtnisse tief eingeprägt. Ungeachtet meiner häufigen Reisen war ich später nur einmal für einige Stunden in Düsseldorf gewesen; erst im Herbst 1933 hielt ich mich als Ver­teidiger in einer Ehrengerichtssache dort mehrere Tage auf. Ich be­nutzte diese Gelegenheit, um einem Kollegen das Haus zu beschrei­ben, daß ich seit 1874 nicht wieder gesehen hatte. Ich schilderte die große Toreinfahrt von der seitlich der Zugang der elterlichen Wohnung genommen wurde, und die Nachbarschaft des die gegenüberlie­gende Straßenseite bildenden Parkstückes. Der Düsseldorfer erklärte mir sofort, er kenne das Haus genau, es stehe noch, und führte mich hin. Ich fand meine Erinnerung deutlichst bestätigt.
Meinen Eltern hat der Düsseldorfer Aufenthalt weniger Annehmlich­keiten als Enttäuschungen bereitet. Wir Kinder haben nur unscharf selbst wahrgenommen, später aber deutlicher erfahren, daß meiner Mutter die Haushaltführung recht schwer gemacht worden ist, und zwar durch Einflüsse, mit denen eben so wenig gerechnet werden wie auseinanderzukommen war. Düsseldorf war eine streng katholische Stadt; die Gegend, in der wir als einzige protestantische Familie wohnten, von einer bis zur betätigten Unduldsamkeit orthodoxen Be­völkerung besiedelt, die von einem oder mehreren besonders starr­gläubigen Geistlichen beherrscht wurde. Dem Dienstmädchen meiner Mutter wurde strengstens verboten, an den zahlreichen katholischen Feiertagen auch nur die geringste häusliche Arbeit bei den „Ket­zern“ zu verrichten. Mindestens zweimal sind Mädchen heimlich aus dem Dienst entlaufen, weil ihnen zeitliche und ewige Strafen ange­droht worden waren, wenn sie bei uns blieben. In einem Falle ver­suchten nach einer Prozession einige fanatisierte Burschen in das Haus einzudringen unter Drohungen gegen unsere Familie. Den Grund haben wir Kinder damals nicht begriffen; aber wir waren doch Zeu­gen, als der Hauswirt, der mit meinen Eltern im besten Einvernehmen stand, die Eindringlinge von unserer Wohnungstür weg strich und aus seinem Hausflur hinaus auf die Straße trieb und das Tor schloß. Wir hatten uns sehr gefürchtet und waren erst beruhigt, als der Vater nach Hause zurückkehrte.
Unter solchen Umständen schien meine Mutter froh darüber zu sein, daß sie kurz vor Jahresschluß uns die unmittelbare bevorstehende Rückkehr in die Heimat ankündigen konnte. Der Anlaß, dessen Trag­weite ihr zunächst von meinem Vater aus Schonung nicht gezeigt wor­den war, ist recht bedenklich gewesen. Ein Mitglied des Vorstandes oder Aufsichtsrats der Aktiengesellschaft, dasselbe, durch das On­kel Arthur zur Beteiligung bewogen worden war, hatte allerlei un­saubere Handlungen, insbesondere auch grobe Verstöße gegen das Ak­tienrecht begangen, gewissermaßen als eine Vorfrucht der späteren berüchtigten Gründerzeit, so daß ein Strafverfahren eingeleitet wer­den mußte und, was nicht zu befremden braucht, auch auf meinen Va­ter und Onkel August erstreckt wurde. Sie schieden sofort aus ihren Stellungen aus. Das Verfahren gegen sie endete zwar mit Einstellung oder sogar mit Freisprechung, aber die Rheinische Eisenbahngesell­schaft war ihnen verleidet.
Aus der Düsseldorfer Zeit hat mein seelischer Organismus ein inter­mittierend auftretendes Phänomen mitgenommen, dessen Würdigung wohl eine dankbare Aufgabe für Psychologen und Sprachforscher diente. Obwohl der dortige Aufenthalt nur etwa ein Jahr gedauert hat und mein Leben danach sich im Herrschaftsgebiete des Leipziger Jargons allerdings seit 1913 neben meinem eine reines dialektfreies hoch­deutsch sprechenden Vater abgespielt hat, brechen Anklänge an den rheinländischen Tonfall bei mir nicht selten mit solcher Deutlich­keit durch, daß ich immer wieder sogar von Rheinländern für einen nach Sachsen verschlagenen Landsleute gehalten worden bin.
Hielt ich mich gelegentlich ein paar Tage in Köln auf, so bemächtigte sich die rheinische Sprechmelodie meiner in solchem Maße, daß nach meiner Rückkehr die Heimgebliebenen sich darüber amüsierten: „Was in den Geist gelegt ist, bleibt ewig.“
Bei Wiederaufnahme der Advokatur in Leipzig bot sich meinem Vater sofort eine neue Aufgabe, für die er wie kaum ein anderer Berufsge­nosse sich eignete. 1874 hatte Deutschland endlich ein Marken­schutzgesetz[44] geschaffen, daß nicht nur der innerdeutschen, sondern namentlich auch der Freibeuterei mit Warenzeichen gegenüber auslän­dischen Firmen ein Ende machen sollte. Es konnten nunmehr auch Aus­länder für ihre Zeichen Schutz in Deutschland erlangen, indessen nur unter der Bedingung, daß sie die Zeichen beim Handelsgericht in Leipzig registrieren ließen und zur Vertretung aller durch die Re­gistrierung entstehenden Rechte und Verpflichtungen einen inländi­schen Bevollmächtigten bestellten. Die Wahl gerade des Leipziger Gerichts als einzige Registerbehörde findet eine interessante rechtsgeschichtliche Parallele in der Stellung Leipzigs als Sitz des Bundesoberhandelsgerichts und in dem einige Jahre später gegen Bismarcks Autorität gefaßten Reichstagsbeschluß, der den Sitz des Reichsgerichts nicht nach Berlin, sondern nach Leipzig verlegte. Den tieferen politischen und in der parlamentarischen Psychologie wurzelnden Gründen, die ich hinter allen diesen Maßnahmen zu erken­nen glaube, können meinen familiengeschichtlichen Plaudereien fern­bleiben. Bei dem Faktum aber, der Bindung des Markenschutzes für Ausländer an die Registrierung beim Leipziger Handelsgericht, muß ich noch auf einigen Zeilen verweilen.
Es lag überaus nahe, daß die ausländischen Markenbesitzer zum Er­werb und zur Wahrung des deutschen Schutzes sich eines Juristen be­dienen wollten, und zwar eines solchen, mit dem sie in ihrer Lan­dessprache verkehren konnten. Wahrscheinlich durch Anfrage bei ih­ren Konsulaten wurden sie auf meinen Vater hingewiesen. Darauf gin­gen gleich von Anfang 1875 an Aufträge in größerer Fülle ein, die allermeisten aus Frankreich, dessen Leipziger Generalkonsul von Tollhausen[45], ein bedeutender Gelehrter und späterer Verfasser eines dickleibigen französisch-spanischen Lexikons, mit meinem Vater we­gen gemeinsamer literarischer Neigungen im persönlichen Verkehr stand und schätzenswerterweise nie verabsäumte, uns Kindern feinste Erzeugnisse der französischen Schokoladenindustrie zu spenden. Aber auch Engländer drängten sich zum Leipziger Register, in besonders dichter Schar die Firmen der Sheffielder Stahlindustrie, deren weltbekannte Marken nur zu häufig von im Trüben fischenden Solin­gern nachgeahmt wurden, und auch manche Italiener. Mit dieser sich auf mehrere Hundert belaufenden Anzahl von Ausländern wechselte mein Vater je in ihrer Sprache Briefe, ohne bei dieser Arbeit durch einen Fremdsprachen-Korrespondenten unterstützt zu werden. Er hatte selbst eine überaus klare, schöne Handschrift, die ihn in den Stand setzte, diese Schriftstücke in Reinschrift mit Kopiertinte abzufas­sen, so daß sie nur mittels der Kopierpresse abgezogen zu werden brauchten.
Mein Vater gelangte mit Recht in den Ruf eines ausgezeichneten Spe­zialisten des damals erst entstehenden Markenrechts, das noch an keiner Universität gelesen wurde. Daß er die ausländischen Deponen­ten in gegen deutsche Nachahmer notwendig werdenden Rechtsstreitig­keiten, die nach gesetzlicher Vorschrift vor dem Leipziger Gericht anhängig zu machen waren, als Prozeßbevollmächtigter vertrat, ergab sich ohne weiteres aus dem schon durch die Anmeldung begründeten Klientelverhältnisse. So wurde er für die Abbaye de Fécamp, die Herstellerin des Bénédictine-Liquieurs, für die Champagnerfirma Louis Röderer, für die größte aller Messerschmiedefirmen, Jos. Rod­gers & Sons in Sheffield, für Girolamo Luardo in Zara, den Erzeuger des echten Mareschino und manchen anderen Träger eines weltberühm­ten Handelsnamens tätig. Aber ebenso lieh er seine umfassenden Kenntnisse anderen ausländischen Firmen, die den Leipziger Eintrag nicht durch ihn erlangt hatten, im Kampfe gegen die Nachahmer. Ich erinnere mich an die amerikanische Gesellschaft Duryea, die mit dem Maizena-Mehl auftrat, an den Holländer Boonekamp, an die schwedi­sche Zündholzfabrik in Jönköping. Naturgemäß wurde mein Vater aber auch von vielen deutschen Firmen gesucht, die inner- oder außerhalb ge­richtlicher Verfahren sich von einem wirklichen Kenner des Mar­ken­rechts beraten lassen wollten. An alledem hat sich wenig geän­dert, nachdem das Markenschutzgesetz von 1874 durch das Gesetz zum Schutze der Warenbezeichnungen von 1892 abgelöst worden war.
Das Markenrecht ist ein Teil eines größeren Rechtsgebiets, über dessen Abgrenzung man sich zwar nicht im Unklaren befindet, für das aber eine präzise Gesamtbezeichnung noch immer nicht gefunden wor­den ist. Man hat von „Immaterialgüterrecht“ gesprochen, ohne darun­ter den Schutz der Ehre, die doch sicherlich ein immaterielles Gut ist, begreifen zu wollen; von „geistigem Eigentum“, obwohl der Be­sitz eines Warenzeichens eine sehr reale, an das Vorhandensein ei­nes gewerblichen Betriebes geknüpfte Angelegenheit darstellt. Der Ausdruck „Gewerblicher Rechtsschutz“ ist sprachlich verunglückt. Der Schutz ist nicht gewerblich. Aber hier ist nicht der Ort, der Nomenklatur aufzuhelfen. Es genügt die Hervorhebung, daß jenes große Rechtsgebiet außer dem Warenzeichenrecht alle Erfinder- und alle Urheberrechte, zu denen unsystematisch auch das Verlagsrecht gerechnet werden mag, umfasst.
Allen diesen Rechtsgebieten widmete mein Vater sein Studium. Er hat mir eine vortrefflich ausgewählte Spezialbibliothek hinterlassen, die freilich als Teil meiner groß gewordenen Bücherbestände am 4. Dezember 1943 im Bombenbrande vernichtet worden ist, bis dahin mir aber nicht nur wertvollste Dienste geleistet, sondern hohe wissen­schaftliche Befriedigung gewährt hat. Durch meines Vaters Bücher und seine mündliche Unterrichtung habe ich schon in den ersten Stu­diensemestern auf diesem damals fernab von den gewohnten Geleisen liegenden Gebieten Kenntnisse erlangt, mit denen ich nicht nur un­ter meinen Altersgenossen, sondern auch im Kreise der gereiften praktizierenden Juristen fast allein stand. Die Werke von Josef Kohler, diesem kühnsten Bahnbrecher für die neuen Rechtsdiszipli­nen den mein Vater auch im persönlichen Verkehr schätzen gelernt hatte, kannte ich recht gründlich schon vor dem Referendarexamen. Mein Va­ter hat mich auch tief in seine Spezialpraxis hineinblicken lassen. Wenn einer der ganz großen Prozesse seine Gedankenarbeit absor­bierte, so war es ihm vielleicht Bedürfnis, sich darüber aus­zuspre­chen, und da er einerseits dazu im Bureau keine Gelegenheit, and­rerseits mein starkes Interesse wahrgenommen hatte, so ließ er mich teilnehmen an dem, was ihn bewegte. Seine Darlegungen enthiel­ten für mich über ihren eigentlichen Zweck hinaus tiefgehende Un­terwei­sung über die immanenten Gebote der Prozeßführung. Erst nach­dem der gründlichst zusammengetragene Sachverhalt an allen gesetz­lichen Be­stimmungen, gerade auch im Hinblick auf mögliche Einwen­dungen, ge­messen worden war, durfte zum Aufbau der Schriftsätze ge­schritten werden. Die von meinem Vater verfaßten, der niemals dik­tiert hat, waren in Anlage und Aufbau Meisterstücke. Er ließ sich nicht die Mühe verdrießen, sie mehrmals umzuarbeiten, wenn er den Eindruck gewann, daß die erste Fassung nicht die allerstrengste Zielstrebig­keit verkörperte. Vornehm überlegener Stil und außeror­dentlich schöne Sprache verliehen diesen Schriftsätzen einen nie versagenden Reiz: Auch bei Behandlung eines trockenen Stoffes konn­ten sie nie langweilig wirken; also wurden sie auch von den Rich­tern ohne Ermü­dungserscheinungen gelesen. Während ich diese Erinne­rungen nieder­schreibe, fallen mir Beispiele solcher Prozesse ein; ein weniges mag erwähnt werden.
Nach einer Bestimmung des Nachdruckgesetzes galt nicht als Nach­druck die Herübernahme von Stücken eines Werkes in ein anderes, das zum Schulgebrauch eingerichtet war. Diese Bestimmung machte ein Dresdner Verleger sich zu nutze, indem er eine ganze Kollektion solcher „Schulausgaben“ erscheinen ließ, die im Grunde genommen nichts anderes waren als wenig gekürzte Abdrucke viel gelesener französischer Romane. Dagegen ging mein Vater als Anwalt mehrerer bedeutender Pariser Verleger z. B. Calmann-Lévy und Hachette, mit Klage vor. Er wies nach, daß die Bearbeitung für den Schulgebrauch in weiter nichts bestehe als in ein paar mehr oder weniger über­flüssigen Anmerkungen, die auch außerhalb der Schule den Leser nicht stören würden, und in der Beifügung eines dürftigen Vokabu­lars, dessen man sich ja nicht zu bedienen brauchte. In Wahrheit handelte es sich also um einen schlecht maskierten Nachdruck der französischen Originalausgaben. Die Sache kam leider vor einer nicht gut besetzten Zivilkammer zur Verhandlung. Der Vorsitzende und der Berichterstatter waren nicht fähig, hinter dem Wort Schul­ausgabe den Begriff einer solchen zu fixieren. Die Dresdener Ausga­ben konnten als Schulausgaben, wie sie bezeichnet waren, verwendet werden: also genossen sie, so lautete die simple Schlußfolgerung, das Privileg des Nachdrucks! Die Klage wurde in erster Instanz ab­gewiesen. Selten hat mein Vater so scharfe Worte über ein richter­liches Urteil gefunden. Er erblickte in ihm eine Bloßstellung der deutschen Rechtspflege gegenüber den Franzosen, denen diese Ent­scheidung als übelster Ausfluß einer skrupellosen Vorteilssuche für den deutschen Staatsangehörigen erscheinen mußte und auch erschien. Darin hatten sie wohl Unrecht. Nicht Befangenheit, sondern Bor­niertheit war der Nährboden des Urteils. Die von meinem Vater bear­beitete Berufung hatte beim Oberlandesgericht Dresden vollen Erfolg und das dort ergangene Urteil wurde vom Reichsgericht bestätigt. Bald nach diesem Prozeßsiege erkannte die französische Regierung die Verdienste, die mein Vater sich um den Schutz lebenswichtigster Interessen französischer Staatsangehöriger so vielfach erworben hatte, durch seine Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion an[46].
In unserer Familie wurde die Erinnerung an jenen sensationellen Prozeß immer lebendig erhalten durch die vielen Originalausgaben der miß­brauchten französischen Bücher, die aus den Akten zurück­kehrten und von den Verlegern meinem Vater überlassen wurden. Min­destens ein Dutzend davon hatte mir mein Vater geschenkt. Sie sind sämtlich am 27. Februar 1945 verbrannt.
Aus der Reihe der wichtigen Patentprozesse will ich hier eines ein­zigen gedenken, weil in ihm der Scharfsinn, mit dem mein Vater in die Bereiche fremder Wissenschaftsgebiete einzudringen verstand, zu einem ganz außerordentlichem Erfolge geführt hat.
Dieser Rechtsstreit hieß der „Moschusprozeß“. Der tierische Moschus ist bekanntlich eins der seltensten und kostbarsten Ingredienzien für die Herstellung von Parfüms verschiedener Art und wird auch in der Pharmakologie verwendet. Im letzten Jahrzehnt des 19. Säculums machte ein junger Student der Chemie, Namens Baur, beim Experimen­tieren die zufällige Entdeckung, daß im Ablauf eines bestimmten chemischen Prozesses ein überaus stark nach Moschus riechender Rückstand entstehe. Offnen Auges, man kann auch hinzufügen mit emp­fangsbereiter Nase, ging er nun planmäßig der Entdeckung nach, kon­trollierte und emendierte den Entstehungsprozeß und wurde am Schlusse der Inhaber eines deutschen Reichspatents auf ein „Verfah­ren zur Herstellung von künstlichem Moschus“. Die erforderliche fi­nanzielle Anlehnung hatte ihm ein großes elsässisches Industriewerk bereitgestellt, die Fabrik Fabriques Chimiques des Thann et Mul­house, deren technischer Direktor die den Markt umwälzende Wucht der Baurschen Erfindung erkannte. Seine Fabrik nahm die Herstellung auf. Da der Handelspreis für ein Kilo tierischen Moschus 6000 Mark betrug, wurde mit 1500 Mark für den künstlichen bei etwa 30 Mark Entstehungskosten ein gewaltiger Gewinn erzielt. Nachgewiesenerma­ßen stand der Baursche Moschus an Güte und Verwendbarkeit dem na­türlichen in keiner Weise nach. Es konnte nicht fehlen, daß die fetten Erträgnisse einen Anreiz für skrupellose Konkurrenten bilde­ten, durch Umgehung des Baurschen Patents ihre eigenen Taschen zu füllen. Zuerst trat die Leipziger Firma V & S (Valentiner & Schwarz) mit Angeboten und Lieferungen von selbst erzeugtem künstlichen Mo­schus auf den Markt. Ihr Fabrikat stimmte mit dem der Fabriques chimiques chemisch überein. Da das Patentgesetz die Vermutung auf­stellt, daß ein Erzeugnis, auf dessen Herstellung ein Verfahrenspa­tent erteilt ist, als nach diesem Ver­fahren gewonnen bis zum Be­weise des Gegenteils gilt, so wurde die genannte Firma, die sich weigerte über ihre Herstellungsweise Aus­kunft zu geben, aber leug­nete, sich des Baurschen Verfahrens zu be­dienen, vor dem Landge­richt Leipzig auf Unterlassung der Patentver­letzung und Schadenser­satz verklagt. Nachdem mehrere Kapazitäten der chemischen Wissen­schaft und Industrie die völlige Identität des Baurschen und des Leipziger Moschusprodukts nachgewiesen hatten, blieb der beklagten Firma allerdings nichts übrig, als den von ih­r angeblich gewähl­ten Erzeugungsprozeß offenzulegen. Sie zierte und sträubte sich freilich, weil sie damit ein unersätzliches Be­triebsgeheimnis preisgebe, konnte aber um die erwähnte gesetzliche Vermutung sich doch nicht herumdrücken. Sie legte deshalb dem Ge­richt eine ganz eingehende Darstellung ihres Verfahrens vor. Aus ihr ergab sich, daß dieselben Materialien wie von Baur, daneben aber noch andere, verwendet und daß sie nicht nur den von Baur be­nutzten, sondern auch anderen Behandlungsmethoden unterworfen wur­den. Der Leipziger Moschus, so besagten mehrere Parteigutachten, sei also nicht nach dem durch das Baursche Patent geschützte Ver­fahren hergestellt.
Damit war der Klageanspruch aufs höchste gefährdet. Aber meinen Va­ter verließ das Vertrauen auf die gerechte Sache nicht. Er sagte sich, daß es doch ein allzu seltsamer Zufall sein würde, wenn als­bald nach der epochalen Baurschen Entdeckung an anderer Stelle ein völlig selbständiges Verfahren zur Herstellung des gleichen Endpro­dukts ersonnen worden sei, und mißtraute den verzögerten Auskünften der Prozeßgegner auch in der Erwägung, daß sie, wenn ihr Verhalten wirklich so einwandfrei gewesen wäre wie sie vorgaben, doch wahr­scheinlich selbst ein Patent nachgesucht hätten. Mit solcher Ein­stellung vertiefte er sich in das Studium der gegnerischen Darle­gungen. Sie bewegten sich in weitab der besten Allgemeinbildung liegenden Fachausdrücken und bereiteten auch durch einen recht kom­plizierten Gedankenaufbau dem Verständnisse große Schwierigkeiten. Nach und nach aber drang mein Vater doch zum Wesentlichen vor. Es fiel ihm beispielsweise auf, daß dem von Baur benutzten Rohmaterial anfänglich ein neuer Stoff, sagen wir Jod, beigemischt worden war, daß aber gerade das Jod, nachdem das Material verschiedene Behand­lungen durchgemacht hatte, durch eine abermalige Beimischung gebun­den und schließlich ausgefällt wurde. Weiter machte ihn die Beob­achtung stutzig, daß unter markanter Abweichung vom patentierten Verfahren auf das Destillat eine gewisse Behandlungsweise angewen­det, in einem späteren Stadium des Prozesses aber wieder rückgängig gemacht wurde. Als mein Vater alle derartigen Wahrnehmungen seines Laienverstandes schriftlich vor sich liegen hatte und sie gewisser­maßen wie ein Rechenexempel behandelte, kam er zu der überraschen­den Überzeugung, daß alle positiven und negativen Abweichungen vom Baurschen Verfahren sich gegeneinander aufhöben und zuletzt nichts anderes übrig bliebe als der patentierte Hergang! Weil zweifelhaft sein konnte, ob diese rein rationelle Betrachtungsweise sich mit den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Chemie vertrage, wurden neue fachmännische Gutachten beigezogen. Sie lauteten übereinstim­mend dahin, daß das Leipziger Verfahren nichts anderes sei, als das durch Zwischenprozesse der oben geschilderten Art künstlich ver­deckte Baursche Verfahren. Auf diesen Standpunkt stellte sich nun­mehr mit aller Entschiedenheit auch ein vom Gericht als Obergutach­ter bestellter Professor der Dresdner Technischen Hochschule, der bis dahin in seiner Meinung geschwankt hatte. Der Prozeß wurde ge­wonnen. So hatte der Jurist mit den Mitteln des rein logischen Den­kens den Fachgelehrten den Weg zum rechten Ziel gebahnt und gewie­sen. Solange mein Vater mit den Fabriques und Chimiques korrespon­dierte, merkten wir es bei seinem Heimkommen vom Büro in die Woh­nung stets sofort, wenn er an einem Brief aus Thann empfangen hatte: seinen Kleidern und sogar seinem Backenbart hatte sich der Moschusgeruch mitgeteilt. Aber sogar im Landgerichtsgebäude wußte alle Welt, wann bei der zuständigen Zivilkammer ein Termin im Mo­schusprozeß anstand: Bei der Beförderung von der Gerichtsschreibe­rei bis zum Verhandlungssaal hatten die Akten die süßlichen Düfte in die forensischen Lüfte entsendet und damit nicht einmal die Dienstkleidung der königlich-sächsischen Gerichtsdiener verschont.
Nach Jahrzehnten wurde der Wichtigkeit und Eigenart dieses Mo­schus­prozesses mir gegenüber gesprächsweise von meinem Kollegen Dr. Kraemer aus Berlin nach dessen Zulassung beim Reichsgericht ge­dacht. Sein Vater war einer der Sachverständigen gewesen, durch de­ren Gutachten die von meinem Vater entdeckten Verschleierungsmaß­nahmen wissenschaftlich bestätigt worden waren. Auch Dr. Kraemer hatte seinerzeit durch seinen Vater von dem Schalksstreich der Leipziger Firma erfahren, der lustig genannt werden könnte, wenn er im Grunde genommen nicht auf einen besonders verwerflichen Betrug hinausgelaufen wäre.
Meine Reminiszenzen an die Berufstätigkeit meines Vaters sind viel­leicht für Leser und Hörer viel zu breit ausgefallen. Für mich aber sind sie ein ganz wesentlicher Bestandteil seines in mir haftenden Charakterbildes. Von Haus aus eine keineswegs in Rezeption sich er­schöpfende, sondern schöpferisch veranlagte Künstlernatur, ist er an der Preisgabe des ihm durch innere Berufung gewiesenen Lebenszieles nicht zerschellt, sondern hat in der ihm nur als Surrogat verbleibenden juristischen Tätigkeit seine geistigen Fähigkeiten so hingebungsvoll zur Wirkung gebracht, als sei er in den Anwaltsberuf hineingeboren und finde nur in ihm die Existenzbedingungen seiner In­dividualität.
In Wirklichkeit trat solche Absorption der Zeit und der Neigungen meines Vaters durch seine Berufsarbeit jedoch keineswegs ein. Be­schäftigung mit Lektüre und Musik schufen einen glücklichen Aus­gleich. Die weitgespannten Kenntnisse, die mein Vater in der Jugend schon sich erworben hatte – sie leuchten durch seine „Blüten aus dem Treibhause der Lyrik“ überall hindurch – erweiterten sich unun­terbrochen, ich kann kühnlich behaupten bis in sein allerletztes Lebensjahr. Von ausländischen Schriftstellern bevorzugte er die Engländer, Franzosen, Italiener, während er zu den Skandinaviern nie eine engere Fühlung zu gewinnen vermochte. Er bezeichnete sie mit einem präzis gar nicht auszudeutenden und doch so signifikanten Ausdrucke als „Anchovisliteratur“. Aus seiner Bibliothek sind zahl­reiche alte Ausgaben der besten Schriftsteller, ebenso modernste Werke auf seine Erben übergegangen. Bei der bekannten Buchhandlung A. Twietmeyer, die in Leipzig vorzüglich das ausländische Sortiment und Antiquariat pflegt, war er ein viel beanspruchender Kunde. Denn was er las, mußte er besitzen. Niemals ist ein Leihbibliotheksbuch in seine Hand genommen worden. Gegenüber der zeitgenössischen deut­schen Belletristik beobachtete er eine temperierte Zurückhaltung. Hatte er doch einmal ein Erzeugnis der Literatur nach 1870 gelesen, so warf er wohl die rhetorische Frage auf: „Mußte das denn sein?“ Seine Meinung ging dahin, daß die frühere Literatur so reichhaltig und so umfassend sei, daß spätere Autoren nichts wesentlich Neues oder Förderliches sagen könnten. Von dieser Beurteilung nahm er al­lerdings die Schweizer Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer aus, die er durchaus als „voll“ zählte. Uns, seinen Kindern, ist der Vater ein allezeit bereiter und siche­rer Führer durch die Weltliteratur gewesen. Tiefste Dankbarkeit er­faßt mich erneut, wenn ich beim Niederschreiben dieses Satzes dar­über nachdenke, wie zahllose Kleinodien, von Sophokles angefan­gen über die großen Italiener des Mittelalters und die Zeit der deutschen Klassiker und Romantiker bis zu Anatole France und Kip­ling, ich durch meinen Vater kennen gelernt habe und wie dabei un­merklich mein Verständnis und mein Geschmack geschult worden ist. Einer Abteilung seines Bücherschrankes, die er seinen „Lustigen Rat“ nannte, entnahm er mit Vorliebe den Lesestoff, den er uns vor­trug. Wie haben wir gelauscht, wenn er uns etwa mit dem Schulmei­ster von Heins aus Rückerts Makamen des Hariri[47], mit Kapiteln aus der Jobsiade[48] oder mit Zettelkästen Jean Pauls oder, den französischen Text ins Deutsche übertragend, Stücke aus Tartarin aux Alpes[49] be­kannt machte. Unmerklich übertrug sich die Empfänglichkeit für rechten Humor und wirklichen Witz, die im Gegensatz zum Gefallen an öder Spaßmacherei ihm eigen war, auf uns. Ein so vor­züglicher Interpret dieser fröhlichen und erfrischenden Literatur war er auch deshalb, weil er selbst die Gabe des witzigen Bonmots besaß. Es ist schwierig, mit Beispielen dafür aufzuwarten, weil sich dazu in der Regel eine umständliche Schilderung der Situation nötig macht und die Pointe erlahmt. Trotzdem will ich ein paar hüb­sche Proben anführen. Die Eltern fuhren mit Tante Adelheid[50] zur Pe­terskirche, wohl anläßlich Hannas Konfirmation. Die Tante, feier­lich und gravitätisch wie immer bei solchen Gelegenheiten, war mit einem schwerseidenen Staatskleid angetan. Als sie, ganz große Dame, den Wagen verlassen hatte, um das Portal der Kirche zu durchschrei­ten, blieb sie durch eigene Unachtsamkeit oder fremde Ungeschick­lichkeit irgendwo hängen und der kostbare Kleiderrock bekam einen schlimmen Riß. Ehe aus Zorn und Entsetzen eine peinliche Szene er­wachsen konnte, bemerkte mein in unmittelbarer Nähe der Unfall­stelle anwesender Vater halblaut, aber vernehmlich: „O weh, Tren­nung des Staates von der Kirche!“ und löste damit die Stimmungs­krise in fröhliches Lächeln auf.
Ein andermal fand bei uns eine Diskussion über die Feuerbestattung statt. Die Gegner brachten unter den bekannten Argumenten auch vor, daß man sich über die Haltung der Geistlichen nicht hinwegsetzen dürfe, die der Totalvernichtung der Leiche aus religiös-kirchlichen Gründen widerspreche. Da warf mein Vater ein: „Merkwürdig. Gegen das Verbrennen von lebenden Menschen hat doch gerade die Kirche nichts einzuwenden gehabt.“ Ein Witzwort aus tiefster Weisheit!
Wohl an einem Weihnachtsfeiertage oder am Silvester hatten meine Eltern Freunde zu Gästen; meine Mutter ließ einen Fischsalat ser­vieren, den damals ein Delikatessengeschäft in einer ganz vorzügli­chen Zubereitung lieferte, wie sie mir später nie wieder begegnet ist. Schon die äußere Anrichtung war ein Stillleben zum Malen schön. In der Garnierung sah man unter anderem rund gelegte Bric­ken. Jemand warf die Frage auf, welches der bereitstehenden Ge­tränke zu dem köstlichen Gerichte passe, der Chambertin oder etwa ein spritziger Mosel. Mein Vater entschied mit einem Zitat aus der Jungfrau von Orléans:

Nicht Chambertin!
„Der Burgunder greift die Bricke an.“

In ein Exemplar der „Blüten“ schrieb er einem Bekannten eine Wid­mung, deren erste Strophe ebenfalls eine witzige Umdeutung eines Schillerschen Verses (aus dem Gang nach dem Eisenhammer) gibt:

„Schon mancher kauft zur Weihnachtszeit
Sich diesen zarten Band,
Bringt ihn der Gattin tief bewegt,
Die nichts davon verstand.“[51]

Obwohl Weihnachten in unserem Elternhause in der denkbar schönsten Weise gefeiert wurde und der Vater wie die Mutter sich nicht genug tun konnten im Ersinnen von Geschenken für uns und anderen Freuden, war ihm doch die Unruhe nicht angenehm, die schon wochenlang vor dem Heiligen Abend die ganze Wohnung erfüllte, und erst recht nicht die Überbeanspruchung der Mutter durch Besorgungen, auch für die vielen Leute, die außer den Dienstmädchen auf Geschenke rechneten, und durch andere Vorbereitungen. Dieser Abneigung gegen den Trubel verlieh der Vater einmal in den Ostertagen Ausdruck mit dem tiefsinnigen Bonmot: „Ostern, Ostern: es ist zwar kein Pfingsten, aber doch wenigstens kein Weihnachten.“
Als Motto für einen Abreißkalender schlug er das „Carpe diem“ vor. „Pflücke den Tag“ – nicht in übertragenem Sinne, sondern wörtlich gemeint, reiße ihn ab vom Block.
Ich erwähnte bereits, daß bei Konrad Rieger recht viele der Scherz-Poeme meines Vaters abhanden gekommen oder zerstört worden sind. Dazu gehört auch eine ganz eigenartige Sammlung. Ein großes Leipzi­ger Haus für Damenmoden, ich weiß nicht mehr ob es Steckner war oder Polich, hatte auch an meine Mutter einen recht gefällig ausge­statteten Werbekatalog gesendet. Seine Eigenart bestand darin, daß die angebotenen Kostüme nicht einfach durch den Druck wiedergege­ben, sondern in Szenenbildern vorgeführt wurden, auf denen sie, je­des mit einem Frauennamen bezeichnet, die Bekleidung von Figuren darstellten. Darunter waren die verwendeten Stoffe und die Preise angegeben. Mein Vater hatte den lustigen, schnellsten verwirklich­ten Einfall, diese Modenbilder mit beschreibenden Versen zu verse­hen. Leider habe ich die allermeisten vergessen. Aus der Erinnerung taucht aber folgendes auf: Eine das Kostüm „Eulalia“ tragende Dame betätigte sich mit einem Herrn als Schlittschuhläuferin. Ihnen sah am Rande des Teiches ein junges Mädchen mit anscheinend finsterem Ausdruck zu. Mein Vater schrieb darunter:

„Laß deine Stirn es nicht beschatten,
Wenn dort in Knickerbocker-Tweed
Eulalia am Arm des Gatten
Auf blankem Eise Kreise zieht.
Bald bringen Mars dir und Minerve
Was dir noch fehlt zum Traualtar:
Den schneid’gen Leutnant der Reserve,
Der nebenbei noch Ref’rendar.“

Auf einer anderen Illustration sah man, wie einer ihr Haus im Reit­kostüm verlassenden jungen Dame eine weit ältere entgegenkommt. Mein Vater verfaßte eine „Legende“, die anhebt:

„Klotilde will im Reiterkleid
(Cachemir-foulard zu 60 Mark)
Das Roß besteigen, das bereit
Längst stand zum Ritte durch den Park.“

Kurz wird dann erzählt wie ihre Absicht dadurch vereitelt wird, daß gerade jetzt „Tante Naumann angerennt“ kommt, und es wird die Sen­tenz geprägt, wie unsicher die Pläne des Menschen sind:

„Eh du es ahnest, kommt Besuch,
Und niemand weiß, wie lang er weilt.“

Das ist in unserem Familien- und Bekanntenkreise zu einem recht oft gebrauchten Worte der Resignation geworden.
Vielleicht könnte mein Bruder Carl, der viel länger als ich bis zum Tode des Vaters im Elternhause gelebt hat, wertvolle Beiträge zur Vervollständigung dieser Zitate beibringen.
Verschont geblieben vom Feuer ist erfreulicherweise in mehreren Druckexemplaren eins der längeren und witzigsten Gedichte, der Be­richt, den mein Vater als Substitut eines auswärtigen Kollegen über die Abwartung eines Termins in einer Bagatellsache vor dem Leipziger Bezirksgericht, dem rechtsgeschichtlichen Vorgänger des Amtsgerichts, erstattete. Der Kontrast zwischen der durch mühsames Studium erworbenen gründlichen juristischen Ausbildung des Advoka­ten und der im Erstreiten eines Urteils über fünf Silbergroschen gegen einen Habenichts sich erschöpfenden Praxis wird mit überlege­ner Ironie aufgezeigt. Diesen Versen wohnt unzweifelhaft kulturhi­storischer Wert inne.
Gedenke ich nunmehr der Musik im Leben des Vaters, so tritt vor meine Augen seine Gestalt, wie er fast an jedem Sonntagvormittag, aber oft auch zu anderen freien Tagen und Stunden auf einer seiner beiden Geigen übte mit einem Ernst und einer Ausdauer, als habe er sich auf einen Lebensberuf, mindestens auf eine möglichst glanzvoll zu bestehende Abschlußprüfung in der Meisterklasse eines Konserva­toriums vorzubereiten. Er wusste und betonte in seiner Bescheiden­heit stets, daß er außerhalb der Zunft stehe. Aber in der Leistung Dilettant zu sein, erlaubte er sich nicht. Unablässig mutete er seiner linken Hand, die durchaus keine schlankfingrige schmale Gei­gerhand war, die mühseligsten Geläufigkeitsetüden zu, und wenn er in einer Komposition, sei es auch eine solche, die er nicht anderen vortragen, sondern nur für sich allein kennen lernen und genießen wollte, auf die kniffligsten Terzpassagen oder ähnliche Schwierig­keiten stieß, so übersprang er nicht etwa diese Widerwärtigkeiten, sondern ruhte nicht eher, als bis seine Technik ihrer vollständig Herr geworden war. Diese Ausdauer war bewundernswert, denn im Grunde genommen rang er sie sich aus Ehrfurcht vor der Kunst ab, im Kontraste zu seinem impulsiven, rasch erfassenden und schnell han­delnden Charakter. Wie glücklich war er aber auch, wenn er bei­spielsweise ein Virtuosenstück wie das Violinenkonzert von Vieux­temps oder ein so erlesenes Kunstwerk wie das große Konzert von Mendelssohn ohne die leiseste technische Hemmung zu spielen ver­mochte. Was außer der Technik zum künstlerischen Vortrag noch ge­hört und erst den wahren Musiker ausmacht, hat ihm nie gefehlt. Mu­sikalität durchströmte seine Adern. Sie bestimmte auch maßgeblich seinen persönlichen Umgang. Er hielt sich von jedem Skatkränzchen, jedem Kegelklub, jeder Schützengesellschaft und wie sonst noch die Klüngel heißen mögen, in denen das Geselligkeitsbedürfnis des Spießers und Philisters Erfüllung sucht, sein Lebtag fern, aber ei­ner ganz losen Vereinigung gehörte er an: dem Beethoventisch. Um Karl Reinecke, den Direktor des Konservatoriums und Kapellmeister der Gewandhauskonzerte, vereinigten sich in der Weinstube Möhle hinter der Nikolaikirche, dort, wo später die Wirtschaft Bavaria entstand, periodisch Männer aus verschiedenen Lebenskreisen, ver­bunden durch tiefste Zuneigung und Hingabe an diejenige Musik, die ihnen als die einzig echte und wahre Kunst erschien. Bei dieser Grenzziehung verfuhren sie sehr orthodox. Für sie war Beethoven in solchem Sinne die Inkarnation und die Vollendung der Instrumental­musik, daß sie als letzten Symphoniker gerade noch Brahms bedin­gungsweise gelten ließen. Bereitwillig als echte Musiker anerkannt wurden Franz Schubert, Weber, Mendelssohn, Robert Schumann und man­cher andere der unsterblich gebliebenen Komponisten, aber die gänz­liche Ablehnung Richard Wagners und seiner Art war dem Beethoven­tisch nicht nur Dogma, sondern eingewurzelter Glaube. Keineswegs huldigte man indessen einer unfrohen Askese, sondern hielt es nicht für einen Raub an den eigenen Idealen, sich auch an musikalischen Scherzen zu ergötzen, vorausgesetzt, daß sie geschmackvoll ersonnen und dargeboten wurden. Ich hebe das hervor, weil aus einem derarti­gen Anlasse sich zwischen meinem Vater und einem anderen Besucher des Beethoventisches ein persönliches Verhältnis entwickelt hat, das nach und nach sich zu einem immer wichtiger werdenden Bestand­teil unsres häuslichen Verkehrs ausweitete. Im Anschluß an ein ge­selliges Zusammentreffen des Beethoventisches, wohl im Hause Rein­eckes, wurde allerlei musikalische Kurzweil getrieben. Irgendeiner der Anwesenden begann auf dem Flügel ein paar Takte aus einem be­kannten Werke, einer Ouvertüre, einer Symphonie, einem Liede zu spielen, als auch schon auf einem zweiten Pianoforte oder einem an­deren Musikinstrumente ein anderer eingriff, indem er die Melodie in die einer anderen Komposition überleitete, also ähnlich wie in einem sogenannten Potpourri verfahren wird, nur daß die Männer am Beethoventisch sich nicht in ausgefahrenen Gleisen bewegten, son­dern ferner liegende Weisen geistvoll miteinander zu verknüpfen wußten. So wurde also dem jeweils Musizierenden das von ihm ange­schlagene Thema aus den Fingern genommen und er mußte zur Vermei­dung von Kakophonien bestrebt sein, seinerseits den Eindringling auf gleiche Weise wieder herauszuwerfen. Solcher Kunststücke sind selbstverständlich nur außerordentlich begabte Musiker fähig, die nicht nur die Gesetze der Harmonie virtuos beherrschen, sondern auch über ein überaus reichhaltiges, stets eingriffbereites Ge­dächtnis verfügen. An jenem Abende wurde das witzige Spiel durch eine neue Nuance bereichert. Als Erster unternahm es mein Vater, einem auf dem Klavier vorgetragenen Stück aus Rossinis Tell-Ouver­türe seine Geigenstimme zu überlagern, und zwar mit der Melodie der Volksweise „Lott ist tot, Lott ist tot, Jule liegt im Sterben.“ An­dere eiferten ihm nach. Karl Reinecke selbst schrieb auf Notenpa­pier sofort nieder, was er und seine Gäste improvisierten. Daraus ist ein Stück für Klavier und Violine entstanden, das der mit anwe­sende Verleger Konstantin Sander unter dem Titel „Wippchen“ und mit der Komponistenbezeichnung S.C.Helm herausgebracht hat. Es be­ginnt großartig mit der C-Moll-Sinfonie von Beethoven und gleitet alsbald in die Arie aus Josef in Ägypten über: „Ich war ein Jüng­ling noch an Jahren.“ Hundertmal mag das ebenso geistreiche wie wohlklingende Produkt vergesellschafteter Laune eines Kreises von Kennern und Könnern in meinem Elternhause wiedergegeben worden sein: stets ist es herrlich gewesen wie am ersten Tag. Leider, lei­der ist meines Vaters Exemplar am 27.02.45 verbrannt. Ob die Noten noch beim Verleger zu beschaffen sind, weiß ich nicht, bezweifele es aber sehr.
Der Musiker mit dem an jenem denkwürdigen Abende mein Vater sich besonders rasch und gut verstanden und mit dem er eine Anzahl der allerkühnsten und erstaunlichsten Melodienverknüpfungen zum Wipp­chen beigesteuert hatte, war Leo Grill, Lehrer am Konservatorium für Theorie und Komposition, zugleich ein vorzüglicher Klavierspie­ler. Die beiden Männer waren einander sympathisch, begegneten sich auch außerhalb der Musik vielerorts in ihren Anschauungen. So kam es, daß Grill an einem Sommersonntage wohl 1876 uns in Crostewitz bei Leipzig, wo wir während der milden Jahreszeit wohnten, be­suchte. Wir beiden Kinder durften den Vater nach dem Bahnhofe Gaschwitz begleiten, um den Gast abzuholen. Er machte tiefen Ein­druck auf uns durch eine Aussprache, wie wir, in deren Ohren außer dem Leipziger Dialekt noch das Düsseldorfer Deutsch hing, sie noch nie gehört hatten. Grill war nämlich in Ungarn geboren und auf dem Wiener Konservatorium ausgebildet worden und hatte die letzten Jahre vor seiner Berufung nach Leipzig in München zugebracht. Sein Oberdeutsch, mit Ausdrücken durchsetzt, die wir nicht kannten und teilweise nicht verstanden, erzeugte in uns eine aus Belustigung und Respekt vor dem fernhergekommenen Ausländer gemischte Stimmung, die noch lange nach dieser ersten Begegnung immer wieder aufkeimte, wenn Grill im Elternhause erschien. Dieser Verkehr bahnte sich rasch an. Grill war unverheiratet. Er lebte in gemeinsamem Haushalt mit der Witwe seines Bruders und deren zwei Kindern, einem Jungen und einem Mädchen. Frau Grill war als Sängerin ausgebildet und hatte eben in ihr erstes Engagement am Münchner Hoftheater eintre­ten sollen, als der dort als gefeierter Sänger wirkende Bruder Grills sich mit ihr verlobte und seltsamerweise ihr die Bühnen- und Konzertlaufbahn untersagte. Als er nach einigen wenigen Ehejahren starb und die Witwe mit den beiden kleinen Kindern ohne Einkünfte zurückließ, hatte Leo Grill, der zwar ein eingefleischter Hage­stolz, aber doch häuslicher Bequemlichkeit sehr zugetan war, sie bei sich aufgenommen. Sie und ihre Kinder traten nun sehr bald auch mit unseren Eltern und uns Kindern in Verkehr. Sie war von großer Schönheit und gewann sofort unsere Zuneigung durch ein munteres herzliches Wesen. Geradezu zur Bewunderung und zum Staunen aber riß sie nicht nur uns Kinder, sondern auch die Eltern durch ihren Ge­sang hin. Bald nachdem die Familie Grill in unseren Familienkreis eingetreten war, setzten die von Musik erfüllten Sonntagnachmittage ein, die so viele Jahre einen wichtigen und wertvollen Teil meiner Jugenderlebnisse gebildet haben. Grill saß an dem Flügel den, als das letzte von Felix Mendelssohn Bartholdy selbst benutzte Klavier, mein Vater von Breitkopf & Härtel[52] gekauft hatte; der Vater geigte und sang, Frau Grill sang. Bisweilen beteiligten sich an diesen Hauskonzerten auch andere. Das waren vorübergehende Erscheinungen, jene drei Künstler aber haften in ihrer ganzen Haltung, ihren Bewe­gungen, dem völlige Hingabe an die Musik zeigenden wechselnden Ge­sichtsausdrucke so fest in meiner Erinnerung, daß ich die Klänge wieder zu hören vermeine, die aus ihren Instrumenten und ihren Keh­len dringend mich entzückt und begeistert, ergriffen und erschüt­tert haben. Als Frau Grill zum ersten Male bei uns sang, hörten wir Lieder von Mendelssohn: „Schöner und schöner schmückt sich der Plan“. „Sie wandelt im Blumengarten“ und manches andere, zuletzt das Hexenlied: „Die Schwalbe fliegt, der Frühling siegt.“ Hatte sie mit berückenden Wohllaut ihres weichen Organs die beiden erster­wähnten Lieder vorwiegend lyrischer Stimmung, das Italienlied ju­belnd, das andere unbeschreiblich zart und doch nicht süßlich vor­getragen, so erklang das großartige Hexenlied in einer von Leiden­schaft durchglühten dramatischen Spannung, die mich, und wohl nicht nur mich Jungen, erzittern ließ. Töne, wie Ma­rie Grill den Schluß­zeilen jenes Liedes verlieh, habe ich in sol­cher Übereinstimmung von Schönheit und Stärke nie wieder gehört. Dabei blieb es, so oft später der Vortrag wiederholt wurde. Viele Jahre danach besuchten Hanna und ich ein Konzert einer mit Recht berühmten Sängerin haupt­sächlich deshalb, weil auf dem Programm das Hexenlied angekündigt war, eine größte Seltenheit im Konzertsaale. Die Künstlerin erntete starken Beifall. Wir Geschwister sahen uns still an, enttäuscht. Dabei mag Voreingenommenheit mit im Spiele gewesen sein. Aber sie wäre doch nur ein Zeugnis für die Eindring­lichkeit gewesen, mit der das Hexenlied unsere Tante Grill sich in unsere Seelen eingegraben hatte. Die gewaltige Wirkung des Hexen­liedes erreichte die Sängerin auch mit Stücken aus Mendelssohns un­vollendeter, heute fast vergessener Oper „Loreley“ die wir erst ziemlich spät kennenlernten. Aber die Regel bildeten nicht diese dramatischen Gesänge, sondern die eigentlichen Lieder. Sie sang sehr viel Schumann, auch Duette mit meinem Vater, wie beispiels­weise das liebliche: „Großvater und Großmutter, sie saßen im Gar­tenhag“, und auch Lieder mit Klavier- und Violinbegleitung. Ich er­innere mich an drei wenig bekannte Kom­positionen Goethischer Dich­tungen von Hauptmann (darunter „Der Fi­scher“, und das ganz eigenar­tige „O gieb vom weichen Pfühle träu­mend ein halb Gehör“), in de­nen auch die Geigenstimme als Melodie behandelt ist, so daß ein re­gelrechtes Duett mit der Gesangsstimme entsteht. Wie es sich er­klärt, daß man diesen edlen und zugleich wirkungsvollen Kompositio­nen nie auf Konzertprogrammen begegnet, ist schwer zu sagen. Es müßte sich doch ein Konzertmeister finden lassen, der den Violin­part übernimmt, ohne neben der Sängerin auf eigentliche Solisteneh­rung Anspruch zu machen.
Unerschöpflich ist die Fülle der Lieder, die ich in jenen Tagen durch den Mund meines Vaters kennengelernt habe; ich würde nicht einmal die Namen aller Komponisten anführen können. Er sang viel Schumann (Die beiden Grenadiere. Es zogen zwei junge Gesellen. Der Hidalgo: gehörten zu den Glanzstücken) Löwesche Balladen (Douglas, Der Nöck), Beethoven (An die ferne Geliebte, Adelaide), aber vor allem Franz Schubert. Wohl die Mehrzahl aller Gesänge, die dieser reichste aller Liederkomponisten uns mit verschwenderischer Hand geschenkt hat, habe ich im Laufe der Jahre von meinem Vater gehört. Noch als er das sechzigste Lebensjahr überschritten und seine herr­liche Stimme an Kraft und Glanz eingebüßt hatte, riß er uns durch die Vornehmheit des Vortrags hin. Wie das möglich ist, zeigt ja das Beispiel von Ludwig Wüllner, der, als er fast stimmlos geworden war, als Sprecher der früher gesungenen Lieder andachtsvolle Hörer fand. Mein Vater aber ist doch Sänger geblieben. Neben Einzellie­dern (Nussbaum, Doppelgänger, Auf dem Wasser zu singen[53], Erlkönig, Der Zwerg, Ich will von Atreus‘ Söhnen[54] … und unzähligen anderen) hat er uns alle mit den beiden Zyklen Winterreise und Müllerlieder beglückt. Diese keinem ephemerem Zeitgeschmack preisgegebenen Lie­der habe ich in Konzertsälen gehört, auch von gottbegnadeten Künst­lern wie Anton Sistermanns, Bender und anderen. Niemals wurde das unauslöschliche Glücksgefühl erreicht, das mich in meinen Jugend­jahren beim Vortrag meines Vaters in tiefster Seele angerührt hat. Ich weiß, daß dabei die persönliche Verbundenheit zwischen Vater und Sohn, Freude und Stolz des Sohnes, den Ausschlag gegeben hat. Aber diese Zeilen sollen ja auch keine Rangliste aufstellen, son­dern meinen Kindern und Enkeln verdeutlichen, wie tief der Großva­ter und Ahne mit seinem Gesange die Gemüter seiner mit ihm lebenden Familie ergriffen hat. Ebenso wie dafür bleibe ich ihm ewig dankbar für sein Violinspiel, durch das er mit Leo Grill am Flügel uns un­vergeßliche Stunden bereitete. Diese beiden vollkommenen Musiker beschränkten sich selbstverständlich nicht auf eigens für ihre In­strumente geschriebene oder dafür arrangierte Kompositionen, son­dern verstanden es, Orchesterwerke aus der Partitur zu spielen. So  hörten wir auch Ouvertüren und andere Opernteile, Sinfonien, Orato­rien. In der Regel wurde bis zum Abendessen gewichtige Musik ge­pflegt. Danach aber wurde der leichteren Muse das Feld überlassen. Lanner und die drei Strauß wurden von unserem Instrumentalduett hochgeschätzt und ihre Tänze mit hinreißender Lebendigkeit ge­spielt. Die Pester Walzer von Lanner, die Geschichten aus dem Wie­ner Wald, die Morgenblätter, die Blaue Donau und wie alle diese von Frohsinn und Lust überströmenden Tänze sich nennen mögen – ich glaube nicht, daß sie im Konzertsaal durch eine Straußkapelle zu stärkerer Wirkung gebracht werden können als sie durch den Vortrag in meinem Elternhause auf den kleinen Kreis der dortigen Zuhörer ausgeübt wurde. Gerade weil mein Vater und sein Freund in diesen Tänzen das musikalische Kunstwerk achteten, schöpften sie dessen Gehalt mit strengster Technik aus; sie hätten sich niemals gestat­tet, diese Kompositionen weniger ernst zu nehmen, weil es doch nur Tänze und nicht Sinfonien wären. Die Denkweise meines Vaters ent­hüllte sich in sehr charakteristischer Weise nach der Einweihung des neuen Gewandhauses, an dessen Giebel die Inschrift angebracht worden war: Res severa verum gaudium. Der landläufigen Übersetzung: „Ernste Dinge schaffen die wahre Freude“ trat er entgegen. Der rechte Sinn des Spruches sei: „Es ist um die echte Freude eine er­ste Sache.“ So trat er auch an Tänze und andere sogenannte leichte Musik heran. Nur wenn man sie als Kunstwerk ansieht, ansehen darf und demgemäß ernst nimmt und behandelt, gelangen sie in die Berei­che, in denen die wahre Freude die Herzen erhebt. So eng in meines Vaters Lebensgang verwoben die Hingabe an die schöngeistige Litera­tur und die Musik war, so gering war sein Bedürfnis nach Malerei, Skulptur, Architektur. Er war keineswegs unempfänglich gegenüber der Schönheit von Gemälden, Statuen, Gebäuden; aber diese nur visu­ellen Reize drangen wohl nicht bis zum Zentrum seines Gefühlslebens vor und hätten entbehrt werden können, ohne vermißt zu werden. Die Gedichte des Michelangelo liebte er, die Sixtinische Madonna re­spektierte er. Tiefes Verständnis brachte er einem Sonett Michelan­gelos entgegen und wies mich darauf hin, das in der wundervollen Übertragung von Sophie Hasenklever[55] mit den Worten beginnt:

Des besten Künstlers herrlichste Gedanken,
Ein einz’ger Marmor kann ihn ganz enthalten,
Doch muß, soll er zum Bildwerk sich gestalten;
Die Hand dem Geist gehorchen ohne Wanken.

Es war, wie die Zustimmung zu diesen Versen zeigt, wahrlich nicht Geringschätzung der stoffgebundenen Kunst gegenüber der freien, was in meinem Vater keine nähere Beziehung zu ersteren aufkommen ließ, sondern die Bewahrheitung der oft bestrittenen und doch nicht zu widerlegenden Erkenntnis, daß die mehreren Ausdrucksformen des Men­schengeistes, die wir allesamt Künste nennen, in voneinander ver­schiedenen Bezirken des Gehirns wurzeln und sich mit ihren Leistun­gen an verschiedene Empfangsstellen wenden. Deshalb ist die Be­zeichnung der Architektur als gefrorene Musik nicht einmal eine brauchbare Metapher, sondern eine erquälte Geistreichelei. Mit der­selben Berechtigung könnte man die Malerei als gewebte Poesie ab­stempeln. Auf meines Vaters Verhältnis zu den Anschauungskünsten bin ich ein­gegangen, weil es sich in allen Stämmen und Zweigen unserer Sippe, und, was hervorgehoben werden muß, auch von mütterlicher Seite her zeigt. Weder unter den Ahnen noch in unserer oder, soweit bisher ersichtlich, den folgenden Generationen oder der Seitenverwand­tschaft findet sich ein Maler, Bildhauer, Architekt, wohl aber eine Mehrzahl von Musikern und mancher mit poetischer Begabung.
Ehe ich diese unsystematischen Rückblicke auf meines Vaters Wesen und Wirken abbreche – unter Verzicht auf Erschöpfung meiner Erinne­rungen und im Bewußtsein ihres Ungenügens – will ich doch einer Ku­riosität gedenken, die zeitweilig den Vater und derivativ auch seine älteren Kinder beschäftigt hat.
Wohl gegen die Mitte der 80er Jahre stieß mein Vater auf die Mnemo­technik, über deren Wichtigkeit zur Unterstützung des Gedächtnisses damals viel geredet und mancherlei geschrieben und deren Leistungs­möglichkeiten auch in Vorstellungen gleichsam artistisch vorgeführt wurden. Ein Unterrichtswerk in Briefform, dessen Verfasser We­ber-Rumpe[56] hieß, wurde vom Vater angeschafft und durchgearbeitet. Was ich heute noch von den Grundlehren der neuen Kunstfertigkeit oder, wenn man so will, Wissenschaft weiß, besteht in zwei Behel­fen. Einmal nämlich soll man Tatsachen und Zeitfolgen, die man sich einprägen will, durch eine Erzählung miteinander verknüpfen, die sich desto leichter merkt, je auffälliger sie klingt. Zum anderen soll man jede Ziffer einem bestimmten Buchstaben gleichsetzen und, um etwa eine Jahreszahl festzuhalten, sie in einem diese Buchstaben enthaltenden, in einem Merksatz aufzunehmenden Worte auftreten las­sen. Ein Beispiel: 0 = s, 5 = g, 9 = r. Das Wort gering ergibt also 59, das Wort segenlos zeigt 05. Unschwer prägt sich der Satz ein: Schillers Leben war im Vergleich zu Goethe geringer und segenloser. Dann hat man Schillers Geburts- und Todesjahr fixiert, (17)59 und (18)05. So künstlich diese Methode zunächst erscheinen mag, so leicht und sicher ist sie nach einiger Übung zu handhaben. Mit ih­rer Hilfe habe ich mir für den Geschichts- und Geographieunterricht fast mühelos eine große Anzahl von wichtigen Zahlen eingeprägt. Mein Vater brachte es zu einer erstaunlichen Fertigkeit. Er konnte zum Beispiel die Kreiszahl p bis zur 36. Dezimalstelle hersagen, gestützt auf eine geradezu abgeschmackte aber gerade wegen ihrer seltsamen Worte sich leicht einprägenden Erzählung. Schwieriger ge­staltete sich die Handhabung des anderen methodischen Kunstgriffs, der raschen Aufnahme zeitlich aufeinanderfolgender Wahrnehmungen und Geschehnisse. Der Gedächtniskünstler läßt sich etwa von einem Dritten ein ganzes von dem letzteren gut durchgemischtes Karten­spiel vorblättern, so daß er jedes Blatt nur für Sekunden vor Augen hat. Ist das Vorblättern beendet, so sagt der Mnemotechniker die Reihenfolge an, in der die Blätter gelegen haben. Hinter dieser verblüffenden Leistung, mit der mein Vater alle Freunde und Besu­cher unseres Hauses oft begeisterte, steht auch eine Metastase von Ziffern in Buchstaben, weil jedes Kartenblatt einen gewissen Wert hat und es nun gilt, die unter Einsetzung der mit den entsprechen­den Zahlen gebildeten Wörter zu Sätzen zu verknüpfen. Dazu gehört allerdings eine rasch zugreifende Phantasie und einige Übung, und insofern liegt eine nur mechanische Beeinflussung des Merk- und Er­innerungsvermögens nicht vor.
Diese Schilderungen sind der Unterstufe der mnemotechnischen Tech­nik entnommen. Sie leistet weit Erstaunlicheres, so die Durchfüh­rung längster und schwierigster Rechenexempel im Kopfe, selbst das Ausziehen von Kubikwurzeln. Aber trotzdem bleibt sie, so emphatisch es auch ihre Gläubigen bestreiten, doch ein künstliches Surrogat der spontanen Funktion des menschlichen Gedächtnisses, und zwar ein nicht ganz ungefährliches. So wie bei einem Menschen, der alle fünf Minuten auf seine Armbanduhr blickt, das lebendige Zeitgefühl nach und nach verkümmern kann, so lähmt er auch sein freiwaltendes Merk­vermögen, wenn er seine Wahrnehmungen an die Tricks einer konstru­ierten Narrenerzählung bindet. Der Weber-Rumpe hat meinen Vater und uns ein paar Jahre amüsiert, aber dann verließ er die Bezirke unse­res Gedächtnisses.
Als wir im Frühjahr 1875 von Düsseldorf nach Leipzig zurückkehrten, bezogen wir eine Wohnung in der Dörrienstraße 13, an die ich mich nur undeutlich erinnere. Eingeprägt hat sich mir nur, daß im Sou­terrain sich die Arbeitssäle der Druckerei Eschebach & Schäfer be­fanden und daß Hanna und ich von außen mit Staunen dem Gange großer Maschinen zuschauten, die fast ohne menschliche Mitwirkung Papier­rollen in sich hineinfraßen und sie zuletzt als gefaltete bedruckte Hefte wieder herausgaben. In unserer Nähe, in der Inselstraße, wohnte die Stiefschwester meines Vaters, Therese[57], die mit dem Fa­brikbesitzer Theodor Frederking verheiratet war. Frederking, obwohl jünger als mein angeheirateter Onkel Hermann Rocholl, war doch des­sen Onkel; auf der Rochollschen Hochzeit in Leipzig hatte er seine Frau kennen gelernt. Frederkings Ehe ist kinderlos geblieben. Sie haben aber ein kleines Mädchen, Lina, adoptiert das, wie ich erst als ich erwachsen war, erfuhr, ein Kind des unverheirateten Bruders meines Onkels Theodor, namens Adolf Frederking, war. Lina Freder­king hat später den Gründer der bekannten Vasenolfabrik Dr. Arthur Köpp geheiratet. Als das geschah, waren meine Beziehungen zu Fre­derkings längst gänzlich erkaltet. Ich hatte ihnen bei irgendeiner Mißhelligkeit in der Familie die gegenüber meinem Vater eingenom­mene Haltung dermaßen verargt, daß ich, als ich 1889 die Universi­tät München bezog, mich nicht einmal von ihnen verabschiedete. An diesem Abbruche des Verkehrs habe ich starr festgehalten, obwohl in späteren Jahren das Verhältnis meiner Familie zu Tante Therese sich, wesentlich unter Hannas Einfluß, wieder besserte, so daß man sich gegenseitig besuchte.
Nur Lina Köpp-Frederking habe ich noch zweimal gesprochen, und zwar als wir beide schon alte Leute und un­sere Eltern bzw. Adoptiveltern längst verstorben waren; es war aus­gangs der zwanziger Jahre. Damals suchte sie mich in meinem Bureau auf, um sich Rat in einer Familienangelegenheit zu holen, die sie nicht mit dem Anwalt ihres Mannes besprechen mochte. Wir vermieden beide, auf die früheren Zeiten auch nur anzuspielen. Aber beim zweiten Besuche brachte sie mir als Geschenk das Miniaturbild mei­ner Tante Betty Haller[58], der Schwester meiner Großmutter väterli­cherseits, das aus dem Nachlasse der Tante Therese stammte und für mich als Pendant zum Bilde der Großmutter sowie als Erweiterungs­stück für die kleine Sammlung von Miniaturen der Vorfahren sehr wertvoll war. Das alles erzähle ich hier, damit nicht auffällt, wenn an anderer Stelle auf diesen Blättern kaum noch von Freder­kings, die doch die nächsten und später die einzigen Verwandten in Leipzig waren, die Rede sein wird. 1875 war das freilich anders. Zwischen den beiden Familien in der Dörrienstraße und der Insel­straße fand ein sehr reger Verkehr statt, wir Kinder liebten die schöne Tante Therese und den stattlichen, stets hochelegant geklei­deten Onkel Theodor und machten von der Erlaubnis zu Besuchen in der Inselstraße häufig Gebrauch, wo wir immer mit Herzlichkeit auf­genommen wurden. Deshalb freuten wir uns auch sehr, als uns einmal im Sommer 1875 – es war der 25. Juli – frühmorgens gesagt wurde, wir seien für den ganzen Tag zu Tante Therese und Onkel Theodor eingeladen und sollten nur gleich hinüber gehen, was wir denn auch taten. Als wir abends zurückgeholt wurden, fanden wir ein inzwi­schen angekommenes Schwesterchen vor. Wir waren zu harmlos, um mit diesem freudigen Ereignisse die Einladung zu Frederkings in ursäch­lichen Zusammenhang zu bringen. Aber Tatsache ist, daß, als wir am 24. November 1876 wieder mit einer solchen Einladung beglückt wur­den – ganztägig hielten wir uns sonst nie in der Inselstraße auf – Hanna mir gegenüber die Frage aufwarf, ob wir vielleicht wieder ein Schwesterchen bekommen würden. Ihre Ahnung bestätigte sich zum Teil. Es traf nicht ein Schwesterchen sondern ein Brüderchen ein.
Diese beiden Geschwister sind Betty und Carl. Sie haben ebenso wie wir anderen und übrigens auch unsere beiden Eltern und meine Frau nur einen einzigen Vornamen und sind damit ihr ganzes Leben lang ausgekommen. Als der Vater einmal nach der Veranlassung zu dieser Sparsamkeit gefragt wurde, erwiderte er mit tiefem Ernste, er denke an die Steuer. Bei der Neigung der Staatsverwaltung, alle erdenkli­chen Vorgänge mit Abgaben zu belegen, könne sie vielleicht auch mal auf die Idee verfallen, jeden Mehrvornamen als Objekt einer Luxus­steuer zu behandeln, was mit einem einzigen Vornamen wegen seiner gesetzlich festgelegten Notwendigkeit nicht geschehen dürfe. Da die Rechtsentwicklung dieser sarkastisch gefärbten Besorgnis nicht ent­sprochen hat, sind die Enkel meiner Eltern nicht auf den einzigen Bedarfsvornamen rationiert worden.
Das Auftreten des Pärchens Betty/Carl brachte für Hanna und mich eine Titelwürde, insofern wir von nun an „die Großen“ hießen, wäh­rend die anderen als „die Kleinen“ bezeichnet wurden. Diese Charak­terisierung ist ihnen nach der Geburt von Maria und Konrad verloren gegangen, soweit nicht alle vier unter ihr im Gegensatz zu den Gro­ßen zusammengefaßt wurden, was namentlich dann geschah, wenn Anlaß vorlag, uns an die den Großen als solchen obliegenden erhöhten Pflichten zu erinnern. Betty und Carl profitierten von dem Fehlen eines Gruppennamens. Sie rechneten sich bald zu den Großen, bald zu den Kleinen, je nach den Utilitäten der jeweiligen Situation.
Eine sich häufig wiederholende Szene allerdings sah stets die 4 Kleinen als Acteurs, und uns die Großen als Publikum. Als Betty zwischen 5 und 6, Konrad zwischen 1 und 2 Jahren alt war, erschie­nen frühmorgens Betty, Karl und Maria im Schlafzimmer der Eltern, wohin denn auch Konrad geholt wurde, und krochen alle 4 zum Vater ins Bett, auf jede Seite 2, eins weiter oben, eins mehr nach unten, und kuschelten sich als Kugel oder kloßähnliche Gebilde an den Va­ter heran. Die 4 hellhäutigen Kinderkörper in weißen Nachtgewändern um den Vater mit seiner tiefbrünetten Gesichtsfärbung gruppiert – es war ein treffender Vergleich, wenn er diese Morgenbelustigung als „das Beefsteak mit Bratkartoffeln“ bezeichnete.
Seltsam kommt es mir vor, daß ich mich auf Kinder, mit denen in der Dörrienstraße Hanna und ich verkehrt hätten, nicht zu besinnen vermag. Vielleicht haben wir in jener Zeit nach der ersten Rückkehr keine Bekanntschaften gemacht. Ich weiß nur noch, daß Hildegard Fricke und Onkel Paul häufig mit uns zusammen waren. Erstere, eine Tochter des Pfarrers an der Peterskirche und späteren Geheimen Kir­chenrats Dr. Adolf Fricke, eines der gedankenreichsten und geist­vollsten Kanzelredners und zugleich wissenschaftlich bedeutendsten Professoren der Universität, war wenige Jahre älter als Hanna, aber ihr und in meinen Kinderjahren auch mir eine gute Freundin. Von ihr wird im weiteren Fortgang dieser Niederschrift noch zu reden sein. Onkel Paul war der einzige Sohn aus meines Großvaters zweiter Ehe. Fast 29 Jahre jünger als mein Vater und keine 7 Jahre älter als ich, hatte er zwar Anspruch auf den Onkeltitel, machte aber im Ver­kehr mit Nichte und Neffen davon nicht Gebrauch, sondern gab sich als der ältere Spielgefährte. Umgekehrt hatte er in seinen jüngsten Jahren bei seinen Spielunternehmungen sich seines längst erwachse­nen Bruders, meines Vaters, als Gesellen bedient; aus dieser Zeit ist sein einen Spielvorschlag enthaltendes Diktum überliefert: „Martin, wir müssen Schweine sein!“ Als er mit uns spielte, prakti­zierte er bereits die verfeinerte Spielkultur des Gymnasiasten, was indessen nicht verhinderte, daß er an einem Weihnachtsabend im Zu­sammenwirken mit mir beim Spielen mit den neuen Zinnsoldaten die auf dem Tisch stehende Petroleumlampe zu Falle und dadurch einen mäßigen Zimmerbrand zur Entstehung brachte. Der Schreck fuhr beson­ders seiner anwesenden Mutter und seiner Großmutter, Frau Pollack, in die Glieder. Letztere wäre bei Blutsverwandtschaft meine Urgroß­mutter gewesen. Aber sie zählte bei uns als Großmutter, so daß wir uns viel darauf einbildeten im Gegensatz zu allen unseren Altersge­nossen stets mit 3 Großmüttern ausgerüstet zu sein. Auf Pauls spä­tere Schicksale und seinen tragischen Ausgang gedenke ich an ande­rer Stelle einzugehen.
Bei vier Kindern erwiesen sich die Räume in der Dörrienstraße als unzulänglich und da überdies die Wohnung, auf die bei der plötzli­chen Rückkehr von Düsseldorf rasch hatte zugegriffen werden müssen, meinen Eltern nie recht zugesagt hatte, so wurde jetzt ein Wechsel vorgenommen. Wir zogen entweder im Oktober 1877 oder im April 1878 in eine dritte Etage des Hauses Zeitzer Straße 24 d, später 49 – diese Nummer führt es noch heute, während die Straße nach dem Durchbruch des Nazismus Adolf-Hitler-Straße genannt worden ist, von welcher Entwürdigung sie wohl bald – ich schreibe am 18. Mai 1945 in Jena – gereinigt werden wird. Die neue Wohnung, bei deren Be­sichtigung durch meinen Vater ich zugegen gewesen war, hatte auch mein kindliches Gemüt von vorneherein entzückt. Sie hatte große, fast sämtlich parkettierte und nach dem damaligen Geschmack mit üp­pigem Deckenstuck und zum Teil gemalten Wänden ausgestattete helle Zimmer und einen Balkon, von dem aus man gegen Süden bis nach Con­newitz ans Kreuz und nach Westen über den Johanna Park hinwegblic­ken konnte. Mein Vater, der ein sehr scharfes Auge besaß, hat von unserem Balkon aus seine Uhr nach der Turmuhr der Lutherkirche ge­stellt, die gegen Ende der achtziger Jahre errichtet wurde. Das Wohnhaus war erst wenige Jahre alt; Erbauer, Eigentümer und Vermie­ter war ein Baumeister Uhlmann, der auf dieses sein Werk all sein beträchtliches Können und seine ganze Liebe verwendet hatte. Auch viel anspruchsvollere Mieter als wir hätten sich in dieser Sieben-Zimmer-Wohnung wohl fühlen müssen. Deshalb nahm mein Vater, als wir sechs Kinder herangewachsen waren und mehrere eigene Räume brauch­ten, die auf demselben Stockwerk gelegene zweite Wohnung hinzu, die mit der unsrigen durch eine Tür zusammenhing. In den dreizehn Zimmern, die unsere Familie nunmehr innehatte, hat sich meiner El­tern und ihrer Kinder häusliches Leben während fast meiner ganzen Jugend, wohl bis ins Jahr 1894, abgespielt. Und diese Jugend ver­lief, wenn ihr auch ernste, selbst sorgenvolle Erlebnisse nicht gänzlich fernblieben, doch so hell, freudig und glücklich, daß ich noch heute nicht an dem Hause vorübergehen kann, ohne dankbaren Au­ges nach unseren Fenstern zu blicken. Das Äußere des Gebäudes hat im Laufe der Jahrzehnte und infolge der Umwandlung der Straße in eine ausschließliche Hauptverkehrsstrecke an Ansehnlichkeit erheb­lich eingebüßt; auch der kleine ziervolle Vorgarten vor der Parterrewohnung ist bei deren Umgestaltung zu Läden weggefallen – aber meine Erinnerungen bejahen trotzdem den Vers: „Geblieben ist uns doch der Kern und den laßt fest uns halten!“[59]
In die Zeitzer Straße verlegten zufällig alsbald auch Frederkings und die Großmütter Drucker und Pollack ihre Wohnungen, erstere in ein auf der rechten Seite zwischen der Hohen- und der Sidonien­straße gelegenes, letztere in ein Haus zwischen Emilien- und Al­bertstraße. Dieses Zusammenrücken brachte eigentlich nur in strengen Wintern eine gewisse Bequemlichkeit. Weihnachten wurde nämlich dreimal mit Bescherung und Familienessen gefeiert: am Heiligen Abend bei meinen Eltern, am ersten Feiertage bei Frederkings, am zweiten bei den Großmüttern. Als Anwohner derselben Straße blieben uns weite Wege, die beim Mangel an Fahrgelegenheiten im Winter und mit der Last von Geschenken im Winter recht unangenehm hätten wer­den können, erspart. Eine Temperatursteigerung des Familiengefühls hat die räumliche Annäherung nicht bemerken lassen.
Noch vor dem Umzug, nämlich Ostern 1876, war ich in die Schule ein­geführt worden, also im Alter von 6 ½ Jahren. Die geltende Vor­schrift ließ zum Ostertermin nur die Aufnahme solcher Kinder zu, die bis zum 1. Juli des laufenden Jahres das sechste Lebensjahr vollendet hatten, während mein Geburtstag in den Oktober fiel. Schulbeginn zu Michaelis kannte man nicht. Ich war also für Elemen­tarunterricht eigentlich recht alt. Nach meiner Ansicht, die sich im Laufe der Jahrzehnte gebildet und gefestigt hat, sollte das Nor­malalter für den Eintritt in die Schule auf 5, allenfalls 5 ½ Jahre festgelegt werden. Der Zeitgewinn schon von einem halben Jahr ist beim Eintritt in die Lehre oder den Übergang auf die Hochschule von größter Wichtigkeit, nicht nur zugunsten des Einzelnen, sondern für das ganze Volk. Voraussetzung ist das Vorhandensein einer genügen­den Anzahl vortrefflicher Elementarlehrer, die mit geübtem Blick erkennen und mit Wohlwollen anwenden, was jedem Kinde zuzumuten ist. Es mag sein, daß diese Art Lehrer im letzten Jahrzehnt selten geworden ist, weil der Nationalsozialismus an die Stelle einer ethischen Erziehung und Belehrung der Jugend die Hanswursterei des Pimpfwesens und die Schändlichkeit der vormilitärischen Ausbildung gesetzt hatte und dazu statt wirklicher Lehrer Propagandisten und Korporale brauchte. Wenn diese Spottgeburten verdrängt sind, wird es wieder genug rechte Lehrer geben. Daß ich solche gehabt habe, glaube ich; daß meine Kinder auf solche getroffen sind, weiß ich, wiewohl sich auch Ausnahmen bemerkbar gemacht haben. Mein erster Lehrer in der 8. Klasse der Ersten Höheren Bürgerschule an der Kreuzung der Schiller- und der Universitätsstraße hieß Richter. Da er auch in den Unterklassen der Thomasschule Rechenunterricht er­teilte, wurde er zur Unterscheidung von zahlreichen gleichnamigen Kollegen allgemein der Rechen-Richter genannt. An der Thomasschule galt er als streng. In seiner achten Klasse hielt er zwar auf Ord­nung und Gehorsam, machte uns aber das Leben nicht schwer. Der Schule waren weitere Ziele gesteckt, als den anderen Bürger- und den Bezirksschulen, aber Richter erreichte sie mit seiner aus etwa 40 Jungen bestehenden Klasse anscheinend mühelos ohne Prügeln und Schimpfen. Derartiges hätte auch der Direktor Reimar[60] nicht gedul­det. Dieser Mann, der sich auch als Schulschriftsteller z. B. durch eine ausgezeichnete Bearbeitung deutscher und klassischer Sagen ei­nen Namen gemacht hatte, wurde geradezu als das Muster eines Päd­agogen geschätzt und verehrt. Energie, von der er, wo es angezeigt schien, Gebrauch zu machen verstand, paarte sich in ihm mit verste­hender Güte, die aus seinen Augen sprach. Ich war schon längst Stu­dent, als ich noch gern die Gelegenheit ihm zu begegnen wahrnahm – seine Wohnung befand sich in der Braustraße in unserer nächsten Nachbarschaft – nur um ihn zu grüßen und dafür seinen Dank in einem freundlich herzlichen Blick zu empfangen.
Das erste Schuljahr schloß, wie alle späteren, mit einer Veranstal­tung, die, wo sie etwa heute noch besteht, schleunigst abgeschafft werden sollte; sie hieß öffentliches Examen. Die Schüler wurden, angetan nicht etwa mit ihrer gewöhnlichen Kleidung, sondern mit ih­ren Festtagsanzügen, manche wohl sogar mit ganz neuem, eigens für den große Tag beschafften Habit im zweigliedrigen Zuge unter Voran­tritt des Klassenlehrers aus dem die Klassenzimmer enthaltenden Flügel des großen Halbrundgebäudes lautlos nach dem Mittelbau ge­führt, wo sich der Schulsaal befand. Das geschah mit feierlichstem Ernst. Nachdem sich die Portale des Allerheiligsten geöffnet hat­ten, wurde, wie tags zuvor geübt worden war, auf einige der in der Mitte stehenden Bankreihen hingeschritten, wo jedes Schülers Platz vorher bestimmt war. Hatte man klopfenden Herzens sich niederlassen dürfen, so bemerkte man sich gegenüber zu einem Tische und dahinter sitzend den Direktor und eine Anzahl anderer würdiger Männer, deren einige man als Lehrer anderer Klassen identifizierte. Aber im übri­gen war der ganze Saal von Eltern, Geschwistern, Verwandten und Be­kannten der Schüler und nicht nur der jeweils vorgeführten Klasse gehörigen, besetzt, denn es war ja eine öffentliche Prüfung. Nun begann sie. Der Lehrer ließ lesen, führte mit den einzelnen Schü­lern und mit der ganzen Klasse Kopfrechnen vor, stellte Fragen aus dem Anschauungsunterricht, wie in jenen Jahren das allgemeinste Lehrfach genannt wurde. Die seriöse Lehrerreihe und die anwesende Volksmenge bedrückte wohl alle Examinanden, so daß sie unruhig und ängstlich den Examinator anstarrten und Fragen, die ihnen im Klas­senzimmer keine Schwierigkeit bedeutet hätten, gar nicht oder schief beantworteten. Wenn dann gar noch aus dem Publikum bei einer drol­ligen Antwort ein fröhliches Lachen ertönte oder die Frau Mama ei­nes Schülers sich durch sein Versagen sichtlich bloßgestellt gebär­dete, war es mit der Fassung manchen Schülers vorbei. Denn – und das war das Proton Pseudos[61] der ganzen Zeremonie – wir wußten ja nicht, daß diese öffentliche Prüfung ganz überflüssig und bedeu­tungslos war, daß sie in keiner Weise auf die Beurteilung der Lei­stungen, die Zensuren oder gar auf die Versetzung Einfluß hatte, sondern eben nur den Charakter einer theatralischen Darbietung mit ungeübten Eleven besaß.
Während der nächsten drei Schuljahre hatten wir als Klassenlehrer einen etwas älteren Mann namens Lahse, dem auf seinen Wunsch ge­stattet worden war, diese Klasse bis zum Abgang der Mehrzahl der Schüler an die höheren Lehranstalten zu führen. In einigen Fächern unterrichteten uns andere Lehrer, aber die erzieherischen Aufgaben blieben in Lahses Hand. Diesen Lehrer habe ich und haben wohl die meisten Mitschüler aufrichtig geliebt. Ich glaube nicht, daß ihm gegenüber jemals eine Ungezogenheit oder gar Rüpelhaftigkeit began­gen worden ist. Alle versuchten, sowohl durch gutes Betragen wie durch ihre Arbeit seine Zufriedenheit sich zu sichern. So kam es, daß, wie bei der Entlassung Ostern 1880 der Direktor Reimar aus­drücklich betonte, die Klasse besonders gute Leistung aufzuweisen hatte. Die Aufnahmeprüfungen für die verschiedenen höheren Schulen waren von allen abgehenden Schülern bestanden worden. Auf Veranlas­sung mehrerer Eltern wurde mit Genehmigung der Schulbehörde dem verehrten Lehrer in seiner in der Kurprinzstraße gelegenen Wohnung ein Abschieds- und Ehrengeschenk überreicht. Eine redegewandte Mut­ter hielt eine Ansprache, wir sangen vorher und nachher, der also Geehrte dankte in bewegten Worten und gab jedem einzelnen von uns einige herzliche Sätze mit auf den Weg. Das alles war keine pompöse Angelegenheit, ist mir aber unvergeßlich geblieben wohl als die er­ste feierliche Glückwunschcour, bei der ich mitgewirkt habe.
Ostern 1880 trat ich in die Sexta B der Thomasschule ein, die we­nige Jahre vorher aus dem alten Gebäude am Thomaskirchhof in den geräumigen und sehr praktisch eingerichteten Neubau an der Schre­berstraße übergesiedelt war. Die neun Jahre, die ich auf dieser be­rühmten Pflegstätte der humanistischen Bildung verbracht habe, zei­gen der rückschauenden Betrachtung so viele Vorgänge und Zustände, die mein späteres Leben geformt, geregelt und ihm Gehalt verliehen haben, daß ich bei dem Versuche, hier eklektisch über den Verlauf dieser Zeit im Gymnasium und außerhalb zu berichten, bestenfalls ein Mosaik, aber kein Gemälde zustande bringen werde. Lückenhafte Registratur in pragmatischer Geschichtsschreibung zu erheben ist mir nicht gegeben. Ich muß es beim Streuen kleiner Blumen, kleiner Blätter bewenden lassen.
Die Aufnahmeprüfung hatte ich sehr gut bestanden. Das war nicht rühmenswert, sondern fast zwangsläufig Folge des ausgezeichneten Unterrichts bei Richter und Lahse. Daß an die Stelle der idylli­schen Gemütlichkeit des Bürgerschulenbetriebs jetzt eine tüchtige Anspannung aller Kräfte treten würde, hätten wir vom ersten Tage an gemerkt, auch wenn uns der Klassenlehrer Curt Cramer nicht darauf hingewiesen hätte. Setzte doch der Lateinunterricht mit der ganzen Eindringlichkeit ein, die auf der Thomasschule traditionell war und unabdingbar blieb, wollte sie ihren altbegründeten Ruf als unüber­treffliche humanistische Anstalt nicht aufs Spiel setzen. Rektor war bei meinem Eintritte und bis Ostern 1881 noch August Eckstein[62] einer der berühmtesten Lateiner seiner Zeit, der für einen diese Sprache nicht fließend handhabenden Primaner nur Befremden und Ge­ringschätzung, aber kein Verständnis gehabt hätte. Deshalb mußte schon in der untersten Klasse nicht nur gelehrt und gelernt, son­dern – nicht im üblen Sinne – gepaukt und gebüffelt werden. Die von der Schulbehörde festgesetzte Zahl der wöchentlichen Unter­richtsstunden für Latein, meines Erinnerns im Sexta sechs, reichte für die Ansprüche der Thomana nicht aus; es gab soviel Hausaufga­ben, daß ihre Bewältigung für alle Fächer täglich auch bei guten Schülern mehrere Stunden erforderte. In Sexta hat diese häusliche Anstrengung mich nicht weiter angefochten. Aber in späteren Jahren, als ich Sekundaner war, ist es mehrmals vorgekommen, daß mein Vater mir eine Bescheinigung des Inhalts mitgab, ich hätte trotz sechs­stündiger Hausarbeit (bei sieben Stunden vorausgegangenem Tagesun­terricht!) das Pensum nicht zu bewältigen vermocht. Diese Überbür­dungen traten dann ein, wenn der Ordinarius sich nicht mit den üb­rigen in seinem Cötus unterrichtenden Lehrern über den Umfang der Hausaufgaben zu einigen verstand, so daß ein jeder lustig darauf los fuhrwerkte. Was dabei schon in drei Fremdsprachen (Latein, Griechisch, Französisch) und Mathematik, selbst ohne Geschichte, Religion und Deutsch, heraus kam, lässt sich unschwer vorstellen.
Der erste Schultag gewann auch außerhalb des Unterrichts eine er­hebliche Bedeutung. Mich begleitete einer der neuen Mitschüler nach Hause, wo wir mit mütterlicher Erlaubnis in meinem Schülerzimmer dem beliebten Aufschlagspiel oblagen. Dieser Junge hieß Otto Schneider und war der Sohn einer Lehrerwitwe, die am Roßplatz in dem dort noch heute bestehenden Hotel Wartburg wohnte. Otto Schnei­der kam an den nächsten Tagen bald wieder. Daraus entwickelte sich, daß er acht Jahre lang, bis er als Oberprimaner in das Alumnat auf­genommen wurde, fast täglich am späten Nachmittagen zu uns kam, hier auch seine Schularbeiten erledigte und an den Mahlzeiten teil­nahm. Er wuchs mit meinen Geschwistern und mir, insbesondere mit uns vier „Großen“ auf. Daß er bereits Ostern 1881 im Unterricht von mir getrennt, nämlich einer Parallelklasse zugeteilt wurde, blieb ohne Einfluß. Ein besonders freundliches Verhältnis entstand zwi­schen ihm und meiner Großmutter Constanze Klein, die sich seines leiblichen Wohls mit aller Beflissenheit annahm. Damit er aus Be­scheidenheit am Eßtische nicht zu kurz komme, schob sie ihm immer wieder die Schüsseln zu mit der stereotypen, bei uns zum geflügel­ten Wort erwachsenen und in unserem Familienkreise bei jeder Mahl­zeit zwischen uns Geschwistern gewechselten Aufforderung: „Nimm Dir Otto!“ Gesprochen: Nimmsderotto.
Otto Schneider hat nach vorzüglichem Abiturientenexamen Theologie studiert und wurde mit dem Titel Lic. theol. zunächst Geistli­cher, ging aber dann ins Schulfach über und ist (wohl 1936) als Gymnasialprofessor in Berlin gestorben. Im Weltkriege war er als Militärpfarrer an der Front gewesen. Bezeichnend für den Wirrwarr, den bedenkenlos die Nazis angerichtet haben, ist die Tatsache, daß 1933 dieser Lic. theol. Professor Otto Schneider, also doch wahr­lich eine leicht zu identifizierende Persönlichkeit, aus dem von ihm bewohnten seiner Frau gehörigen Hause in Berlin in Schutzhaft abgeführt und mehrere Wochen dort festgehalten wurde, bis sich zu seinem Glück herausstellte, daß gar nicht er hatte verhaftet werden sollen, sondern ein andrer Mann namens Schneider, der keinen Titel hatte, auch gar kein Akademiker war und in einer anderen Straße wohnte!
Das Freundschaftsverhältnis zwischen Otto Schneider, meinen Ge­schwistern und mir hat bis zu seinem Tode bestanden, wenn man sich auch infolge der räumlichen Trennung und starker Inanspruchnahme später nur noch selten sah und sich in der Regel bloß zu Geburtsta­gen und anderen Feier- und Gedenktagen schrieb. Seine Frau habe ich meines Erinnerns nur einmal gesehen, als er sie bald nach seiner Verheiratung uns in Leipzig vorstellte; mit seinem Sohne bin ich nie in Verbindung gekommen. So blühen und verwelken die Beziehungen von Mensch zu Mensch.
Am 2. September 1880 nahm ich zum ersten Male an einer Sedanfeier in der Thomasschule teil. Ich kann nicht selbst beurteilen, ob, wie mir oft erzählt wurde, es richtig ist, daß in keiner deutschen Stadt die Erinnerung an den Tag von Sedan alljährlich zu einem so die ganze Bevölkerung erfassenden Fest ausgestaltet worden ist wie in Leipzig. Im Mittelpunkte der Feiern, die wohl in jedem grösse­ren Gesellschaftssaal mit Festreden und Konzerten stattfanden, stand ein richtiges Volksfest mit Männerchören, Militärmusik, Volksbelu­stigungen aller Art, Brillantfeuerwerk und ungeheurem Al­koholkonsum auf den weiten Wiesen am Neuen Schützenhause[63]. Ich habe mit meinen Freunden in den höheren Gymnasialjahren fast re­gelmässig daran teilgenommen. Wie ernst diese Feste angesehen wur­den, erweist der Umstand, daß sogar mein Vater und sein Freund Leo Grill sich ein­mal, und zwar gerade 1880, dazu einfanden, obschon sie es sonst mit dem odi profanum vulgus[64] hielten. In jenem Jahre wurde der zehnte Gedenktag des kriegsentscheidenden Sieges began­gen, Grund genug, um auch den Schulaktus besonders großartig auf­zuziehen. Dazu gehörte auch, daß aus jeder der Neunklassenstufen ein Schüler ein patrioti­sches Gedicht zu deklamieren hatte. Wer dazu auszuerlesen sei, be­stimmte ein Lehrerausschuß nach Erprobung der von den Klassenleh­rern Vorgeschlagen. Aus den ungefähr 100 Sextanern der drei Cöten wurde ich gewählt. Ich war eingebildet genug, das für ganz richtig zu halten, weil nach meiner Ansicht die anderen Vortragskandidaten bei weitem nicht so ausdrucksvoll sprachen wie ich. Vermutlich wurde ich aber deshalb herausge­stellt, weil ich fast der aller­kleinste Sextaner war und weil mein von Dialektanklängen freies Deutsch gefiel, auch Anzeichen irgend­welchen Lampenfiebers nicht zu bemerken waren. So deklamierte ich denn am Sedantage vor der über­füllten Aula das kräftige Scheffel­sche Poem

Als die Römer frech geworden
zogen sie nach Deutschlands Norden.[65]

Beim Auditorium erntete ich einen stürmischen Heiterkeitserfolg, vom alten Eckstein ein freundliches Schulterklopfen nebst den Wor­ten: „Das war sehr gut, Drucker“.
Im Unterrichtsplan wurde ein ansehnlicher Teil der Wochenstunden durch Lehrgegenstände verbraucht, die mit geisteswissenschaftlicher Zielsetzung der Gymnasien nichts zu tun haben: Singen, Turnen, Zeichnen, Schreiben. Sollen diese Fächer in den Lehrplan einbezogen werden, so tut das Gymnasium ihnen wahrlich Ehre genug an, wenn es die Beteiligung an ihnen fakultativ gestaltet oder nur beim Vorlie­gen eines Mindestmaßes von Befähigung zuläßt. Wenn man einen Schü­ler, der Mühe hat in den Gymnasialfächern sich mit Anstand zu be­haupten, in Sing- und Zeichenstunden hineinzwingt, obwohl er völlig unmusikalisch ist und keine Singstimme besitzt, auch nicht die ein­fachste Figur zu Papier bringen vermag, so nenne ich das einen tö­richten Mißbrauch der Erziehungsgewalt. Schreiben ist freilich eine Hilfsfertigkeit. Wenn aber ein Gymnasiast nach vierjährigem Besuch der Elementarschule noch nicht gut, d. h. deutlich und sauber, zu schreiben weiß, so mag ihm die Teilnahme an weiteren Schreibkursen geboten werden. Diejenigen Gymnasiasten, die eine brauchbare Hand­schrift mitgebracht haben, soll man mit der Kalligraphie nicht be­lästigen. Turnstunden beeinträchtigen den wissenschaftlichen Unter­richt nur dann nicht, wenn sie den Arbeitstag beschließen; anderen­falls macht sich die körperliche Beanspruchung in Ermüdungserschei­nungen bemerkbar. Leibesübungen dürfen niemals obligatorisch auf dem Gymnasium vorgeschrieben werden. Man soll einem Jungen, der zum Geigenspiel gelenkige Finger braucht, nicht durch Tauziehen oder Exerzitien am Reck die Hände mit Hornhaut verschimpfieren. Was Sport oder dem Sport verwandt ist, mag ohne Zwang neben der Schule betrieben werden. Das muß auch von den freien Künsten gelten. Selbst Musikunterricht darf nicht allgemeines Lehrfach sein. Ich habe zwar an den Singstunden gern teilgenommen, weil ich eine gute Stimme hatte und vom Elternhause genug musikalische Kenntnisse mit­brachte. Aber viele meiner Kommilitonen waren und blieben völlige Versager, langweilten sich oder trieben Unfug und raisonnierten über die verlorene Zeit. Geradezu lächerlich ist mir immer der Zei­chenunterricht erschienen, der mehrere Jahre obligatorisches Fach war. Da sollte auf einem großen Bogen, der auf einem gewaltigen Zeichenbrett mit Reiszwecken befestigt war, ein Quadrat mit einer Seitenlänge von etwa 50 Zentimetern aus freier Hand gezeichnet wer­den! Ob das irgendjemand einwandfrei fertig bringt, weiß ich nicht; unter meinen Mitschülern bin ich keinem solchen Zauberer begegnet. Wer das Riesenquadrat abliefern wollte, um dann zur nächsten, ebenso unmöglichen Aufgabe, dem freihändigen Kreis, überzugehen, legte die Ecken mit einem Winkelmaß an und zog die Linien mit einem Lineal, worauf dann solange mit Wischer und Gummi an den Nieder­schlägen dieser streng verbotenen Hilfsmittel herumgedoktert wurde, bis sie nicht mehr entlarvt werden, sondern als freie Handarbeit erscheinen konnten. Ich verschmähte solche erschlichenen Lorbeeren und habe daher in den zwei Jahren obligatorischen Zeichenunter­richts niemals auch nur diese erste Zeichnung abgeliefert. Die in jeder Halbjahrzensur auftretende 5 ließ mich kalt, ebenso meine El­tern. Der Zufall hatte es gefügt, daß ich im Zeichensaale zwischen zwei Mitschülern saß, von denen der eine alsbald das Gymnasium ver­ließ und, wie ich nach Jahren erfuhr, ein namhafter Kunstmaler ge­worden ist, während der andre, der meine Unfähigkeit teilte, mich mit lustigen Erzählungen recht gut unterhielt. Ich gebe zu, daß ein geschickter Lehrer vielleicht doch etwas Brauchbares aus dem Zei­chenunterricht hätte machen können, trotz des vorgeschriebenen Rie­senquadrats. Aber der, dem unsre künstlerische Ausbildung anver­traut war, hatte wohl kein Interesse daran, alljährlich ein paar Dutzend ungeschickte Jungen zu Griffelkünstlern heranzubilden, wäh­rend sie doch Pastoren oder Ärzte werden wollten und sollten. Er blieb auf dem Katheter sitzen, wo er sich irgendwie beschäftigte, denn viel zu reden hatte er ja nicht bei diesem Unterricht. Tätig wurde er aber in der Schreibstunde. Da ging er nicht nur von Bank zu Bank, um in die Hefte zu blicken, sondern schrieb auch die Auf­gaben an die Wandtafel mit einem berückend schönen, das heißt gänz­lich charakterlosen Handschrift. Weil er wohl das Gefühl hatte, daß er als Seminarist von uns Gymnasiasten nicht für voll angesehen wurde, verfiel er auf die unglückliche Idee, lateinische Worte und Sätze vorzuschreiben. So lasen wir dann beispielsweise ein bekann­tes Sprichwort in dieser Fassung:

Errare humanorum est.[66]

Als sich darüber einige Quintaner lustig machten, setzte es Strafarbeiten. Solche zu provozieren war bei uns zum Klassenspaß ausgebildet worden. Sobald der Lehrer irgendetwas beanstandete, verfügte er eine Strafarbeit mit den lakonischen Worten: „zwei Sei­ten“. Sie bedeuteten, daß der Verurteilte in der nächsten Schreib­stunde zwei mit der letzten Aufgabe vollgeschriebene Seiten abliefern müsse. Auf diese Anweisung remonstrierte man mit den Worten: „Aber, Herr Fabian …“ Weiter kam man nicht, denn aus des Meisters Munde erklang sofort die Verdoppelung: „vier Seiten“. Der Schüler tat, als wolle er sich weiter rechtfertigen: „ich hatte nur …“ Darüber quittierte der Lehrer mit einer erneuten Verdoppelung: „acht Sei­ten“. Weil er sich dabei Notizen machte, um in der nächsten Stunde die Befolgung seiner Strafverfügungen kontrollieren zu können, stand wohl mancher vom höheren Reizen, wie man beim Kartenspiel sagt, ab. Der eine oder andere trieb aber die Herausforderung wei­ter. Den Gipfel der Frechheit habe ich in der letzten Stunde vor den großen Ferien in der Quinta erklommen, indem ich die arithmeti­sche Progression auf 64 Seiten Strafarbeit hinauftrieb. Angefertigt oder gar abgeliefert habe ich sie niemals. Erstens rechnete ich da­mit, daß der Lehrer bei Wiederbeginn des Unterrichts nicht danach fragen würde, zweitens verließ ich mich darauf, daß er keinesfalls weitere Maßnahmen gegen mich beim Rektor ergreifen könne, der si­cherlich einen solchen Unfug mit Strafarbeiten gemißbilligt hätte.
Einige Jahre später, als der obligatorische Schreibunterricht längst hinter mir lag, nahm mein Vater mich auf eine Fahrt an die Elbe mit, wo in dem Orte Diesbar-Seußlitz eine Familiensommerwoh­nung angeboten war, deren Beschreibung meinem Vater gefallen hatte. Wir fanden ein sehr hübsch gelegenes gut eingerichtetes Privathaus vor; auch die Bedingungen waren befriedigend, so daß mein Vater die Wohnung für mehrere Wochen für die Mutter und uns sechs Geschwister mietete; er selbst konnte immer nur übers Wochenende dort sein. Der Besitzer des Hauses und Vermieter war mein ehemaliger Schreib- und Zeichenlehrer Fabian! Er trug mir nichts nach, fragte auch nicht einmal nach den 64 Seiten. Der Aufenthalt verlief zur allseitigen Zufriedenheit.
Bei meinem Verhalten gegenüber diesem Lehrer wird es nicht weiter auffallen, daß ich schon in der Sexta vorm Ordinarius mit einer Stunde Carzer bestraft worden bin. Was ich verbrochen hatte oder haben sollte, weiß ich nicht mehr. Um einen Ulk, wie gegenüber dem Schreib-Lehrer, hat es sich sicherlich nicht gehandelt; derartiges kam bei der Persönlichkeit des Ordinarius mir nicht in den Sinn. Wahrscheinlich hatte er mir irgendeinen Vorhalt gemacht oder eine Rüge erteilt und ich hatte darauf widersprochen, weil ich mich im Rechte fühlte. So habe ich mich während der ganzen Schulzeit ver­halten, niemals einen meines Erachtens ungerechten Vorwurf still­schweigend hingenommen, sondern mich stets zur Wehr gesetzt. In den späteren Jahren wurde ich aus solchem Anlasse nicht mit Carzer bestraft, sondern allenfalls in der Zensur für Betragen gedrückt. Aber bei dem Sextaner hat der Lehrer Cramer, bei dem ich übrigens sonst einen guten Stand hatte, vermutlich nach dem Satze principii obsta[67] ein Exempel statuieren zu sollen geglaubt. Genützt hat es nichts. Ich war viel zu unnachgiebig. Die Verbüßung der Strafe hatte auch nichts Abschreckendes an sich. Carzer war eine custodia honestissima[68]. Ich wurde an einem Sonnabend nachmittag vom Schul­hausmeister auf die Dauer einer Stunde in einem kleinen, sauberen, hellen, warmen und mit Tisch und Stuhl eingerichteten Raum im Un­tergeschoß des Schulgebäudes eingeschlossen, von wo ich freien Blick über den Hof hatte, auf dem einige Alumnen sich mit einem Be­wegungsspiel die Zeit vertrieben.
Meine Unnachgiebigkeit gegenüber Vorhalten, wenn ich sie für unbe­rechtigt hielt, hat mich durch mein ganzes Leben begleitet. Diese Haltung hat mir manchmal Schwierigkeiten, auch Nachteile bereitet, aber zu bereuen vermag ich sie auch jetzt im letzten Greisenalter nicht. Denn worauf immer sich eine Überzeugung bezieht, so ist sie doch eben Überzeugung und darf deshalb nicht preisgegeben werden, wenn der Mensch sich nicht selbst verleugnen, sich untreu werden, sich selbst belügen und betrügen will. Nach meinem sechzigsten Ge­burtstag erschien in der Berliner Anwaltszeitung aus der Feder Pin­ners ein Artikel, der die von mir als Präsidenten des Deutschen An­waltvereins verfolgte Standes-Politik kritisierte und mir entgegen­hielt, ich kennte in Überzeugungsfragen keine Kompromisse. Das sollte ein ernster Tadel sein; ich aber nahm es mit Stolz auf.
Die Überzeugungstreue, die sooft als Hartnäckigkeit gemißbilligt wird, hat einen illegitimen Halbbruder, den Trotz. Gegen ihn schreitet man bei Kindern mit allerlei Strafen ein. Das halte ich für ein recht fragwürdiges Experiment. Nur willensschwache Kinder beugen sich der Strafe, ehe sie unerträglich wird. Bereitet sie aber wirkliche Schmerzen, so ist ihre Anwendung zwecks Erzielung von Nachgiebigkeit kaum minder verwerflich als die Erpressung von Ge­ständnissen durch Folter. Gegen Trotz, Widerspenstigkeit, Bockig­keit bei Kindern soll eingeschritten werden, auch maßvoll mit Stra­fen, aber nicht mit Leibesstrafen. Es muss in dem Kinde die Ein­sicht in sein Unrecht erweckt werden. Das ist mühsam und oft lang­wierig, aber wirksam. Den Einwand, daß kleine Kinder noch nicht reif für das Verständnis ihrer Unarten seien, lasse ich nicht gel­ten. Fehlt dem Kinde die Einsicht, so muß man warten, bis sie ge­wonnen ist. Ob diese Ausführungen Allgemeingültigkeit besitzen, weiß ich nicht. Meinen Erfahrungen entsprechen sie. Ich habe fünf Geschwister und vier Kinder neben mir aufwachsen sehen und beo­bachte jetzt zwei Enkelsöhne, ganz zu geschweigen von den Wahrneh­mungen in anderen Familien. Vor allem aber hat mein eigenes Bei­spiel mich über die Wirkungslosigkeit von Strafen und die Nützlich­keit der Einsicht bei der Überwindung übler Gemütsäußerungen be­lehrt. Das ist der Grund, aus dem ich in dieser Niederschrift auf diese Erziehungsprobleme kurz eingehe. In meinen Kinderjahren zeigte sich bei mir eine weit schlimmere Eigenschaft als Trotz, der ja passiver Widerstand ist, nämlich eine starke Neigung zu leiden­schaftlichem Aufbrausen, oft gesteigert bis zum Jähzorn. In blinder Wut ging ich gegen Menschen und Dinge vor, schrie und tobte. Als Strafe für mich und zum Schutz der anderen wurde ich bei solchen Anfällen in der Schrankstube eingesperrt, einem Raum, dessen Be­stimmung im Namen ausgedrückt wird. Hatte ich mich beruhigt, so fühlte ich mich todunglücklich. In meinem zwölften Lebensjahre hatte sich wiedereinmal eine besonders schlimme Szene ereignet. Mein Vater hatte schließlich in sichtlicher Erregung das Haus ver­lassen, um sein Bureau aufzusuchen, meine Mutter sah ich, als ich wieder zur Vernunft kam, in tiefer Niedergeschlagenheit bei einer Handarbeit. Ich näherte mich ihr langsam, angstvoll und beschämt, und bat sie, doch wieder gut zu sein. Da zog sie mich zu sich heran und begann, in ebenso sanften wie eindringlichen Worten mir ausein­anderzusetzen, daß es doch so mit mir nicht weitergehen könne. Der liebe Vater – dieses Eigenschaftswort wurde, wenn die Mutter von ihm mit uns Kindern sprach, niemals weggelassen – sei ganz unglück­lich und sie selbst auch. Sie hätten daran gedacht, mich in eine auswärtige Erziehungs­anstalt zu geben, aber darüber müßten sie sich doch als Eltern schämen und derartiges wolle ich ihnen doch nicht antun. Ich sei doch sonst ein guter Junge, der seinen Eltern viel Freude mache; wir alle hätten einander doch so lieb, ich müsse doch für die Ge­schwister ein gutes Beispiel sein. Sie sagte noch man­cherlei; ich war zerknirscht und wagte nur zu äußern, daß mein Ver­halten mir selbst ganz schrecklich sei, aber ich könne nichts da­für; wenn die Erregung über mich komme, sei es schon zu spät. Da aber erwiderte meine Mutter gütig und liebevoll, sie habe sich überlegt, ob sie mir helfen könne, und wolle es versuchen, wenn ich ihr fest versprechen könne, darauf einzugehen. Die Aussicht nahm mir einen Stein vom Herzen, bereitwillig gab ich das Versprechen. Nun sagte die Mutter, der Versuch sei ganz einfach. Sie werde stets, wenn sie bemerke, daß der Zorn in mir aufsteigen wolle, mich fest ansehen und mir zurufen: „Martin, Martin, denk an Dein Ver­sprechen!“ Das könne wohl helfen, aber nur dann, wenn ich immer daran dächte, daß ein braver Mensch sein Wort hält. Meine reuevolle weiche Stimmung wich unter den zarten bezwingenden Worten der ge­liebten Mutter der frohen Hoffnung, daß noch alles gut werden könne. In dieser Stunde habe ich mir gelobt, dem treugemeinten Vor­schlag der Mutter zu ge­horchen, soweit es in meinen Kräften stehe. Fester und fester prägte sich mir die Mahnung ein: „Du hast Dein Wort gegeben, das mußt Du und wirst Du halten!“ Von dieser Bindung an das Ehrgefühl her habe ich an mir gearbeitet. Leicht wurde mir anfänglich der neue Weg nicht, denn der Jähzorn ist eine vom Willen unabhängige Gemütsabirrung. Die Mutter hat manchmal die Warnung aussprechen müssen. Dann stutzte ich, und sie blieb nie wirkungs­los. Mit der Zeit vollzog sich in mir eine seltsame Wandlung. Ich hörte im kri­tischen Augenblick die Ermahnung, ehe die Mutter sie aussprach; später sogar, wenn die Mutter nicht zugegen war. So bin ich nach und nach durch verzeihende und verstehende Mutterliebe von der Gei­ßel des Jähzorns befreit worden.
Meine Mutter ist es auch gewesen, die in meiner ersten Gymnasial­zeit meine Schwester Hanna und mich über unsere Abstammung aufge­klärt hat. Am Mittagstisch kam das Gespräch, vermutlich infolge ei­ner Erzählung Hannas aus der Religionsstunde, auf den Unterschied der Konfessionen. Unter unseren Mitschülern gab es wohl ein paar Juden und, ganz vereinzelt, auch mal einen Katholiken. Tief war ich in die Unterschiede der Bekenntnisse nicht eingedrungen. Aber ich schwang mich zu der religionskritischen Bemerkung auf: „Richtig sind doch nur wir Evangelischen. Die Katholiken haben zuviel Göt­ter, die Juden zu wenig.“ Am Nachmittage rief die Mutter Hanna und mich zu sich und kam auf die von mir ausgekramte Weisheit zu spre­chen. Es sei Unrecht, daß ich mich wegwerfend über Andersgläubige geäußert hätte. Davon verstünde ich doch noch nichts. Man müsse den Glauben anderer auch achten. Unser Vater sei selbst als Jude gebo­ren worden und erst später zur christlichen Religion übergetreten. Aber seine Eltern seien doch Juden  geblieben und es könne ihn kränken, wenn sein Sohn deren Glauben als minderwertig ansehe. So ungefähr lautete die Belehrung. Sie ließ uns zum ersten Male ahnen, was Toleranz ist. Von außen war dieser Begriff noch nicht an uns herangetreten, denn in jenen Jahren machte in Leipzig die Intole­ranz sich noch nicht bemerkbar. Daß mein Vater von Juden abstamme, erhöhte in eigenartiger Weise meine Selbstachtung. Die Erzväter, die im Schullehrbuch für Biblische Geschichte abgebildet waren und dort im persönlichen Verkehr mit Gottvater gezeigt wurden, traten in meine Vorstellung als meine eigenen Urahnen, an denen, wie mir schien, meine Mitschüler keinen Anteil hatten. Diese Auffassung be­hielt ich zwar für  mich, aber sie nährte meinen Stolz.
Im Gymnasium wurde ich Ostern 1881 nach Quinta versetzt. Die Ver­setzungen und die Platzanordnung in den neuen Klassen, Location ge­nannt, wurden in einem allgemeinen Schulaktus bekanntgegeben. In diesem Jahre war er mit erhöhter Feierlichkeit ausgestattet, denn das Rektorat ging vom alten Eckstein auf den jugendlichen Emil Jungmann über und gleichzeitig wurde der soeben von einer Studien­reise zurückgekehrte Stürenburg Konrektor. Erst in späteren Jahr­zehnten habe ich vollständig zu verstehen vermocht, welche gewal­tige Wirkung dieser Rektorwechsel für die Thomasschule und, da die Mehrzahl ihrer Abiturienten in Leipzig verblieben sein wird, für die gebildeten Kreise meiner Vaterstadt gehabt hat. Eine Persön­lichkeit von der Vornehmheit, Kultur, Gelehrsamkeit und Weltweis­heit Jungmanns wird kaum jemals anderswo jahrzehntelang die Leitung eines großstädtischen Gymnasiums in der Hand gehabt haben. Das lag bei jenem Aktus noch in undurchsichtiger Zukunft und außerhalb mei­ner Quintanereinsicht. Aber die Feier nahm mich gefangen. Schon das Gesangsprogramm der Alumnen war noch gewichtiger als sonst. Nach dem kurzen Jahresbericht Ecksteins, mit dem er zugleich sich von der Schule verabschiedete, hielt der Primus Omnium – der hieß Beer[69] und ist ein hochangesehener Lehrer des Staats- und Völker­rechts geworden – eine Dank- und Abschiedsrede an Eckstein in la­teinischer Sprache. Mit meinem Sextanerwissen verstand ich nur man­ches, aber ich nahm an, daß ich in einigen Jahren ebenso gelehrt sein würde, und mein Stolz schmückte sich mit diesen Vorschußlor­beeren. Eckstein antwortete unverzüglich. Ich höre noch den Beginn: Primane doctissime mi fili![70] Darauf folgten mehrere Reden teils zur Verabschiedung und Verherrlichung Ecksteins, teils zur Einführung und Begrüßung Jungmanns, der auch selbst kurz sprach. Ich sah an diesem Tage zum ersten Male den Patron der Schule, den Vizebürger­meister Dr. Tröndlin, einem früheren Anwalt. Damals bestand in Leipzig die sehr verständige Einrichtung, daß die städtische Schul­behörde je ein Mitglied der Stadtverwaltung in ein engeres Verhält­nis zu jeder höheren Lehranstalt treten ließ. Das war der Patron, der sich verpflichtet fühlte, für die ihm anvertraute Schule ganz besonders zu sorgen. Dr. Tröndlin stand wohl auch hinter der Eh­rung, die dem scheidenden Eckstein durch Aufstellung seiner Marmor­büste an diesem denkwürdigen Tage dargebracht wurde. Ich verließ die Aula in dem Bewußtsein, einer überaus vornehmen Gemeinschaft anzugehören. Der Thomanerstolz, der sich über andere Schulen erha­ben fühlte, hatte von mir Besitz ergriffen. Aber im übrigen eröff­nete sich beim Übergang in die Quinta eine düstere Perspektive. Der Ordinarius Dr. Albrecht, der, weil er in den Unter- und Mittelklas­sen den neusprachlichen Unterricht erteilte, als „der Franzose“ be­zeichnet wurde, war als ein ungemein strenger und finsterer Mann verschrien und gefürchtet. Seine äußere Erscheinung schon schüch­terte uns ein. Er trug sich mit gewählter Eleganz; der stets ge­schlossene schwarze Gehrock über modern gestreifter Hose und spie­gelblankem Schuhwerk distanzierte ihn in gewisser Weise von Kolle­gen und Schülern, überhaupt vom ganzen Unterrichtswesen. Auf der schlanken Figur saß ein mit ersichtlich gepflegtem, unterm Kinn ge­teiltem blonden Vollbart gezierter sorgfältigst frisierter Kopf. Niemand hätte hinter dieser diplomatischen Aufmachung einen Pädago­gen vermutet. Was aber die Physiognomie und damit den ganzen Mann charakterisierte und wodurch er so abschreckend wirkte, war der aus den Augen so oft hervorbrechende stechende Blick, der uns Kindern durch und durch ging. Solchen Ausdruck habe ich nie wieder bei ei­nem Menschen, sondern nur im Zoologischen Garten bei gereizten Großkatzen bemerkt. Wenn Albrecht diesen grausamen Blick auf die Klasse oder gar einen einzelnen Schüler heftete, erzitterte alles im Vorgefühl des Zornausbruches, der in der Regel folgte. Mit Schlägen wurde zwar niemand mißhandelt, aber die Worte, die wir an­hören  mußten, strotzten dermaßen von Wut, Gehässigkeit und Verach­tung, daß sie Schlimmeres als Prügel befürchten ließen. Es ist mir, namentlich seitdem ich mich mit Psychologie und Psychiatrie gründ­licher befaßt habe, unbegreiflich, daß seiner Zeit die Krankheit des Lehrers nicht früher erkannt worden ist. In einer Lehrstunde, die er uns als Tertianern gab, brach sie aus: bald tobte er, bald fürchtete er sich vor einem kleinen, völlig harmlosen Schüler, der ihm als ein springendes Eichhörnchen erschien, kurzum, er redete so irres und wirres Zeug, daß einige von uns Hilfe im Lehrerzimmer suchten. Seit diesem Tage haben wir Albrecht nie wiedergesehen; er war wegen Verfolgungswahnsinns in eine geschlossene Anstalt über­führt worden.
Aber als mein Ordinarius in Quinta und Quarta hat er die Befürch­tungen, mit denen ich unter seiner Erziehungsgewalt trat, nicht wahr gemacht. Es kamen zwar ein paar maniakalische Anfälle, von uns natürlich als solche nicht erkannt, vor und setzten uns in Angst und Schrecken. Der Lehrer hielt auch mit Strenge darauf, daß die hochgeschraubten Anforderungen, die er an die Klasse stellte, von jedem nach Maßgabe seiner Fähig­keiten erfüllt wurden. Aber der Un­terricht schien mir ganz vorzüg­lich zu sein. Albrecht gab sich alle Mühe, uns eine gute, von säch­sischen Anklängen nicht verdorbene Aussprache des Französischen beizubringen, das er infolge längeren Aufenthalts in Frankreich pa­riserisch beherrschte. Sein Lateinun­terricht führte uns nicht nur in den Wortschatz und die grammatika­lischen Regeln ein, sondern vor allem in den Geist der Sprache und in dessen Abweichungen von der deutschen. Er trieb wirklich ver­gleichende Sprachwissenschaft mit uns Quintanern, soweit er darin glaubte gehen zu können. Mir ist ein gutes Beispiel in Erinnerung geblieben. Im Übungsbuch fand sich der Satz: Aqua frigida est libe­ris noxia. Albrecht wies uns darauf hin, daß es eine Sünde gegen den Geist der deutschen Sprache bedeu­ten würde, wenn man in ihr bei Wiedergabe des gleichen Gedankens das Prädikatsadjektiv deklinieren wollte. Der Lateiner muß denken und sprechen: Die kalte aqua ist den Kindern eine schädliche. Die deutsche Sprache empfindet und sagt nur: Kaltes Wasser ist den Kindern schädlich. Diese Be­lehrung hat sich mir tief eingeprägt. Sie tritt mir immer wieder vor Augen, wenn ich nicht nur im Zei­tungsjargon, sondern auch bei im allgemeinen ein sauberes Deutsch schreibenden Autoren – es sind anerkannte Dichter darunter – jenem Fehler begegne: „Die Wirkung war eine vorzügliche“, „der Lärm war ein gewaltiger.“ Ich flüstere dann stets: „O weh, Meister, Dein Deutsch ist ein schlechtes. Der Lati­nismus ist ein falsch angewandter.“
Die Quarta, in die ich Ostern 1882 versetzt wurde, galt als eine besonders anstrengende Unterrichtsstufe, weil in ihr als dritte Fremdsprache das Griechische einsetzte. Die Zahl der Schüler, die in Quarta das Klassenziel nicht erreichten, war größer als in den vorausgegangen und den nächstfolgenden Jahren. Diese sich alljähr­lich wiederholende Tatsache bewog einen der Lehrer, dessen Namen Hecker deshalb der Nachwelt überliefert sein möge, zu dem program­matischen Ausspruche, wenn es nach ihm ginge, so müßte bereits in Sexta obligatorisch mit Hebräisch begonnen werden; diese Sprache sei so schwer, daß der Unterricht in ihr recht bald die Schüler, die für das Gymnasium geeignet seien, von der Masse derer scheiden würde, die nicht dahin gehörten! Ich schätze mich glücklich, daß dieser grausame Anschlag auf die Gymnasialjugend nicht zur Tat her­angereift ist. Denn ich habe in Sekunda und Prima durch Teilnahme am fakultativen Unterricht mich in einen fast aussichtslosen Kampf mit hebräischer Grammatik und Syntax eingelassen, hätte also nach Heckers Ideen schon als Sextaner vom Gymnasium entfernt werden müs­sen. Dennoch will es mir scheinen, als seien die Lücken im Hebrä­isch durch das auf der Thomana in anderen Fächern erworbene Wissen und Können in einem für billige Ansprüche zulänglichen Maße ausge­glichen und mir ist nicht grundlos die Maturitas zuerkannt worden. Die beiden Tertien, in denen das Normalalter der Schüler 13 bis 16 Jahre beträgt, stellen den Gymnasiallehrer vor recht schwierige Aufgaben, an die er mit feinem Takt herangehen muß. Mein Cötus hätte keinen vorzüglicheren Ordinarius finden können. Es war Otto Crusius, der nach kurzer Gymnasialtätigkeit zur akademischen Lauf­bahn überging und in späteren Jahren durch die Ernennung zum Präsi­denten der Bayrischen Akademie der Wissenschaften eine wohlver­diente Anerkennung seines Wertes als Gelehrter empfing. Daß es um seine Gelehrsamkeit etwas ganz besonderes sei, sagte uns ein Rau­nen, das ihn schon beim Eintritt in die Klasse umgab. Aber dieser Nimbus hätte bei einer Schar übermütiger Tertianer nicht viel aus­gerichtet, wenn sein Träger ihnen nicht mit einer jede Aufsässig­keit entwaffnenden Freundlichkeit und mit vertrauenerweckender Of­fenheit begegnet wäre. Weil er sich unsere Zuneigung und Verehrung im Sturme erworben hatte, lauschten wir mit voller Hingabe seinem Unterrichte, der niemals durch Trockenheit langweilte und ermüdete. Crusius war einer der Philologen, für die das klassische Altertum nicht bloß Gegenstand des Studiums und der Ansammlung von Wissen, sondern beglückendes Erlebnis bedeutet. Daran uns teilnehmen zu lassen, sah er als seine Mission an. In seinen Schülern sah er nicht Objekte der Disziplinargewalt, sondern heranreifende junge Männer, die sich ihrer Menschenwürde bewußt bleiben und demgemäß behandelt werden sollten, so daß an ihr Denken und Handeln der Maßstab strengsten Pflicht- und Ehrgefühls gelegt werden könne und müsse. Wie das zu verstehen war, erwies ein etwas verwickelter Hergang, der, wie mei­nen Kommilitonen, auch mir unvergeßlich geblieben sein würde selbst dann, wenn ich nicht seinen Drehpunkt gebildet hätte. Die Ge­schichte ist etwas lang, liefert aber eine kräftige Essenz. Wir hatten in Obertertia und wohl schon vorher einen Turnlehrer Donner, der sich so recht als Kraftmensch von der Sorte Muskelpietsch ge­bärdete. Ich mochte ihn nicht leiden, noch weniger aber er mich. Die Turnstunde, die für mich stets ein Gegenstand des Ärgernisses gewesen ist, sah immer wieder Zusammenstöße zwischen ihm und mir. Ich war ein miserabler Turner nach Anlage und Vermögen, aber an­statt mich dessen zu schämen oder meiner körperlichen Unzulänglich­keit durch Fleiß und Anstrengung aufzuhelfen, zeigte ich weder sol­chen Ehrgeiz noch bei Mißlingen auch verhältnismäßig leichter Gerä­teübungen irgendwelche Beschämung. Wahrscheinlich mißdeutete Donner mein Benehmen als Geringschätzung nicht seines Lehrfaches, sondern seiner Person. Je­denfalls erging er sich nicht selten in Drohungen, er werde mir’s schon einmal anstreichen, daß ich ewig daran denken solle. Sein Un­stern wollte, daß er uns in Obertertia Geographieun­terricht zu er­teilen hatte. Weil er sich auch dabei höchst unbe­liebt gemacht hatte, wurde auf Betreiben einiger Rädelsführer, zu denen ich nicht gehörte, beschlossen, ihm einen Schabernack zu spielen. Er hatte die Gewohnheit, den zur Stunde mitgebrachten schweren Atlas nicht ruhig auf dem Katheder abzulegen, sondern, weil er eben ein Kraft­mensch war, darauf niederzuwerfen, wie wir sagten: hinzuhauen. Das verstellbare Pult in der Mitte des Kathe­ders mußte wegen Donners Größe hochgestützt sein. Darauf bauten die Verschwörer ihren Ulk-Plan. Als Donner eintrat, erhob sich vorschriftsgemäß die ganze Klasse, aber in ungewöhnlicher Stille und Ordnung. Mürrischen Ge­sichts schritt er zum Katheder. Wie er­wartet, flog der große dicke Atlas auf das Pult. Da dessen Stützen gelockert waren, krachte es unter gewaltigem Getöse zusammen, der Atlas stürzte herab und riß den hinter dem Katheder stehenden Stuhl um, das ganze Katheder und der Podest, auf dem es aufgebaut war, wackelte in den Grundfesten. Ehe der zurückprallende Lehrer seinem Zorn auch nur mit einem Worte Luft machen konnte, begann der zweite Teil des Programms, der musi­kalische Brüller. Diese kurz vorher er­fundene Demonstration bestand darin, daß jede der fünf in drei Kolonnen angeordneten Bankreihen in ein gut geleitetes, taktmäßiges Heulge­lächter mit verschieden vokali­sierten Silben ausbrach: die hinter­ste Reihe begann mit Ha Ha Ha, die nächste folgte mit He He He und so ging es über die Reihen in der alphabetischen Anordnung bis zum gespenstischen Hu Hu Hu der am weitesten vorn sitzenden Schüler. Betroffen starrte Donner in das tobende Inferno. Er versuchte wohl etwas hineinzurufen, aber seine Befehlsworte erstarben wie ein letzter Seufzer in dem höllischen Brausen. Als dessen Polyphonie über ein langsames Decrescendo end­lich eingeschlafen war, saß die ganze Klasse unbeweglich da, als wäre nichts geschehen. Zornbebend, aber sprachlos, starrte Donner uns an. Er hatte wohl auch über sei­nen Verstand die Herrschaft ver­loren. Sonst hätte er einen besseren Übergang finden müssen als die törichte Frage: „Wer hat hier ge­brüllt?“ Nun war das Erstaunen bei uns. Er hatte doch gesehen und gehört, daß die ganze Klasse gegrölt hatte, was also sollte seine Frage bedeuten! Aber er beging den Holzweg weiter: „Habt ihr mich nicht verstanden? Ich verlange, daß, wer gebrüllt hat, sich mel­det.“ Da packte mich der Übermut; ich erhob mich mit den Worten: „Ich habe gebrüllt!“ Alles sah nach mir hin; es lag in der Luft, daß jetzt etwas Neues, Gewichtiges passieren müsse. Donner selbst war vielleicht am meisten betroffen; er fühlte sich erneut heraus­gefordert. Da mag blitzschnell in ihm der Triumphgedanke einge­schlagen haben: „Jetzt endlich habe ich den Burschen erwischt, diesmal versalze ich ihm die Suppe.“ Und er richtete messerscharfen Tones an mich die weitere Frage: „Hast Du allein gebrüllt?“ Diese Heuchelei schlug bei mir dem Fasse den Bo­den aus; Ich nahm den Feh­dehandschuh auf und antwortete ruhig, vielleicht mit spöttischem Unterton: „Ja, ich ganz allein.“ Sofort beendete Donner den possen­haften Dialog mit der kühlen Bemerkung: „Ich werde mit dem Herrn Rektor sprechen“, und verließ das Klassen­zimmer. Den Ordinarius Crusius überging er. Meine Mitschüler um­ringten mich. Die Mehrzahl interessierte sich dafür, wie die Hatz ausgehen werde. Meine nähe­ren Freunde sorgten sich um mich und wa­ren auch unzufrieden mit meinem Verhalten; sie meinten, man hätte auf Donners dumme Frage weiterhin schweigen sollen, er würde sich aus der Sackgasse nicht herausgefunden haben. Auch ich sah ein, daß ich infolge meiner Ab­neigung gegen den Muskelpietsch den Spaß zu weit getrieben hätte. Aber nun mußte ich die Entscheidung auf mich nehmen. Sie ließ nicht lange auf sich warten. Donner kehrte zurück und wies den Primus an, im Klassenbuch folgenden Eintrag vorzuneh­men: „Auf Anordnung des Herrn Rektors wird der Schüler Drucker mit drei Stunden Karzer be­straft, weil er den Geographieunterricht durch ungebührliches La­chen gestört hat.“ Von diesem Urteil nahm ich mit unbewegten Ge­sichtszügen Kenntnis. Die Klasse murrte umso deutlicher. Alle er­kannten sofort, daß Donner dem Rektor eine fal­sche Darstellung ge­geben haben müsse. Er kam nicht dazu, die Freude über seine an mir ausgeübte Rache auszukosten. Kaum hatte er sich entfernt, als ein Sturm losbrach. „Diese Gemeinheit! Der Schwind­ler! Der will Lehrer sein!“, so und ähnlich hallte es durcheinan­der. Ein schmächtiger Kommilitone, er hieß Ruschlau und ist als Un­terprimaner der Schwindsucht erlegen, verschaffte sich Gehör. „Diese Geschichte müssen wir beraten. Drucker soll solange aus dem Zimmer gehen.“ Das tat ich. Was während meiner Abwesenheit sich ab­gespielt hat, wurde mir dann erzählt. Ruschlau hatte ausgeführt, es sei eine Nieder­trächtigkeit Donners, auf solche Weise seine Wut an mir auszulas­sen, außerdem aber eine Beleidigung aller, wenn er ih­nen zutraue, sie würden dulden, daß einer allein für einen Streich büße, den alle beschlossen und, wie Donner doch genau wisse, ge­meinschaftlich vor ihm ausgeführt hätten. Es müsse sofort bei Cru­sius, der gewiß noch nichts wisse, Beschwerde geführt und ihm der wahre Sachverhalt unterbreitet werden. Dann werde natürlich die ganze Klasse bestraft werden, aber ihre durch Donner verletzte Ehre sei wiederherge­stellt.
Da diesem Vorschlage allseitig zugestimmt wurde, suchte eine vom Primus und von Ruschlau geführte Abordnung unverzüglich den Ordinarius Crusius im Lehrerzimmer auf. Er hatte bereits von der ohne sein Vorwissen vom Rektor wegen Unaufschiebbarkeit des Einschrei­tens verhängten Karzerstrafe Kenntnis erhalten. Nachdem er die Schüler angehört hatte, hieß er sie in die Klasse zurückkehren und dort für tadellose Ruhe sorgen, bis er komme. Als er mit großer Verspätung eintrat, zeigte uns die auffällige Röte seines Gesichts, daß er offenbar eine lebhafte Auseinandersetzung hinter sich habe. Er äußerte aber nur, daß wegen des Eintrags im Klassenbuche eine Lehrerkonferenz einberufen sei. Wir nahmen an, daß über die durch die Abordnung gewissermaßen provozierte Gesamtbestrafung beschlos­sen werden solle. Am nächsten oder übernächsten Tage, nachdem in­zwischen eine Anzahl Mitschüler vom Rektor vernommen worden war, trat Crusius wieder bei uns ein. Bezugnehmend auf den Konferenzbe­schluß erteilte er der Klasse eine sehr scharfe Rüge wegen des ein­gestanden Komplotts und seiner Ausführung und hob hervor, es seien ernsteste Strafen bis zum consilium abeundi[71] erwogen worden. Er und die übrigen in dieser Klasse unterrichtenden Lehrer – das war die einzige, aber auch ausreichende Distanzierung von Donner – hätten aber wegen der Besonderheit der Begleitumstände eine mildere Auf­fassung vertreten. So sei beschlossen worden, daß für die Klasse drei Schüler je eine Stunde Karzer verbüßen sollten. Dagegen sei von Bestrafung Druckers abzusehen, weil er sich auf Donners Frage gemeldet habe. Jene drei Schüler sollten von der Klasse bestimmt werden oder sich freiwillig der Strafe unterwerfen.
Als Crusius darauf fragte, wer hierzu bereit sei, erhob sich die ganze Klasse wie ein Mann. „Nein“ fuhr er fort, „so geht das nicht. Nennt mir morgen die drei, die ins Karzer gehen. Damit soll dann diese schlimme Sa­che erledigt sein. Laßt mich, euren Ordinarius, nie wieder solches erleben. Im übrigen – dabei hatte er schon die Türklinke zum Ver­lassen des Zimmers in der Hand – im übrigen: ich habe mich über Euch gefreut!“
Der Jubel, der ihm nachhallte, galt weniger dem glimpflichen Ausgang der Affaire als der Genugtuung über die Gesinnung des verehrten Lehrers. Die Wahl der drei Sündenböcke vollzog sich rasch: drei meiner besten Freunde nahmen als ein ihnen zukommendes Privileg in Anspruch, die Stunde abzusitzen. Jedem von ihnen wurde durch den Hausmeister die Aufforderung übermittelt, nach Verbüßung der Strafe Crusius in seiner nahegelegenen Wohnung aufzusuchen. Dort hat er mit ihnen eine Stunde verplaudert, sicherlich um sie nochmals davon zu überzeugen, daß er in ihnen keine Missetäter erblicke, sondern die Repräsentanten eines anständigen Korpsgeistes.
Welche Stellung der Rektor und das Kollegium gegenüber Donner ein­genommen hatten, der durch die Aussagen der Schüler doch empfindlich bloßgestellt war, haben wir nie erfahren. Aber die mehr als faden­scheinige Begründung, mit der ich straffrei erklärt wurde, enthielt eine scharfe Rüge seiner mir gegenüber an den Tag gelegten unge­hemmten Gehässigkeit. In der nächsten Zeit vermieden er und ich jede Reibung, wie er denn überhaupt der ganzen Klasse etwas klein­laut gegenübertrat. Aber noch einmal, in Unterprima, gab es einen sehr ernsten Zusammenstoß. Donners altes Kraftmeiertum war wieder ins Kraut geschossen, er hatte soeben wegen einer Brutalität gegen einen meiner Mitschüler, den er beim ganz überflüssigen Anfassen am Oberarm durch böswilliges Zusammendrücken Schmerzen und blaue Flecke zugefügt hatte, eine Beschwerde von seiten des Vormundes des Mißhandelten über sich ergehen lassen müssen, und war deshalb wie­der einmal mißmutig und verbittert, als er in einer Turnstunde bei Freiübungen mit dem Eisenstab mich mit allerlei kleinlichen Aus­stellungen zu reizen und zu ärgern anhub. Lange blieb ich ruhig; mir stand auf dieser hohen Schulstufe der Sinn wahrlich nicht nach Gezänk; ich fühlte mich schon infolge des gesellschaftlichen Um­gangs, den ich außerhalb der Schule pflegte, als Erwachsener. Als Donner aber die Schikane weiter trieb, indem er mich aus der Reihe heraustreten und irgendwelche Übungen fortwährend wiederholen ließ, auch meine Einwendung, ich könne nicht mehr, höhnisch zurückwies, senkte ich den Eisenstab und übte nicht weiter. Donner schrie mich an, ich solle augenblicklich seinem Befehle folgen. Ich rührte mich nicht. Da brauste er, vielleicht in der niemals ganz verschütteten, jetzt wieder emporkommenden Erinnerung an seine moralische Nieder­lage in der Obertertia, brüllend auf: „Da sehen Sie alle, der Ha­lunke will mir den Gehorsam verweigern!“ Das war zuviel. Die Prima­ner brachen spontan in Oho-Rufe aus, ich warf den Stab zu Boden und ging vom Schulhofe nach der in das Gebäude führenden Pforte. Donner schrie hinter mir her: „Sie bleiben hier. Ich verbiete Ihnen den Unterricht zu verlassen. Hier gilt mein Befehl.“ Ich beachtete ihn nicht, entfernte mich aus der Schule und suchte sofort meinen Vater auf, dem ich den Vorfall mit dem Hinzufügen erzählte, ich würde die Schule nicht wieder aufsuchen, wenn Donner sich nicht wegen der un­erhörten Beschimpfung, die er mir angetan hatte, entschuldige. Der Vorfall hatte eine sehr ernste Seite. Schied ich aus der Thomana aus, so verschob sich mein Abiturientenexamen um ein ganzes Jahr, denn die Zulassung konnte nur nach zweijährigem Besuch der Prima erfolgen. Aber trotzdem fand mein Vater sich sofort bereit, sich beim Rektor zu beschweren. Darauf wurde er, da ich am nächsten Tage der Schule fernblieb, gebeten mich zu einer Vernehmung zum Rektor zu schicken. Im Vorraum seines Sprechzimmers wartend hörte ich von dort laute Stimmen, ohne Worte verstehen zu können. Nach einiger Zeit kam Donner hochroten Kopfes heraus, sah mich wohl kaum und entfernte sich eiligst. Beim Rektor befand sich auch mein Ordina­rius Professor Küchenmeister, der selbst als geprüfter Turnlehrer einige Turnstunden gab und daher die mir zugemuteten Übungen beur­teilen konnte. Ich schilderte deren Verlauf und betonte, daß ich geradezu gequält worden sei. Dagegen wurde nichts eingewendet. Zum weiteren Hergang aber äußerte der Rektor: „Es bleibt aber an Ihnen hängen, daß Sie sich dem ausdrücklichen Befehle des Herrn Donner, dazubleiben, widersetzt, ihm damit vor der ganzen Unterprima und auch anderen auf dem Hofe anwesenden Personen den Gehorsam verwei­gert und während der Unterrichtszeit eigenmächtig das Gebäude ver­lassen haben. Wie wollen Sie diese schwere Disziplinlosigkeit ent­schuldigen?“ Auf einen Vorhalt dieser Art war ich gefaßt. Ich erwi­derte in bescheidenem Tone: „So habe ich erst getan, als Herr Don­ner vor meinen Kameraden und allen Zuhörern öffentlich mich einen Halunken genannt hatte. Dadurch war ich im Tiefsten betroffen. Ich sagte mir: entweder hat er Recht, Du bist ein Halunke – dann hast du auf der Thomasschule nichts mehr zu suchen. Oder er ist im Un­recht: dann hat er Dir einen solchen Schimpf angetan, daß du ihm keinen Gehorsam schuldest.“
Mir schien, als wechselten die beiden Pädagogen einen Blick des Einverständnisses. Sie waren sicherlich darin einig gewesen, daß es für den Ruf der Thomasschule unerträglich sein würde, wenn ein Pri­maner aus guter Familie, der, wie ich hier einzuschalten wage, zu den besten Schülern der Anstalt gehörte, der Schule freiwillig den Rücken kehrte, weil er von einem Lehrer gröblich beschimpft worden war. Der Rektor verabschiedete mich mit dem Auftrag, ich möchte meinen Vater bitten, ihn tags darauf zu besuchen.
Bei dieser Besprechung hat ihm der Rektor mitgeteilt, daß Donner eine ernste Rüge empfangen habe. Wenn mein Vater darauf bestehe, werde die Sache der Schulbehörde zur Entschließung wegen Einleitung eines Disziplinarverfahrens einberichtet werden. Donner habe sich beim Rektor entschuldigt und sei auch bereit, meinem Vater unmit­telbar sein Bedauern auszusprechen. Auf alles das verzichtete mein Vater, um die Sache nicht auf die Spitze zu treiben. Vereinbart wurde aber, daß ich vom der Teilnahme am Turnunterricht befreit würde und daß der Ordinarius mich wieder in die Klasse einführen und ihr mitteilen solle, der sehr beklagenswerte Vorfall in der letzten Turnstunde sei gründlich untersucht worden, wobei sich kein Anlaß zu einem Tadel gegen mich ergeben habe, auch mein Weggang aus der Schule sei durch das Vorausgegangene entschuldigt. Das war das Ende meiner Beziehungen zum Turnlehrer Donner. Er soll sich später völlig geändert und bei den Schülern sogar eine gewisse Beliebtheit erlangt haben. Warum gerade ich zum Schleif- und Polierstein seines Gemüts vom Schicksal auserkoren worden war, ist undurchsichtig ge­blieben.
Ich erwähnte, daß zur Verbüßung der einstündigen Karzerstrafe sich drei der mir am nächsten stehenden Kommilitonen gemeldet hatten. Wer sie waren, dessen bin ich mir nicht ganz sicher. Aber ich glaube fast, daß Hermann Triepel und Viktor Schmidt zu ihnen gehör­ten. Deshalb mag von ihnen hier die Rede sein, obwohl in unserem Freundschaftsverhältnisse jene lumpige Karzerstunde keine Rolle ge­spielt hat.
Hermann Triepel, der um vier Jahre jüngere Bruder des im Zusammen­hange mit der Karte der Gerüche Leipzigs schon genannten Heinrich Triepel, war der Sohn eines Leipziger Großkaufmannes. Seine Mutter war eine Schweizerin. Beide Brüder waren glänzend begabt. Heinrich Triepel verließ die Thomasschule als Primus omnium; daß Hermann, der das Abiturium als einziger mit der blanken I bestand, in Ober­prima auf dem zweiten Platz saß, war eine Folge davon, daß er – ebenso, wie die drei nächstfolgenden Schüler – im Betragen nur I b bekommen hatte, so daß ein in den Leistungen ihnen ein wenig nach­stehender, nämlich Heinrich Degen, als Primus abging. Schon von Un­tertertia an verkehrte ich in Triepels Familie, wie er in der mei­nigen. Mit Viktor Schmidt und Georg Langerhans – der letztgenannte war nicht Thomaner, sondern besuchte den „Staatskasten“, das König-Albert-Gymnasium – bildeten wir ein unzertrennliches Quartett, an das sich auch einige andere, Willy Maurenbrecher, Josef Jadassohn und später Wilhelm Wielandt sehr eng angliederten. Hermann Triepels Begabung erstreckte sich auf alle wissenschaftlichen Fächer. Es gibt bekanntlich Schüler, die in den fremden Sprachen niemals einen grammatikalischen Fehler begehen und alle Vokabeln kennen, aber in anderen Fächern versagen. Wir hatten einen solchen Kommilitonen, auf dessen Halbjahreszensur regelmäßig neben der Eins in drei Fremdsprachen recht ungünstige Ziffern über seine Leistungen in Deutsch, Geschichte, Religion Auskunft gaben. Er hat es bis zum Postsekretär[72] gebracht. Dagegen zeigte sich bei Triepel eine völlige Ausgeglichenheit, weil er kein einseitiges Talent, sondern ein grundgescheiter Mensch war. Man spürte an ihm nichts von Sturm und Drang, Ferner Stehende hätten ihn für kühl oder gar kalt halten müssen. Aber ihm gelangen vortreffliche Verse und er spielte ausge­zeichnet Klavier nicht nur in technischer Hinsicht, sondern auch mit seelenvollem Vortrag. Die ihm eigene innere Ruhe machte ihn zu einem tüchtigen Schach- und Skatspieler. Alle diese Eigenschaften und Fertigkeiten waren es aber nicht, die ihn zu meinem Freunde machten. Mich zog zu ihm seine Fähigkeit und Bereitwilligkeit zu gemeinschaftlichem Nachdenken über ernste wie heitere Gegenstände, die einen von uns oder beide jeweils beschäftigten, und zum rück­haltlosen Austausch der Meinungen darüber. Solche Unterhaltungen, wie ich sie ähnlich nur mit Georg Langerhans geführt habe, förder­ten uns nicht nur wechselseitig, sondern ließen auch die Unter­schiede zwischen unseren Temperamenten in jener Atmosphäre des Ver­trauens und der herzlichen Verbundenheit untergehen, die das Wesen wahrer Freundschaft ausmacht. In unseren Jugendjahren haben wir wohl nie daran gezweifelt, daß unsere Freundschaft über die Jahr­zehnte hinweg nicht nur bleiben, sondern sich auch weiter betätigen werde. Aber räumliche Trennung hat mir Hermann Triepel wie alle die Freunde meiner Jugend recht bald entrückt. Ich bin allein in Leip­zig geblieben und habe, nachdem die Lern- und Studienzeit hinter mir lag, niemals mehr einen Freund gesucht oder gar gefunden. Dar­über vielleicht später noch einige Worte.
Hermann Triepel studierte in Tübingen und dann in Leipzig Medizin und wurde sehr bald außerordentlicher Professor und Prorektor an der Universität Breslau. Aber schon damals zeigten sich die ersten bedrohlichen Symptome eines schweren inneren Leidens, das er, der von zarter Konstitution war, sich vielleicht durch körperliche Überbeanspruchung als Corpsstudent zugezogen hatte. Nachdem er meh­reren Operationen unterworfen worden war, ist er etwa 1919[73] ver­schieden, ohne daß ich ihn während der letzten 20 Jahre wiedergese­hen hätte. Bei mehrmaliger Anwesenheit in Breslau hatte ich ihn nicht angetroffen. Sein letztes Lebenszeichen war sein Glückwunsch zu Renates Geburt. Aber in diesem Brief teilte er mit, er habe meine Anzeige vor seiner Frau verheimlicht, die durch den bald nach der Geburt eingetretenen Tod des einzigen Kindes in eine bedenkli­che Nervenkrise geraten sei; dieser Zustand würde durch Kenntnis­nahme von unserem Elternglück sich verschärfen. Diese Andeutung ließ mich einen Blick in wahrscheinlich schweren seelischen Kummer tun, der zu dem unheilbaren Leiden meines Freundes hinzugetreten war.
Von ganz anderer Art als Triepel war Viktor Schmidt. In ihm er­blicke ich jetzt, da das Leben hinter mir liegt und ich die Schick­sale vieler Menschen zu begreifen gelernt habe, ein hervorstechen­des Beispiel für die ungewollte Abbiegung natürlicher Anlagen durch die Umgebung im Elternhause. Viktors Vater war Professor des römi­schen Rechts an der Universität Leipzig. Nach seinem Geburtsorte wurde er in der wissenschaftlichen Welt zur Unterscheidung von vie­len anderen seines Familiennamens Schmidt von Ilmenau genannt; in Leipzig hieß er „der römische Adolf“. In jungen Jahren hatte er sich durch bedeutende schriftstellerische Leistungen ausgezeichnet, denen er auch den Ruf an die überaus stolze Leipziger Fakultät ver­dankte. Hier aber wurde er durch den größten Pandektisten jener Jahrzehnte, den wesentlich jüngeren Bernhard Windscheid, mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt. Das persönliche Verhältnis zwi­schen den beiden war unerfreulich. Schmidts Verstimmung ging so weit, daß er im Kolleg beim literarischen Überblick das große drei­bändige Lehr- und Handbuch des Pandektenrechts von Windscheid, un­zweifelhaft das wichtigste und in jenen Jahren modernste, überhaupt nicht erwähnte. Windscheid wiederum tat manche Lehren Schmidts, ohne ihn zu nennen, aber in für die Hörer verständlicher Weise als längst widerlegt und veraltet ab. Die letztere Kennzeichnung mochte für die Lehren viel­leicht nicht zutreffen, die auch von jüngeren Romanisten der klas­sischen Schule weiterhin gegenüber Windscheid vertreten wurden. Aber Schmidt selbst war allerdings, als ich etwa 1884 in sein Haus durch Viktor eingeführt wurde, schon ein sehr al­ter Herr. Ich habe ihn mehrmals mit Stolz davon erzählen hören, daß er als Knabe auf Goethes Knien gesessen habe. Er hatte die 60 über­schritten, als Viktor geboren wurde. Um dessen Erziehung hatte er sich wohl nie viel gekümmert. Sie lag wie die Leitung des ganzen Hausstandes in den Händen der Frau Schmidt. Das war in jedem Be­tracht die große Dame. Wohl mindestens zwei Jahrzehnte jünger als ihr Ehegatte, aus bester badischer Familie stammend und vorbildli­che Meisterin aller gesellschaftlichen Formen machte sie ihr Haus zum Mittelpunkt eines regen geselligen Verkehrs. Ihren Kindern – Victor hatte eine meh­rere Jahre älter Schwester Laura – anerzog sie ein geradezu sublim zu nennendes gesellschaftliches Benehmen und lehrte sie in deut­scher wie französischer Sprache schon frühzeitig eine richtige Kon­versation führen. Sie bemerkte wohl nicht, daß durch diese Aus­drucksweise ihr junger Sohn Victor oft auf Erwach­sene, gerade die Lehrer, den Eindruck eines altklugen und eingebil­deten Burschen machte, der er durchaus nicht war. Als zwei meiner Freunde und ich zum ersten Male nach einem Skatnachmittag bei Schmidts zum Abendes­sen blieben, ging es dort ganz anders zu als wir es von den heimi­schen Familientischen gewöhnt waren. Die Mahl­zeit wurde im Stile einer Hoftafel celebriert und die von der Dame des Hauses inaugo­rierte Unterhaltung hatte unverkennbaren Salonan­strich. In solcher Umgebung heranwachsend nahm Viktor es mit der Schule nie erst. Er hatte recht gute Anlagen, aber es fehlte ihm an aller Ausdauer. Wohl vermochte er als vortrefflicher Schachspieler mehrere Stunden bei einer schweren Partie zu verbrin­gen, aber län­gere Zeit auf Schulaufgaben zu verwenden gelang ihm nicht. Ihm – und offenbar auch seinen Eltern – genügte es vollkom­men, wenn er Ostern von Klasse zu Klasse auf einem guten Mittel­platze übertrat. Erst in Oberprima scheiterte er. Die Kommission entschied, daß er das Abiturium nicht bestanden habe. Wir, seine Mitschüler, hatten allerdings die Empfindung, daß diese Entschei­dung unbillig und wohl durch die Abneigung einiger Lehrer verur­sacht sei, die wegen Vic­tors überheblich wirkenden Auftretens ihm einen Denkzettel vera­breichen wollten. Ein halbes Jahr später legte er die Prüfung ab und begann, was ihm und seiner Familie selbstver­ständlich war, Jura zu studieren. Da machte sich wieder derselbe Mangel an Energie wie gegenüber dem Lernen auf der Schule geltend. Nach mehreren Jahren hat er in Münster die schriftliche Referendar­prüfung abgelegt, aber die mündliche, weil er sich ihr nicht auszu­setzen wagte, zunächst unter Vorschützung von Krankheit verschieben lassen. Als der Vater Schmidt mir, der ich wohl schon Rechtsanwalt war, das wie etwas ganz Nebensächliches mitteilte, äußerte ich das Bedenken, daß das Examen wohl nie von statten gehen werde. Dafür fand ich kein Ver­ständnis. Aber leider habe ich recht behalten. Viktor hat es nie zu einem geregelten Berufe gebracht, übernahm die Verwaltung des be­trächtlichen elterlichen Vermögens. In wirtschaft­liche Vorgänge fand er sich leicht hinein und hatte besonders für die Bewegungen an der Effektenbörse ein offenes Auge, so daß er durch fast immer erfolgreiche Spekulationen nicht nur seinen Unter­halt reichlich verdiente, sondern auch das Vermögen vergrößerte. Eine Zeitlang war er auch im Vorstande einer Berliner Terrainge­sellschaft tätig. Aber über Gelegenheitsarbeit ist er nie hinausge­kommen. Hätte die Fami­lientradition ihn nicht in das Universitäts­studium hineingewiesen und hätte nicht die Familienindifferenz ihn von dessen ernstlichem Betreiben abgedrängt, so wäre er höchstwahr­scheinlich ein tüchtiger Kaufmann, vielleicht ein Wirtschaftsführer geworden. Er ist ein Op­fer verkehrter Erziehung. Seine Geschichte habe ich hier als Stoff zum Nachdenken eingefügt. Durch sie ist aber meine Freundschaft mit ihm nicht beeinträchtigt worden. Von den geschilderten Schwächen abgesehen, besaß Victor einen untadeli­gen Charakter. An allem, was seine Freunde anging, nahm er mit herzlichster Hingabe Anteil, seine Treue bewährte sich in jeder Le­benslage. Freude zu bereiten, war ihm ein Bedürfnis. In meiner Fa­milie fühlte er sich heimisch. Kein anderer aus dem Kreise meiner Freunde ist meinen Eltern, Ge­schwistern und meiner Frau so nahe ge­kommen wie er; alle schätzten ihn nicht zuletzt auch wegen der rit­terlichen Gesinnung, die er in jedem seiner Worte zu und über Frauen sich aussprach. Zugleich war ein glänzender Unterhalter und verbreitete Frohsinn um sich her. Auf lebhaften Wunsch meiner Frau wurde er Pate bei unserem Peter. Nachdem er etwa Ende der 20er Jahre seinen Wohnsitz in Berlin, von wo aus er uns bisweilen in Leipzig besuchte, aufgegeben hatte und zu seiner nach Breslau über­gesiedelten Mutter übergesiedelt war, haben wir uns nicht mehr ge­sehen. Bald nach dem Umzuge ist er ge­storben.
Der dritte meiner Freunde aus der Thomasschule ist Wilhelm Mauren­brecher gewesen. Dessen Vater, einer der Lehrer des späteren Kai­sers, Wilhelm II, wurde etwa 1883 oder 1884 als Professor der Ge­schichte nach Leipzig berufen. Von seinen vier Söhnen, die er sämtlich der Thomana zuführte, war Wilhelm der zweite. Zwei der Brüder waren schlank, die beiden anderen beleibt. Wilhelms Körperumfang hatte eine ganz ungewöhnliche Stärke erreicht; auf der Straße drehte sich jedermann nach dieser auffälligen Erscheinung kopfschüttelnd oder lachend um. Ich schalte gleich hier ein, daß, als Wilhelm Einjährig-Freiwilliger wurde, die Kammer selbstverständlich keinen Koppel­gurt, der die bei anderen Menschen als Taille bezeichnete Körper­stelle zu umspannen vermocht hätte, aber auch keinen Waffenrock be­saß, so daß die Einkleidung einige Tage verschoben werden mußte, bis der Regimentsschneider eine neue Uniform angefertigt hatte. In die­sem massigen Leib wohnte ein fröhliches, stets zu lustigen Strei­chen bereites Herz. Kurz, nachdem Maurenbrecher in meine Klasse eingetreten und, weil er in keins der Pultbänke eingezwängt werden konnte, vorn vor den Bankreihen einen Stuhl oder eine pultlose Bank angewiesen erhalten hatte, bekamen wir einen Mitschüler ganz beson­derer Art, nämlich den Prinzen Friedrich von Schönburg-Waldenburg, der, aus dem bekannten sächsischen Fürstengeschlecht stammend, zwar das Alter unserer Klasse um mehrere Jahre überschritten, deren wis­senschaftliches Ziel aber bei weitem nicht erreicht hatte. Er war hochgewachsen und breitschultrig und wirkte dadurch sowie seine keinem Schulanzug ähnelnde gesellschaftliche Kleidung, die er in den ersten Tagen trug, recht imposant. Nun unterrichtete damals bei uns aushilfsweise ein Probekandidat namens Graf, ein schüchternes Männchen, der von der übermütigen Tertia mit Vorliebe zum Objekte harmloser, ihn aber stets völlig aus dem Konzept bringender Späße gemacht wurde. Als er zum ersten Male nach Schönburgs Eingliede­rung, von der er wohl nicht unterrichtet worden war, die Klasse betrat, wurde er zunächst durch einen beliebten Schülerscherz er­schreckt, nämlich das durch eine sinnreiche Vorbereitung herbeige­führte, Lärm erregende Herabstürzen des am Türpfosten hängenden Toilettenschlüssels beim Schließen der Zimmertür. Darüber brach die Klasse in ein Überraschung vortäuschendes heftiges Gelächter aus, das den ängstlichen Kandidaten verwirrte. Während sich die zur vor­geschriebenen Begrüßung aufgestandene Klasse langsam niederließ, blieb vorne der Prinz vor dem ihm wohl kaum bis zur Schulter rei­chenden Probelehrer hochaufgerichtet und unbeweglich stehen, der verlegen die gewaltige Erscheinung anstarrte. Da trat der dicke Maurenbrecher an die beiden Herren und sprach mit seiner wohlklin­genden Stimme und vornehmer Handbewegung die denkwürdigen Worte: „Ah, die Herren kennen sich wohl noch nicht! Darf ich vorstellen: Herr candidatus probandus Graf; seine Durchlaucht Prinz Friedrich von Schönburg-Waldenburg!“ Der Kandidat knickte zu einer linki­schen Verbeugung zusammen und ergriff die ihm mit großartiger Geste dargebotene rechte Hand des Schülers, dem er, der Lehrer, präsen­tiert worden war. Die Klasse quittierte diese unnachahmlich komische Szene mit der akademischen Beifallsbezeugung anhaltenden Trampelns.
Daß hinter unserem Vergnügen ein gut Teil Grausamkeit steckte, näm­lich die Verhöhnung der Hilflosigkeit eines Einzelnen durch eine unangreifbare Mehrheit, habe ich damals nicht eingesehen. Mir er­schien Maurenbrecher als ein harmlos lustiger Gesell, mit dem in Verkehr zu treten sich lohnen würde. So dachten auch Triepel und Victor Schmidt und bald gehörte Maurenbrecher zu unserem Kreise. Dessen Beschäftigungen erweiterte er nach ganz neuer Seite. Schon in seiner Schülerzeit hatte er sich vorgenommen, Schauspieler zu werden. Für diesen Beruf qualifizierte ihn ein biegsames, in allen Stimmlagen schönes Organ großen Umfangs, ein gänzlich dialektfreies Bühnendeutsch und ein den Gehalt jeder Dichtung ausschöpfender Vor­trag. Bis wir Muli wurden, blieb immer bei Lehrern und Schülern streitig, wer für Schulfeiern der bessere Deklamator sei, unserer Maurenbrecher oder der in Leipzig geborene Grieche Peter Pappageorg aus unsrer Parallelklasse, der als griechischer Generalkonsul 1944 gestorben ist. Die Körperlichkeit Maurenbrechers erschien freilich als Hindernis für die Bühnenkarriere; er hat deshalb später sich Abmagerungskuren unterworfen und war gezwungen sein Repertoire auf solche Gestalten zu beschränken, deren dichterische Ausprägung mit wuchtigem Bau nicht unvereinbar ist. Als Gymnasiasten agierten wir aber nicht auf weltbedeutenden Brettern, sondern wir lasen mit ver­teilten Rollen. Auf Maurenbrechers Anregung und unter seiner Füh­rung bildeten wir ein Lesekränzchen für Dramen. Das hat uns nicht nur Unterhaltung, sondern allerlei Belehrung geboten. Denn wir blieben nicht auf der breiten Heerstraße der Stücke, die auch im Schulunterricht behandelt wurden, sondern befaßten uns mit weniger bekannter Theaterliteratur. So habe ich beispielsweise im Lese­kränzchen Gutzkows Uriel Acosta[74] kennen und schätzen gelernt. Ehe ein Stück vorgetragen wurde, hatte jeder Teilnehmer sich mit dem Inhalte genau vertraut zu machen und wurde nicht selten über die Auffassung jedes einzelnen Charakters debattiert. Maurenbrecher be­währte sich schon damals als ein anständiger Regisseur. In solcher Stellung, zuletzt wohl als Oberregisseur am Stadttheater zu Düssel­dorf, hat er sich später um fein durchdachte Aufführungen bemüht und verdient gemacht. Die Gespräche und Vorträge im Lesekränzchen schulten uns übrigens auch zu kritischen Theaterbesuchern. Wer ein Bühnenwerk ganz genau kennt, steht dem Schauspieler mit viel ein­dringenderem Verständnis und deshalb mit feinerem Gerechtigkeitsge­fühl gegenüber als der Beschauer, dem nur die einmalige Aufführung entgegentritt; er merkt, inwieweit eine unbefriedigende Darstellung auf Mängel des Stücks oder auf verfehlte Auffassung des Regisseurs zurückzuführen, eine besonders eindrucksvolle Leistung eines Schau­spielers dessen eigenes Verdienst ist. Hierfür als Beispiel einige Wahrnehmungen, die ich bei Vorstellungen von Goethes Faust gemacht habe. Ein eigenwilliger Leipziger Regisseur ließ das Gretchen ein­mal von einer sehr talentierten Schauspielerin – sie hieß Politz – darstellen, die prachtvolles langes eigenes pechschwarzes Kopfhaar trug. Auch ihre Augen, die Brauen und die Wimpern waren von dersel­ben Farbe, die Figur schmächtig, zierlich. Kurz, sie erinnerte in nichts an das durch die Bühnentradition typisierte Idealbild des blonden deutschen Gretchens. Diesen Kontrast wertete wohl der Re­gisseur dahin aus, daß er seinem Gretchen statt der hergebrachten naiven Sanftmut einen leicht diabolischen Charakterzug anbefahl, der die erschütternde Wirkung der Kerkerscene bis zum Grauen stei­gerte, aber sich doch mit Goethes Gretchen nicht verträgt. Trotz der hohen Künstlerschaft der Darstellerin durfte das schwarze Gret­chen nicht zum zweiten Male auftreten. Die ihr vom Regisseur vor­enthaltene blonde Perücke hätte einen Lorbeerkranz bedeutet.
Mein Beispiel für die eigenschöpferische Charaktergestaltung durch den Schauspieler selbst entnehme ich zwei Faustaufführungen, die zeitlich nahe beieinander lagen. In der ersten verkörperte den Me­phisto Dr. Otto Devrient. Dieser große Künstler spielte den Teu­felscharakter auf das fleischliche Prinzip hinaus. Sein Mephisto war der Verführer zu hemmungslosem Sinnengenuß. Diese Auffassung der Rolle mußte Reflexwirkungen auf die Beurteilung des Faustpro­blems äußern. Es wurde vereinfacht, gewissermaßen vergewöhnlicht. Kurz darauf trat als Mephisto Joseph Kainz auf. Überschlank, aske­tisch, in Schwarz gekleidet. Blutleere, ätzende Überintelligenz. Dieser Mephisto hielt den Faust auf dem Niveau des armen Toren, der trotz aller Gelehrsamkeit immer so klug bleibt wie zuvor. Gegen die souveräne Gestaltungskraft eines Devrients und Kainz kommt kein Re­gisseur auf. Aber auch nicht der Dichter selbst. Das haben wir in Maurenbrechers Lesekränzchen wohl noch nicht ganz klar erkannt, aber doch schon geahnt und in lebhaften Debatten erörtert. Ein vielgelesenes Buch, Bulthaupts Dramaturgie der Klassiker[75], und auch schon Lessings Hamburgische Dramaturgie[76] regte zum Nachdenken an und befruchtete das Verständnis nicht nur für die Dichtungen, sondern gerade für ihre bühnengerechte Darstellung. Dem Theater wendete sich in jenen Jahren die Aufmerksamkeit des literarisch interes­sierten Deutschlands mit solcher Stärke zu, wie später wohl nur, als Max Reinhardt im Zenith seines Ruhmes stand. Es waren die Jahre, in denen die Gastspiele der Meininger allerorten überfüllte Häuser und bald überschwenglich lobende, bald leise warnende Kritik fanden. Die Warnungen bezogen sich auf die angebliche Überschätzung der Ausstattung, das Lob auf die unübertreffliche Einheitlichkeit und Harmonie des Ensembles. Staregoismus, wie bei den von mir er­wähnten Mephistospielern, fand bei den Meiningern keinen Raum. Un­ter ihnen gab es Künstler allerersten Ranges, mancher von ihnen ist nach seinem Ausscheiden aus diesem Kreise oder nach dessen Auflö­sung selbst zum Star geworden, wie etwa Max Grube, aber als Meinin­ger strebte jeder zum Ganzen und schloß als dienendes Glied an das Ganze sich an. Mein Vater, der nicht häufig ein Theater besuchte, war bei den fast alljährlich im Karolatheater, dem späteren Schau­spielhaus, in der dicht bei unserer Wohnung gelegenen Sophienstraße stattfindenden Meininger Gastspielen fast Habitué[77]; auf seine Veran­lassung durfte auch ich mehrere Vorstellungen sehen. Unvergeßlich ist mir nicht nur Shakespeares Julius Cäsar und die Jungfrau von Orleans, sondern auch eine schon längst nicht mehr gespielte Tragö­die von Artur Fitger mit dem Titel Marino Falieri[78]. Die Pracht der Ausstattung – es hieß, daß der Herzog von Meiningen sich durch die Zuschüsse zum Theaterbetrieb finanziell ruiniert habe – und die bis in das unscheinbarste Detail durchdachte Gesamtleistung ließen jede Erinnerung an Requisitenkammer und eingelernte Pose schwinden: Was auf der Bühne vorging, wurde im Parkett erlebt.
Nur einmal in meinem späteren Leben habe ich einer Aufführung bei­gewohnt, die hinter dem Stile der Meininger nicht zurückblieb, ihn wohl noch übertraf: Das war 1923 in einer Festspielwoche des Münch­ner Prinzregententheaters, wo der Rosenkavalier in einer Besetzung von lauter allerersten Künstlern, auch in den unwichtigsten Rollen, dargeboten wurde. Hier addierte sich der Erfolg aus vielen Einzel­leistungen; die Meininger siegten durch die Unzerteilbarkeit ihres Gesamthandelns.
Die Leipziger Bühnen boten in jenen Jahren wohl durchschnittlich gute Aufführungen, bedeutende aber nur bei Gastspielen. Der Grund hat vermutlich in der oft bis zur Knauserei ausartenden Sparsamkeit der Direktoren gelegen, die als Pächter des Theaterbetriebs sich oft recht stark durch Portemonnaieinteressen leiten ließen.
Wir waren aber verhältnismäßig fleißige Theaterbesucher. Meine Eltern legten auf diese Form der Verbindung von Ausbildung und Genuß Gewicht und wir waren trotz aller Neigung zur Kritik begeisterungsfähig genug, um uns auch an Aufführungen nicht ersten Ranges zu erfreuen. Gingen wir ohne die Eltern ins Theater, so bevorzugten wir die hinteren Parkettreihen. Durch Maurenbrecher wurde ich mit der höchsten Gale­rie, dem Topp bekannt, wo wir für unglaublich geringen Preis Kunst­genuß fanden, nämlich bei Klassikervorstellungen zu halben Preisen im Alten Theater für 15 Pfennige, und das waren sogar Sitzplätze. Im vornehmen Kontraste dazu saß ich oft auf einem Vordersitz einer Balkonproszeniumsloge im Neuen Theater. Dort hatte Geheimrat Schmidt für jeden vierten Tag zwei Sessel abonniert, die aber von ihm und seinen Damen schon wegen anderer gesellschaftlicher Pflichten nicht regelmäßig genutzt werden konnten, so daß wir als Victors Freunde Hilfe leisten mußten. Dort ist mir auch der erste und einzige Theater­schlummer zugestoßen. Es war in Lohengrin.
Das Dramenlesekränzchen des Tertianers Maurenbrecher hat mich weit von meinen Schülerjahren weggeführt. Wer nach Erinnerungen gräbt, bleibt nicht an den Wurzeln und Keimen hängen, sondern verfolgt das Wachstum bis zur späten Baumkrone.
Außerhalb des Schulbetriebs waren meine Tertianerjahre nicht leer an Erlebnissen, von denen einige berichtet werden mögen.
1883 oder Anfang 1884 heiratete Hilde Fricke, meiner Schwester Hanna ältere Freundin, einen Kandidaten der Theologie Teichgräber. Es verstand sich von selbst, daß Hanna sich an den Aufführungen am Polterabend beteiligte, aber es lag in ihrer ganzen Natur, daß sie nur mit einer ausgesuchten Besonderheit auftreten würde. Nun hielt sie sich in den Wochen vorher in Minden bei Rocholls auf, also in unmittelbarer Nähe des Bückeburger Landes mit seinen prachtstrot­zenden bunten Bauerntrachten und seinem westfälischen Plattdeutsch, dem Heimatsidiom des Geheimrats Fricke. Dort entdeckte Hanna, wie sie unserer Mutter schrieb, eine als Polterabendaufführung gedachte sehr witzige Szene, die aber zwei Personen, eine Mutter und deren Tochter, erheischte. Die Bauernfrau wollte Hanna selbst spielen, aber sie wisse nicht, wer ihr als Tochter zur Seite treten solle. Unsere Mutter verstand diese Bemerkung richtig: Als Tochter war ich begehrt. Meine Bereitwilligkeit wurde Hanna mitgeteilt, die in ei­ner der launigen Reimereien, die sie blitzschnell aus ihrer Feder fließen ließ, mir ihren Dank aussprach und mir alles Nähere be­kanntgab. Die Anfangsworte ihres Briefs fallen mir jetzt wieder ein:

Da sich der stolze Herr aus Unterterzia
Nun angeboten selbst, als Mädchen aufzutreten,
So wisse er, jetzt kann ichs sagen ja,
Wie gern ich ihn darum gebeten.
Doch wagt ichs nicht, weil ich nicht wissen konnte,
Nähm solche Zumutung der Herr nicht schief,
Und wollts auch nicht, da ich vom Herrn erhalten,
So lang ich hier bin, keinen einz’gen Brief –
usw.

Bei der Rückkehr aus Minden brachte Hanna zwei echte Bückeburger Trachten, entliehen aus einem reichen Bauernhofe, mit. Das für mich bestimmte Kostüm wurde mit ängstlicher Vorsicht, um es nur ja nicht zu beschädigen, passend gemacht; umgekleidet sahen wir unübertreff­lich naturgetreu aus. Nicht so leicht wie die äußere Verwandlung wurde mir die innere Umstellung aus dem sächsischen Hochdeutsch ei­nes Gymnasiasten in das Platt einer verlegenen westfälischen Bau­erndirne. Aber, wenn ich auch zu keiner Meisterleistung heranwuchs, so erreichte ich doch immerhin jenes Stadium, das die französische Sprache unnachahmlich difficulté vaincue[79] nennt. So fuhren wir denn zum Polterabend und schoben uns im geeigneten Moment, zunächst von niemanden erkannt, in die lange Reihe der Aufführungen ein. Ich hing, als wir auf das Brautpaar zuschritten, mit erkünstelter Schüchternheit am bunten Rock meiner Eintagsmutter, die dann anhub:

„Nu kumm ma her mei leiwet Fieken,
Brukst nech uso schüchtern dal to kieken,
Un all de Lüd, die hier sin,
will Nums di wal dauhn, mi leiwet kinn.“
(Ob ich die Transkription des Idioms in hierzulande lesbare Buch­staben richtig treffe, muß offenbleiben.)

Dann entspann sich zwi­schen Mutter und Kind ein von Hanna sehr geschickt für den Anlaß des Tages adaptierter Dialog. Ich hörte, wie Frau Fricke zu ihrer Umgebung äußerte: „Die Bäuerin ist Hanna Drucker, wer aber das Mäd­chen ist, hat sie mir nicht gesagt.“ Nach der Aufführung wurde mein Inkognito gelüftet, ich erschien geschlechtsgemäß umgekleidet und wurde von Teichgräbers Verbindungsbrüdern, den Arionen[80], so intensiv bevatert, daß ich ein paar Stunden auf dem Diwan eines vom Festtru­bel entfernten Zimmers verschlief. Als ich erwachte, wurde ich Oh­renzeuge einer Unterhaltung zwischen Frau Fricke und anderen Fami­lienmitgliedern, die sich gleichfalls zu zeitweiliger Erholung zu­rückgezogen hatten. Man besprach die verschiedenen Aufführungen, Hanna und ich bekamen eine recht gute Kritik, in die aber Frau Fri­cke den Wermutstropfen träufelte, unser Platt sei aber doch nicht richtig gewesen. Den Teufel auch, wenn man seine Tage zwischen Wulks, Striez und Kleeschocher verbringt! Das war also mein erstes gesellschaftliches Auftreten in Weiberkleidung. Mancher meiner Al­tersgenossen hätte sich dessen geschämt. Ich nicht. Ebensowenig wie Achilles[81].
Im späteren Leben habe ich Hildegard Teichgräber nur noch selten gesehen. Ihr Mann war zunächst Pfarrer in Kitzscher bei Borna, wo Hanna oft verkehrte, später Pfarrer an der Andreaskirche in Leip­zig. Weil aber Hannas Aufenthalt in den ersten Jahrzehnten ihrer Ehe außerhalb Leipzigs lag, war mir, als sie mit Mann und Kindern schließlich endgültig dorthin zurückkehrte, inzwischen die Fühlung mit Hildegard verloren gegangen, ich begegnete ihr nur selten ein­mal bei Hanna. Dann wurde stets die Erinnerung an die Jugendzeit lebendig. Ich habe hinter der, ihrer Würde als Gattin eines pastor primarius sich stets bewußten Frau, Hildegard Teichgräber stets die lustige Hilli Fricke meiner Kinderjahre erblickt.
Ostern 1885 wurde ich konfirmiert. Den vorausgegangenen Unterricht hatte Fricke erteilt, der auch schon Hanna eingesegnet hatte. Man darf sich diese Stunden, die in manchen Gegenden auch als Christen­lehre bezeichnet werden, nicht wie Religionsstunden vorstellen. Daß Kinder, deren Eltern die Konfirmation ausdrücklich und ausschließ­lich beim Geheimen Kirchenrat Fricke begehrten, soviel von ihrer Religion und Konfession wüßten, wie die Schule verlangt, setzte er voraus und dachte deshalb gar nicht daran, etwa Katechismus oder Bi­bel oder Gesangbuchlieder zu traktieren und abzufragen. Er blieb eigentlich immer der Professor der Theologie, der Kolleg nicht las, sondern sprach, nur, daß er das Niveau auf das Auffassungsvermögen 14-16jähriger Stadtkinder, zumeist Gymnasiasten, herabschraubte. Wie seine Predigten nur für Gebildete bestimmt, für solche aber auch ein Labsal waren, so bot er auch den Konfirmanden Philosophie, Ethik, Religionsgeschichte. Vielleicht ging manches in seinen Vor­trägen über den Horizont der Hörer hinaus; aber ich bemühte mich ihnen zu folgen und verließ jede Stunde in dem Gefühl, eine Berei­cherung mitzunehmen.
Mein Konfirmationstag bestand zunächst in einer erheblichen An­strengung. Fricke predigte wohl zwei Stunden lang und da von ihm wohl 100 Konfirmanden eingesegnet wurden, so beanspruchte das Abendmahl unter Teilnahme der Familien ebenfalls mehrere Stunden. Wir hatten die Peterskirche früh vor acht Uhr betreten und kamen erst nach ein Uhr wieder zu Haus an, so daß wir alle dem nach Anord­nungen der Mutter vortrefflich zugerüsteten Festmahl liebevollste Beachtung schenkten. Ich fühlte mich allerdings einigermaßen beengt durch meine Funktion als Mittelpunkt der Feier; diese egozentrifu­gale Neigung hat mich durch mein ganzes Leben hindurch beherrscht; gefeiert zu werden ist mir stets als der erste Grad der Folter er­schienen. Aber am Konfirmationstage überwand ich mein Unbehagen rasch und bot allen Glückwünschen die Stirn. Onkel Gustav Rothe, der ein allezeit eingriffsbereiter und ausgezeichneter Tischredner war, brachte den ersten Toast auf mich aus. Der gipfelte in der als Familienhoffnung verbrämten Ermahnung, ich möge mich im Leben so bewähren, daß ich, wie meines Vaters Glaubensgenosse Heinrich Heine, von mir sagen könne:

Nennt man die besten Namen
so wird auch der meine genannt.[82]
So ipsissima verba[83] des Oheims.

Von meinen Paten, soweit sie noch lebten, und von Verwandten und Bekannten bekam ich zahlreiche Geschenke, darunter eine sehr wert­volle goldene Uhr. Es ist die, die ich meinem Sohn Heinrich ge­schenkt habe. Von meinen Eltern erhielt ich die große Römische Ge­schichte von Theodor Mommsen, dieses bisher unerreichte und wohl nie zu übertreffende Werk eines der sachkundigsten und gedanken­reichsten Historiker, den die Kulturwelt besessen hat. Bekanntlich fehlt zwischen dem 3. und 5. Band der 4., dessen Manuskript bei ei­nem Brande in Mommsens Wohnung vernichtet worden war. Die Lücke wird sich nie schließen lassen. Sind die Forschungsergebnisse ver­vollständigt, so fehlt das Ingenium Mommsens, um sie mit Rhythmus und Melodie der erschienen Bände in Übereinstimmung zu bringen.
Unter den anderen Büchergeschenken erfreute mich sehr eine schöne Ausgabe von Chamissos Werken; Spenderinnen waren die Schwestern Marie und Milly Kröer, deren ältere mit Hanna zur Schule ging. Da ich voraussichtlich später von beiden noch zu erzählen habe, will ich sie gleich hier vorstellen. Sie waren die Töchter eines Mitin­habers der noch jetzt in Leipzig bestehenden Weinhandlung Röhss & Kiesgen; die Mutter war eine Rumänin und in Rumänien waren auch die Töchter geboren worden. Kröers wohnten am Sophienplatz, kaum zwei Minuten von uns entfernt. Das trug dazu bei, den Verkehr recht leb­haft zu gestalten, ihm lag eine sich immer inniger gestaltenden Freundschaft zu Grunde, in die ich, gleichaltrig mit Milly, einbe­zogen wurde. Marie hatte ebenso wie ihr in frühem Jünglingsalter verstorbener Bruder Theodor einen ausgeprägt südländischen Typus; leider bediente sie sich wegen erheblicher Kurzsichtigkeit eines Klemmers – Brillen waren bei Mädchen nicht beliebt – wodurch der Eindruck der aparten Schönheit ihres Gesichts abgeschwächt wurde. Beide Schwestern waren musikalisch gut veranlagt; Marie wurde als Sängerin ausgebildet, ohne daß sie dann diesen Beruf ergriffen hätte. Sie sang aber oft bei uns und mein doch recht anspruchsvol­ler Vater hörte sie sehr gern. Die Kröermädchen gehörten also auch zu den Gratulanten bei meiner Konfirmation und zu den Gästen, mit denen ein fröhlicher Nachmittag verbracht wurde. Bei der Besichti­gung der vielen Geschenke und namentlich der Bücher, die ich bekom­men hatte, wurde an Hannas vor zwei Jahren gedeckten Konfirmations­beschertisch gedacht und mit Vergnügen festgestellt, daß im Gegen­satze zu ihr ich keine sogenannten Doubletten bekommen und deshalb nicht darüber zu grübeln hatte, wie ich überzählige, aber durch hi­neingeschriebene Widmungen umtauschunfähig gewordene Exemplare los­werden könnte, was doch in der Regel auch die edlen Spender kränkt. Hanna hatte nicht weniger als dreimal die als Konfirmationsgabe na­hezu unvermeidlichen „Palmblätter“ von dem Dichterpfarrer oder Pfarrerdichter Gerok bekommen. Die Übereignung eines vierten Exem­plars wurde nur dadurch abgewendet, daß die mir auf der Treppe be­gegnende Gratulantin auf Befragen erfuhr, daß sie bereits drei gleichgesinnte Vorgängerinnen habe, daraufhin zunächst betrübt und indigniert umkehrte. Des Wucherns dieser Palmblätter hatte sich da­mals eine hübsche Scherzfrage bemächtigt: Was ist der Unterschied zwischen einem innerafrikanischen Neger und einer deutschen Konfir­mandin? Antwort: Die Konfirmandin bekommt die Palmblätter von Ge­rok, der Neger einen Gehrock von Palmblättern.
Nach der Konfirmation rückte ich Ostern 1885 in die Untersekunda auf. Obwohl sie schultechnisch noch zu den Mittelklassen gerechnet wird, unterscheidet sie sich doch von ihnen dadurch, daß die Schü­ler von den Lehrern nicht mehr geduzt, sondern mit Sie ange­redet werden. Das bedeutet nach meiner eigenen Erfahrung einen wichtigen erzieherischen Fort­schritt, weil es das Selbstbewußtsein und die Selbstachtung des Schülers stärkt. Er ist nun kein Schul­kind mehr, sondern ein junger Mann. Ich glaube, dass man noch bes­sere Erziehungserfolge erreichen könnte, wenn man die Duzerei schon früher aufhören ließe. Auf der Thomasschule war es zu meiner Zeit üblich, daß man schon etwa von Unterterzia an mit Neueingetretenen sich nicht duzte, bis sie nach und nach sich völlig in die Klasse eingefühlt hatten, und Du-Nenne­rei mit Schülern anderer, auch der Parallelklassen, gab es wohl nur ganz ausnahmsweise. Im Alumnat galt allgemein der Sie-Komment. Das waren vernünftige Gebräuche. Das Duzen reißt die die einzelnen Per­sönlichkeiten gegeneinander abgrenzenden Schranken allzu leicht nieder und macht aus Individuen einen allgemeinen Mischmasch. Viel­leicht gehe ich nicht zu weit mit der Annahme, daß die unverkennbar zunehmende Verpöbelung in Deutschland mit der Ausbreitung der Duze­rei zusammenhängt. Als es noch Einjährig-Freiwillige gab, siezten sie sich nicht nur unter­einander, bis sie in einzelnen Fällen Brü­derschaft machten, sondern natürlich auch mit den anderen Soldaten. Im Naziheere hat es als selbstverständlich gegolten, daß alle Sol­daten sich duzten, mochten sie auch durch Weltanschauung, Bildung, Beruf noch so scharf von­einander unterschieden sein und noch so deutlich jeder wechselsei­tigen Sympathie ermangeln. Das ist eine Verzerrung des hohen ethi­schen Begriffs der Kameradschaft ins Ple­bejische, eine dreiste Gleichmacherei von Ungleichen und Unglei­chem. Du sollten Erwachsene einander nur dann sagen, wenn sie durch die Aufgabe des Sie eine nähere Verbundenheit ihrer Person zum Aus­druck bringen wollen. Um­gekehrt ist der Übergang vom Du zum Sie seitens des Lehrers als Ma­nifestation der Anschauung zu bewerten, daß nunmehr zwischen ihm und dem Schüler ein reziprokes Respektver­hältnis bestehen soll.
So schien jedenfalls unser Sekundaner-Ordinarius Dr. Brause sein Verhalten uns gegenüber einzurichten. Er befahl nicht, er paukte nicht, er bevaterte uns auch nicht etwa, sondern er ließ uns füh­len, daß nach seiner Meinung jeder von uns um seiner selbst willen bestrebt sein werde, mit den ihm verliehenen Kräften und mit Fleiß etwas aus sich zu machen. Die Unterrichtsstunden ließ er gern in eine Unterhaltung mit der ganzen Klasse oder mit einzelnen Schülern übergehen; dabei hatte er keine Besorgnis, daß er das für die Klasse vorgeschriebene Pensum schmälere oder abändere, sondern ver­ließ sich darauf, daß, wie er gleich von Anfang an als erforderlich bezeichnet hatte, wir uns den Lernstoff in Hausarbeit aneignen wür­den. Er brachte uns zum Bewußtsein, daß er Selbstständigkeit von uns erwarte, weil wir doch als Sekundaner zu selbstständigem Lernen be­rechtigt und bereit seien. Auf diesem Wege näherte er den Gymnasi­alunterricht dem akademischen Studium an, wie es damals geübt wurde, also dem entschiedenen Vorherrschen der eigenen Arbeit außer­halb des Hörsaals, des Seminars, des Praktikums. In der Literatur­stunde äußerte er einmal, daß Uhland, mit dessen Gedichten wir uns beschäftigt hatten, auch einige Dramen geschrieben habe, die, weil sie nie aufgeführt würden, wenig bekannt seien. Sie reichten frei­lich an die klassischen Bühnenstücke nicht heran, aber seien doch durchaus lesens- und beachtenswert. Ob von ihm beabsichtigt oder nicht, jedenfalls hatte seine Bemerkung die Folge, daß einige unter uns sich mit diesen Dramen bekanntmachten. Das Schauspiel „Ernst, Herzog zu Schwaben“[84] gefiel uns dermaßen, daß wir es mit Rollenver­teilung auswendig lernten. Maurenbrecher ergriff mit Wonne diese Gelegenheit zur Betätigung seiner Doppelfähigkeit als Tragöde und Regisseur. Als der Tag des alljährlichen Klassenspaziergangs heran­rückte, schlugen wir Dr. Brause, der als Junggeselle in Gaschwitz in einer Villa an dem vom Bahnhofe nach der Harth führenden Wege wohnte, vor den Tag in der Harth zu verbringen. Er war sehr einver­standen. Wir holten ihn draußen am frühen Morgen ab, lustwandelten mit ihm in dem herrlichen, damals noch nicht durch Kohlenabbauten­denzen und Durchgangsverkehr verschandelten Walde und überraschten ihn an einer vorher ausgesuchten, als Naturbühne sich eignenden Lichtung mit der schmucklosen Deklamation – von Aufführung konnte man beim Fehlen von Kulissen und Kostümen nicht sprechen – des Uh­landschen Dramas. Er war sichtlich bewegt über diesen spontanen Er­folg seiner Literaturstunde.
Auf der Thomasschule wurde von jeher – es wird noch darauf zurück­zukommen sein – der Deutsche Aufsatz als wichtigster Prüfstein der Reife und des Standes der Allgemeinbildung gepflegt. Um durchdachte und ausgefeilte Arbeiten zu erzielen, betrug die Frist zwischen der Stellung des Themas und der Ablieferung schon von Sekunda an minde­stens vier Wochen. Dr. Brause stellte in der Regel mehrere Themen zur Wahl. Aber seine Liberalität ging in einzelnen Fällen noch wei­ter, indem er statt der Bearbeitung eines Klassenthemas die Einrei­chung eines geeigneten anderen Gegenstandes gestattete. Als wieder einmal ein Hausaufsatz aufzugeben war, hatte Brause kurz vorher in einem fesselnden Vortrage über die Erzählungen aus 1000 und einer Nacht gesprochen und ihnen eine weit über den ästhetisch-künstle­rischen Wert hinausreichende Bedeutung beigemessen. Ich gewann ei­nige Mitschüler für den Gedanken, dem Lehrer als Thema für unseren Aufsatz vorzuschlagen: „Arabische Kultur zur Zeit Harun al Ra­schids, dargestellt nach den Erzählungen aus 1000 und einer Nacht“. Brause zeigte nicht nur Interesse, sondern helle Freude über unser Begehren. Mein Vater, der an meinen Aufsätzen stets re­gen Anteil nahm – wenn ich einen zensuriert zurückbekam, las er ihn sofort durch und übte Nachkritik – belehrte mich darüber, daß einer solchen Arbeit nur eine vollständige Ausgabe von 1001 Nacht das er­forderliche Relief gewähren könnte und überraschte mich einige Tage danach mit dem mehrbändigen Gesamtwerke, das er durch den Buchhan­del aufgetrieben hatte. Beim Lesen, auf das ich mich begeistert stürzte, sah ich bald ein, daß die Fülle des Stoffes mich erdrücken müsse und in der zur Verfügung stehenden Zeit sich nicht erschöpfen lasse. Deshalb vereinbarte ich mit den Mitarbeitern eine Aufspal­tung des Themas. Einer sollte über Religion und Kultusgebräuche, ein anderer über Handel und Gewerbe, ein dritter über Sitte und Recht zur Zeit Harun al Raschids schreiben. Zwei dieser Teile, von Triepel und von mir, sind abgeliefert worden. Der dritte Autor konnte infolge Erkrankung nicht arbeiten. Was ich gewählt hatte, weiß ich nicht mehr. Brause zeigte sich beglückt. Mit Stolz teilte er der Klasse mit, er habe diese beiden Aufsätze dem Rektor Jung­mann vorgelegt, der sowohl unseren Entschluß wie unseren Fleiß und dessen Ergebnisse gelobt und in der Lehrerkonferenz darauf hinge­wiesen habe.
Nicht nur um gutes Sprechen zu üben, sondern auch zur Bekämpfung von Ängstlichkeitserscheinungen, wie des Lampenfiebers, sollten Ge­dichte gelernt und vorgetragen werden. Auch diese Aufgabe veredelte Brause dadurch, daß er uns die Auswahl überließ. Ich wußte, daß ich – damals – über ein sicheres Gedächtnis gebot und daß ich auch gut vortrug. Aber weil ich hinter Maurenbrecher, hinter dem sehr gemüt­voll sprechenden Heinrich Degen und hinter der eindruckssicheren, verstandesmäßigen Redeweise Triepels nicht zurückstehen mochte, wagte ich mich an eine Aufgabe, die sowohl die Stimme wie den Ge­danken durch alle Register und Zonen hindurchführte, nämlich an Bürgers Leonore. Ich hatte ausgezeichnete Vortragskünstler zu Vor­bildern: wie den blinden Rhapsoden Türschmann, der die altgriechi­schen Schauspiele mit in Ton und Temperament unübertrefflicher Cha­rakterisierung der handelnden Personen rezitierte, ferner den Münchner Generalintendanten Emil[85] von Possart einen zwar recht eit­len und mehr als es für den Deklamator sich ziemt schauspielernden, aber durch feinstens abgestufte Tonmalerei zur Bewunderung zwingen­den Sprecher. Was ich diesen Künstlern abgeguckt oder richtiger ab­gelauscht hatte, filtrierte ich in meine Leonore hinein. Vom Erzäh­lerton – „der König und die Kaiserin, des langen Haders müde, er­weichten ihren harten Sinn und machten endlich Friede[86]“ – bis zum hohnvollen Aufschrei am Schlusse

„Und unten zerschellt das Gerippe“

entlockte ich meinem Kehlinstument jede mögliche Modulation und lief alle Tempi vom gemächlichen Paßschritt des heimkehrenden Hen­nes bis zum wahnsinnigen Turmgekletter des seinem Leichentuche nacheilenden Skeletts. Schön wird’s wohl nicht gewesen sein, aber gewiß ungemein ergreifend. Die von herzlosen Rezensenten meiner Leistung gewidmete Beurteilung bediente sich lakonisch des viel­leicht nicht ganz neuen Verschens:

Leonore fuhr ums Morgenrot
und als sie rum war, war sie tot![87]

Für den Lateinunterricht hatte Dr. Brause sich eine besonders reiz­volle Aufgabenstellung erdacht. Er diktierte uns in lateinischer Sprache, bisweilen auch in deut­scher Übersetzung, aus den Werken selten oder gar nicht in der Schule gelesener von ihm aber nicht genannter Schriftsteller, z. B. Vitruv, einzelne Sätze, in denen ein Wort oder mehrere wenig ge­brauchte vorkamen. Gab er diese Sätze in deutscher Sprache, so nannte er diese ungewöhnlichen Vokabeln. Unsere Aufgabe bestand darin, die lateinischen Sätze ins deutsche zu übertragen, die deutsch diktierten gewissermaßen zurückzuübersetzen. Beides war in der Regel schwierig. Unsere Lösungsversuche boten aber Anlaß zu eindringenden und belehrenden Besprechungen im Unterricht. Jene Ra­ritäten im Wortschatze wurden aber unsere Bundesgenossen. Viktor Schmidts Vater besaß das umfänglichste aller Wörterbücher der la­teinischen Sprache, den Forcellini. Dieses Werk gibt bei jedem nicht ganz alltäglich gebrauchten Worte zahlreiche, manchmal sämt­liche Fundstellen an. Wir, d.h. Viktor, Triepel und ich, brauchten also nur die Zitate in den Schriftstellern, die beim römischen Adolf fast sämtlich vorhanden waren oder sonst beschafft werden konnten, nachzuschlagen und konnten dann unseren Lehrmeister be­friedigen. Wir spiegelten ihm nicht etwa vor, daß die von uns bei­gebrachten Sätze unser Eigengewächs seien, sondern wiesen die Fund­stelle nach. Nur sagten wir zunächst nicht, wie wir zu ihr vorge­drungen seien. Als er bei der dritten oder vierten Aufgabe darauf bestand, lüfteten wir das Geheimnis um den Forcellini. Dr. Brause amüsierte sich über unsere Schlauheit und bemerkte: „Auf diese Weise haben Sie sich freilich die Übersetzung leicht gemacht. Aber wahrscheinlich haben Sie beim Suchen im Lexikon und in den Schrift­stellern recht viel Latein zugelernt. Und das ist die Hauptsache.“ So dachte dieser wirkliche Pädagoge. Manch anderer hätte sich erbost und sich wohl gar hintergangen gefühlt.
Aus meinem privaten Leben während der Sekundanerzeit will ich eine Feriengeschichte erzählen. Mit sechs Kindern mit Altersunterschie­den von mehr als elf Jahren während der Sommerferien zu verreisen, war für meine Eltern schwierig. Wir brauchten mehrere Zimmer, die in der allgemeinen Reisezeit oft an geeigneten, nicht zu weit von Leipzig entfernten Orten nicht zu beschaffen waren. Als ich Unter- oder Obertertianer war, verunglückte ein Familienaufenthalt in Bad Sulza dadurch, daß meine vier jüngeren Geschwister in dem Gast­hause, in dem wir wohnten, an den Masern erkrankten. Die Unbequem­lichkeiten, die sich daraus ergeben hatten, wirkten in den nächsten Jahren der Wiederholung der gemeinschaftlichen Familienreise entge­gen. Meines Erinnerns ist Sulza ihr letztes Ziel gewesen. Von nun an wurden die Reisen der Eltern und Kinder zeitlich und örtlich aufgeteilt. Im Jahre 1885 wurde für mich eine günstige Gelegenheit ermittelt. Die Schwestern Kröer hatten bereits die großen Ferien des vorausgegangenen Jahres in Wildbach bei Stein-Hartenstein, am Nordrande des Erzgebirges, verbracht. Dort hatte die Frau des kö­niglichen Oberförsters Gubener eine Pension begründet, die sie mit ihren mehreren erwachsenen Töchtern bewirtschaftete. Weil die Zim­mer in der geräumigen Oberförsterei nicht ausreichten, war sehr bald in unmittelbarer Nähe ein besonderes Gästehaus errichtet wor­den. Herr Kröer hatte sich davon überzeugt, daß er der oberförster­lichen Familie seine beiden Töchter unbedenklich anvertrauen könne. Umsoweniger stieß  der Vorschlag, mich mit nach Wildbach zu ver­frachten, auf Widerstand bei meinen Eltern. Im Gegenteil, mir wurde sogar mein noch nicht ganz neunjähriger Bruder Carl mitgegeben, ein Vertrauensbeweis, auf den ich mir nicht wenig einbildete. Freilich fanden wir bei Gubener selbst wegen Überfüllung keine Unterkunft, wurden aber zwei Minuten von der Oberförsterei entfernt in einer Getreidemühle zum Wohnen und Schlafen untergebracht, während wir die Mahlzeiten bei Gubeners einnahmen und überhaupt tagsüber uns unter den Pensionsgästen aufhielten. Vor ihnen voraus hatten wir häufigen Genuß frischen Kuchens, weil der Müller, wie in jener Ge­gend üblich, auch das Bäckerhandwerk ausübte. Carlchen kam leider nicht auf seine Kosten. Nach einigen Tagen langweilte er sich und bekam Heimweh, so daß er heimgeholt werden mußte. Mir aber behagte der Aufenthalt in hohem Maße. Das Forstrevier Wildbach liegt im erzgebirgischen Walde, den ich fast überall liebgewonnen habe. Ei­nige Jahre vor der Reise nach Wildbach hatten die Eltern mit Hanna und mir teils zu Fuß, teils zu Wagen eine Kammtour unternommen, wohl von Gottesgab über Mariaschein und Rehefeld bis zum Mücken­türmchen. Seitdem hatte ich den lebhaften Wunsch, wieder ins Erzge­birge zu kommen. Diesmal lernte ich es von andrer Seite kennen als auf dem Kamm. Wildbach liegt erheblich niedriger, die Gegend ent­behrt auch des Urwaldcharakters, bietet aber allerlei Abwechslung. Es gibt dort zwischen den Bäumen einen kleiner Weiher, auf dem wir im Kahne fahren konnten. Von einer Felsenhöhe blickt man auf ein in der Mulde angelegtes Wehr. Dort oben stand ich manchmal mit dem Oberförster, der mich in der Kunstfertigkeit unterwies, mit der Flinte Fische zu schießen. Dort, wo die dicht bewaldeten Felsen nach der der tief unten fließenden Mulde abfallen, liegt versteckt die Prinzenhöhle, in der Kunz von Kaufungen die geraubten sächsi­schen Prinzen einige Nächte verborgen gehalten hat. Bisweilen nahm der Oberförster mich an seinen abendlichen Stammtisch in der Bahn­hofswirtschaft zu Niederschlema mit, die wir in etwa 20 Minuten auf Waldwegen erreichten. Von Niederschlema aus gelangte ich auch be­quem nach Schneeberg und nach Aue, damals einem kleinen Gemeinwesen mit kaum 2000 Einwohnern, heute einer wichtigen, von 30000 Menschen bevölkerten Industriestadt. Wildbach bot mir also neben der Erho­lung, die ich recht bald spürte, allerlei Kurzweil. Sie erreichte aber ihren Gipfelpunkt beim Schützenfest, daß auf einem Wiesenplan vor dem Gasthofe abgehalten wurde. Der Oberförster durfte als Stan­desperson dabei nicht fehlen. Aber man rechnete auch auf die Betei­ligung der Pensionsgäste, die als städtische Kapitalisten sich nützlich machen sollten. Auf einem von zwei Plätzen wird der Schüt­zenkönig durch Büchsenschießen nach der Scheibe, auf dem andern die Schützenkönigin durch sogenanntes Schießen, eigentlich Werfen, nach einem hölzernen Adler mit dem Stechvogel ermittelt. Daran wollten die jungen Mädchen der Gubenerschen Pension sich beteiligen. Ich weiß nicht mehr, wer auf den übermütigen Vorschlag verfiel, ich solle zu gleichem Zwecke als Mädchen verkleidet werden. Der Gedanke wurde stürmisch begrüßt. Man zog mir ein elegantes rosafarbenes Sommerkleid, das Maria Kröer gehörte, an; setzte mir zur Verdeckung des kurzen Haupthaars einen häubchenartigen Hut auf und stattete mich mit weiblichen Strümpfen, ebensolchen Schuhen und Handschuhen aus. Etwas Schminke und Bemalung entfernte aus  meinem Antlitz, was mich als Angehörigen des starken Geschlechts hätte verraten können. So ward aus mir eine aparte Frauenschönheit. Als wir unter der Ägide des Oberförsters uns nach der Festwiese begaben, machte je­mand auf die Notwendigkeit aufmerksam, mich vor Gesprächen  mit den dörflichen Teilnehmern z u bewahren, damit nicht vorzeitige Entdec­kung stattfinde. Milly Kröer empfahl den praktikablen Ausweg, mich als eine der deutschen Sprache nicht mächtige Ausländerin auftreten zu lassen. So wurde denn in die Liste der weiblichen Schützen ein­getragen: Miss Hellen Shepherd aus Bredford. Mein vollendet damen­haftes Gehabe und das scheinbar respektvolle Benehmen meiner Be­gleiterinnen lenkten bald die Aufmerksamkeit der Menge auf mich. Aber Verdacht schöpfte wohl niemand. Ich verhielt mich beim Werfen des Stechvogels genau so ungeschickt wie alle Konkurrentinnen aus Stadt und Land. Ein eigentliches Zielen ist mit einem solchen In­strument gar nicht möglich. Man zieht es am Strick zurück und läßt ihn dann los, so daß der Stechvogel auf den hölzernen Adler irgendwo auftreffen und bei genügender Wucht des Anpralls ein Stück abbre­chen muß. Königin wird, wer, nachdem alle einzelnen Teile herunter­gefallen sind, das übrig gebliebene Mittelstück, selbst in dieser ländlichen deutschen Gegend corpus genannt, so trifft, daß es her­unterstürzt. Weil die Würde der Schützenkönigin mit gewissen Ausga­ben, zunächst für die freie Zeche aller Mitbewerberinnen, verbunden ist, wird, was ich nicht wußte, die Anwärterin auf die Schützen­krone heimlich aus dem Kreise der begüterten Bauerntöchter ausge­sucht und dann wird beim Preisschießen ein wenig gemogelt. Auch an jenem denkwürdigen Tage im August 1885 wurde dasselbe Spiel ge­spielt. Der Holzadler war aller Gliedmaßen und Federn schon beraubt, als die Reihe beim Schiessen wieder an die Kronenanwärterin kam. Unmittel­bar vorher machte das den Wettbewerb leitende Vorstandsmitglied sich unter irgendeinem Vorwande an dem kahlen corpus zu schaffen; wie ich später erfuhr, um den Nagel zu lockern. Aber die geheime Wahlkönigin zierte sich zunächst noch ein wenig. Sie ließ den Leit­strick des Stechvogels so langsam und sanft aus ihrer Hand gleiten, daß das Geschoß nur ganz leise und schwächlich das corpus berührte, das am Nagel hängen blieb. Alle Eingeweihten kicherten. Ich aber in meiner Arglosigkeit und Unbekümmertheit dachte an keinen Abwehrer­folg, sondern gab dem Stechvogel normale Flugbahn und Flugkraft: Wie er gar nicht anders konnte, prallte er auf das corpus auf, ein Krach, es stürzte herunter, ein allgemeiner Jubelschrei, Tusch der schon in Bereitschaft stehenden Dorfmusikanten, Proklamation des Fräulein „Miß Schäfert aus England“ zur Schützenkönigin 1885 des Schützenvereins Wildbach! In die Hoch- und Hurrahrufe drang die kräftige Stimme des Oberförsters: „Miss Shepherd dankt für die ihr erwiesene Ehre; ich werde ihr aller Erforderliche auseinanderset­zen. Auf Wiedersehen heute abend zum Schützenball.“ Damit führte er alle seine Schäflein heim zur Oberförsterei, mich als Leithammel vorn. Dem alten Herrn war das Abenteuer jetzt etwas bedenklich ge­worden. Daß ich an dem Schießen der Weiblichkeit mich beteiligt hatte, besagte nicht viel; das war ein Spaß, der der Vereinskasse sogar ein paar Mark einbrachte. Aber die wenn auch unbeabsichtigte Abhalfterung der Kronprätendentin konnte ebenso von ihr wie von dem ganzen Verein übel vermerkt werden. Wildbach hatte ja nun ein Jahr lang keine veritable Schützenkönigin mit Residenzpflicht im Gemein­debezirk. Um alles Unheil abzuwenden, äußerte Gubener, müsse mein Vater sich meine Schützenkrone etwas kosten lassen. Zur Betätigung solchen Sühnewillens, ließ der Oberförster sofort dem Schützenvor­stand mitteilen, die neue Königin lade nicht nur die weiblichen, sondern auch die männlichen Schützen zu einem Glase Bier und ande­ren Erfrischungen auf den Abend in den Gasthofsaal ein und werde selbst dorthin kommen. Mit leicht beklommenem Herzen traten wir abends den Sühnegang nach dem Schauplatz des Schützenballes an, ich nunmehr in meinem besten Anzug. Wir trafen eine bereits aufgeklärte und keineswegs zornige Gesellschaft an. Ich wurde mit lebhaften Zu­rufen empfangen: „Da kommt der Miß, die neue Schützenkönigin.“ Gu­bener machte mich mit dem Vereinsvorstand bekannt, dem ich meine Unschuld an dem Meisterschuß beteuerte und den ich wegen der unge­wollten Usurpation des hohen Titels um Verzeihung bat, die mir vollkommen und aufrichtig gewährt wurde. Dann wandte ich mich zu der verhinderten Königin, die mir auf meine mit bezwingender Lie­benswürdigkeit angebrachte Ansprache ihre Huld nicht vorenthielt. Daß sie nicht die ihr zugedachte Würde erschossen hatte, interes­sierte sie in viel geringerem Maße als meine Nachmittagstoilette, die ich so natürlich getragen hätte. Wäre das rosafarbige Kleid mein Eigentum gewesen, hätte ich es ihr wahrscheinlich zur freund­lichen Erinnerung schenken müssen. Aber nun beschränkte ich meine Huldbeweise auf einige Rundtänze. Mir wären sie leicht gefallen, dagegen war meine Partnerin aus kräftig bäuerlichem Geschlechte recht bodenständig. Die anwesenden Burschen trugen mir nichts nach. Sie sprachen dem Freibier kräftig zu und holten mich immer wieder an die Theke zum Umtrunk. So lief mein zweites gesellschaftliches Auftreten als Damenimitator nicht nur glimpflich ab, sondern zum allgemeinen Vergnügen. Am Tage danach schickte der Gasthofswirt die Rechnung über den Konsum der Festteilnehmer. Erschütternd war sie nicht, aber sie wies einen uns zunächst nicht durchsichtigen Posten auf: „8 L Licer.“ Wohl erst mit Hilfe des Schulmeisters wurde die Sinnermittlung gewonnen. Gemeint war: „acht Liter Likör.“
Im Jahre darauf fragte Gubener schriftlich an, ob ich zum Schützen­feste wieder kommen werde. Es sei beabsichtigt, mich als Königin im feierlichen Zuge einzuholen! In solcher Wärme schlugen mir die Her­zen meiner Wildbacher Untertanen entgegen! Aber ich lehnte ab. Ei­nerseits packte mich meine Mittelpunktsfurcht, zum andern wollte ich das allerliebste Erlebnis auch nicht des poetischen Hauches der Einmaligkeit berauben. Ich bin also Königin für einen Tag geblie­ben.
Das Schuljahr 1886-87 in Obersekunda hat in meinem Gedächtnis kaum bemerkenswerte Spuren hinterlassen, abgesehen davon, daß als neues Lehrfach die hebräische Sprache hinzutrat. Sie war ebenso wie Englisch wahlfrei; weil man sich aber nur eine von beiden wählen durfte, entschied ich mich für Hebräisch in der Überlegung, daß ich die Gelegenheit zur Erlernung der englischen Sprache später leicht finden würde. Mein Entschluß war falsch. Erstens bin ich schmach­voller Weise nie dazu gekommen, englischen Unterricht zu nehmen, so daß ich jetzt vor meinem Ende zwar englische Zeitungen, Briefe und Bücher mit alltäglichem Wortschatz notdürftig lesen, aber auch nicht die bescheidenste Unterhaltung führen kann. Zweitens aber ha­ben mich die hebräischen Kurse enttäuscht. Ich habe zwar einen Ein­blick in den von allen mir bekannten europäischen Sprachen abwei­chenden Aufbau der semitischen gewonnen, erkenne nun auch die vie­len in der deutschen Umgangssprache gebrauchten Worte und Redewen­dungen, die aus dem Jüdischen des Alten Testaments eingedrungen sind. Aber eine auch nur mäßige Erlernung der Sprache ist mir nicht gelungen. Die Ursache finde ich nicht allein und nicht einmal vor­herrschend in der fraglos außerordentlichen Schwierigkeit, auf die, wie ich früher erzählte, der Gymnasiallehrer Hecker als wertvollen Behelf zur Abscheidung der brauchbaren von den nicht geeigneten Gymnasiasten sich berufen hatte, sondern in den Mängeln des Unter­richts. Ihn erteilte in Obersekunda und Unterprima ein Religions­lehrer Prof. Hüllemann, gewiß ein ganz braver Mann, aber eine schnurrige Type. Er hatte uns schon in den Unter- und Mittelklassen durch sein allen Schwunges entbehrendes hölzernes Wesen angeödet. In seinen Stunden wurde die Zeit großenteils durch das Abfragen von Sprüchen und Gesangbuchliedern hingebracht, die er als Hausarbeit hatte auswendig lernen lassen. Wenn dann ein Schüler, der das Lied Nummer 354 oder 526 aufsagen sollte, es nicht sofort herunter­schnurrte, so ertönte die stereotype Formel: „Setz Dich, schreib ab Vers 1 bis 3.“ Sie erklang immer in demselben Tonfall und drang in­folge ihrer häufigen Wiederholung zu tief in unsere Gespräche auch außerhalb der Schule ein, daß wir jeden Gesprächspartner, der auf irgendeine Frage, beispielsweise nach der Abfahrtszeit eines Eisen­bahnzuges, nicht Auskunft geben konnte, die Melodie anzuhören ga­ben: „Setz Dich, schreib ab Vers 1 bis 3.“ Dieser Hüllemannsche Reim trägt noch heute Früchte in meiner Familie.
Im hebräischen Unterricht verstand Hüllemann es in keiner Weise, uns die Wege zum Verständnis zu bahnen. Er ließ uns einfach aus der Grammatik von Hollenberg Abschnitt für Abschnitt auswendig ler­nen und die Sätze aus dem Übungsbuche übersetzen. Was er uns Ober­sekundanern, die doch gewöhnt waren in den Geist fremder Sprachen eingeführt zu werden, bot, hätten wir uns zur Not auch ohne ihn an­eignen können, wiewohl gerade Hebräisch sich zum Selbstunterricht schlecht eignet. Mindestens in jeder zweiten Stunde gab er eine Ex­temporale, aber nur über Formen, nicht über Sätze. Diese öde Arbeit benutze er übrigens zu einer Ausforschung, die ebenso heimtückisch wie albern war. Sein Name unter den Schülern ging nur als „Hülle­pietsch“ von Mund zu Munde. Das wußte er und war darüber erbost. Um herauszubekommen, welche Schüler sich an dem Verbrechen dieser Na­mensverschimpfierung beteiligen, ließ er im Extemporale die hebräi­sche Verbalform des deutschen Imperativs „Bekleidet“ schreiben. Sie ist, aus dem Stamm labesch gebildet, mit hillebiesch zu übersetzen
Wer diese Form richtig niederschrieb, galt als Mitwisser und Mitbe­nutzer des Übernamens Hüllepietsch überführt und zog sich damit schlechte Zensuren und die Mißbilligung des Namensträgers zu, wenn er sie sich nicht schon vorher erworben hatte. In Oberprima wurde der Unterricht von dem Professor Dr. Eduard König erteilt. Mir hatte aber Hüllemann dieses nicht obligatorische Studium dermaßen verleidet, daß ich ausschied, zumal ich mich auf die für das Abitu­rium notwendigen Prüfungsfächer zu konzentrieren genügend Veranlas­sung hatte.
Fakultativ waren auch Lehrgänge in Gabelsbergerscher Stenographie, die wohl schon in früheren Klassen begonnen hatten. Ein ausgezeich­neter Lehrer, Schuldirektor Röhn, förderte uns recht weit, aber meine Zensuren waren besser als meine Leistungen, weil die letzte­ren durch einen Trick geschönt wurden. Diktierte nämlich Röhn eine Probearbeit, die stenographisch aufzunehmen und nach Durchsicht ab­zuliefern war, so schrieb ich sie nicht ganz in Stenographie nie­der, sondern benutze nur einige Sigel und sonstige Abkürzungen, hielt den Faden in Kurrentschrift fest und baute im übrigen auf die Zuverlässigkeit meines Gedächtnisses, das, unterstützt durch die Notizen, den präzisen Wortlaut des Diktats für die kurze in Be­tracht kommende Zeit getreu bewahrte. Ich fertigte in aller Ruhe eine saubere Übertragung des Diktats in Stenographie an, konnte mir dabei die fehlerlose Schreibweise weit gründlicher überlegen als beim Nachschreiben und deshalb eine gute Arbeit abgeben. Was ich wirklich leistete, genügte für die in der Gymnasialzeit gegebenen Verwendungsmöglichkeiten vollkommen, aber ein richtiger Stenograph bin ich nie geworden, habe es auch nie werden wollen und meine Un­zulänglichkeit nie vermißt. Die Stenographie ist gewiß auch außer­halb des Kreises der Parlamentsstenographen für manche Berufe eine wertvolle, für einige eine notwendige Hilfsfertigkeit, besonders für solche Bureauarbeiter, die fremde Diktate rasch mit peinlich­ster Genauigkeit aufzunehmen haben. Bei anderen Aufgaben, die Ein­satz eigener geistiger Tätigkeit erfordern, kann sie eher nachtei­lig werden. Der Student, der den Vortrag des Professors nachsteno­graphiert, verläßt das Kolleg in der Regel mit einer nur dumpfen Erinnerung an das Gehörte. Wer in Kurrentschrift mit eigenen Abkür­zungen nachschreibt, muß nachdenken, um aus den Worten des Profes­sors die Gedankengänge klar herauszuheben und doch nur mit demjeni­gen Grade von Ausführlichkeit zu Papier zu bringen, der ohne Steno­graphie erreichbar ist. Eigene Gedanken in Stenographie niederzu­schreiben, Briefe oder gar Literatur in ihr entstehen zu lassen, ist mir immer als Verstoß gegen guten Lebensstil erschienen. Das ist eine meiner Schrullen, die mir sicherlich die Verachtung aller passionierten Kurzschreiber eintragen würde. Aber solchen werden diese Zeilen doch wohl nicht vor Augen kommen.
Den Deutsch-Unterricht gab in Obersekunda ein Dr. E. Oehler. Mit ihm fand ich keinen Kontakt. Von jeher waren meine Aufsätze gelobt und mit besten Nummern zensiert worden, aber dem neuen Lehrer ge­fielen sie wohl schon in ihrem gedanklichen Gehalt nicht. In seiner äußeren Erscheinung ganz teutscher Recke, trieb er es mir mit der Überbewertung nordischer Mythologie und nordisch ausgerichteter Poesie etwas zu weit. Heute möchte ich in ihm einen Vorläufer des ein halbes Jahrhundert später ins Kraut geschossenen Kultus des nordischen Menschen sehen, wenn ich auch weit davon entfernt bin, ihn der Selbstgefälligkeit, Überheblichkeit und Intoleranz zu be­zichtigen, die in unseren Tagen diese politisch-rassische Ge­schmacksverwirrung gekennzeichnet haben. Seine Angeleimtheit ans Nordische zeigte sich auch, als er, wie wohl für Obersekunda lehr­planmäßig vorgeschrieben war, als Ersatz für einen deutschen Auf­satz uns die Aufgabe stellte, ein selbstverfaßtes Gedicht einzurei­chen. Wohl nicht nur Dr. Brause, sondern jeder einsichtige Pädagog hätte die Wahl des Stoffes und der Darstellungsform dem zum Dichten angewiesenen Schüler überlassen. Nicht so Oehler. Als Thema gebot er „Gudruns Klage“[88] und bestimmte Zeit und Ort der Handlung dahin, daß Gudrun kurz vor der von ihr nicht erwarteten Landung ihrer Be­freier eines Morgens in Liedform ihrem Schmerz Ausdruck gab. Ich vermochte mich in das Seelenleben des nordischen Fräuleins so wenig hineinzufühlen, daß ich mir wie ein Gelegenheitsdichter vorkam, der auf Bestellung und gegen Zeilenhonorar zu Festen und Gedenktagen ihm ganz fremder Personen tönende Tafellieder und andere Carmina fabriziert. Erst in der letzten Nacht vor dem Ablieferungstermin schrieb ich ein Dutzend oder mehr einwandfrei gereimter Sechszeiler in sauberem Deutsch nieder, die, von einem leidlich begabten Skal­den unter Musik gesetzt, die Königstochter und Heldenbraut Gudrun ganz gut ins Morgenrot hätte hinaussingen können, ohne sich etwas zu vergeben oder in Widerspruch mit ihrer durch die Sage geprägten Individualität zu treten. Aber mein Kunstgesang fand kein Echo in Oehlers Brust. Ich bekam ihn mit einer mäßigen Zensur und der griesgrämigen Kritik zurück: „Zu wenig Tatsächliches; sonst ziem­lich getroffen, wenn auch ohne besondere Vorzüge.“ Es hätte dieser unliebenswürdigen Rezension nicht bedurft, um mich für ewige Zeiten von dem Trosse der künftigen Barden fernzuhalten.
Auch vom Schulbetrieb in Unterprima weiß ich nichts Wesentliches groß zu berichten. Als die letzte Klasse, in der noch neuer Lern­stoff angesammelt wird, weil die Oberprima grundsätzlich für die Ausreifung der während der ganzen Gymnasialzeit in den Geist geleg­ten Wissenskeime reserviert bleiben soll, erforderte sie viel Ar­beit und Anstrengung, wurde aber ohne Hindernis durchlaufen. In meinem Privatleben aber ereignete sich allerlei. In den Pfingstta­gen 1887 starb meine Großmutter Constanze Klein in Altenburg, wo sie einige Zeit bei Rothes krank gelegen hatte. Da sie auf dem Leipziger Johannesfriedhof in der Grabstätte des Großvaters beige­setzt werden sollte, wurde die Leiche hierher überführt. Zu diesem Zwecke hatte sich der jüngere Bruder Arthur meiner Mutter von sei­nem Wohnorte Nippes bei Köln nach Altenburg begeben. In den frühen Morgenstunden des 31. Mai 1887 hielt vor dem von uns bewohnten Hause der Transportwagen einer Beerdigungsgesellschaft, in dessen vorderem Teile der Sarg stand, während aus der angebauten Chaise ein schwarz gekleideter schwarz behandschuhter und einen umflorten Cylinder tragender Herr stieg – mein Onkel Arthur. Sowohl seine Trauerstimmung wie die schlaflos verbrachte nächtliche Fahrt ver­liehen seinem schmalen Gesicht einen jammervollen Ausdruck. Dieses trübselige Bild hat sich mir leider unzerstörbar in die Erinnerung eingegraben. Dazu hat vielleicht auch beigetragen, was ich von der Persönlichkeit und den Schicksalen des unter so unfrohen Umständen plötzlich auftauchenden Onkels im Laufe der Jahre erfahren hatte. Ein weicher, wohl energieloser Charakter, hatte er die von seinem Vater ihm gewährten Ausbildungsmöglichkeiten vernachlässigt und war in kein geregeltes Berufsleben eingetreten. Nach dem Tode seines Vaters war er mehr und mehr mit seinen Geschwistern zerfallen, nur meine Mutter ließ ihm dann und wann eine Beihilfe zukommen und hielt durch meine Großmutter einen spärlichen Verkehr mit ihm auf­recht. In späteren Jahren hatte er sich aufgerafft und schließlich bei der Eisenbahn eine kleine Bürostellung erlangt, die ihn und seine Familie – er hatte außer seiner Frau wohl drei Kinder, von denen, wie er mir erzählte, der älteste Sohn schon eine technische Schule besuchte, – leidlich ernährte. Hanna und ich empfanden Mit­leid mit dem gutmütigen, sanften Manne, aber eine solche Gemütsre­aktion im Verhältnisse von Nichte und Neffen zum Oheim wird von ei­ner peinlichen Verlegenheit gefärbt. Am Tage nach der Trauerfeier reiste der Onkel wieder nach Hause. Ich habe ihn nie wiedergesehen, aber viel später, als ich bereits Rechtsanwalt war, durch einen meiner Kollegen aus Köln in einer fatalen Angelegenheit wieder von ihm gehört, die ich ordnen konnte. Seine ganze Familie ist uns un­bekannt geblieben. Auch mein Vetter Dr. Karl Klein, der einzige Sohn des Bruders meiner Mutter, Dr. August Klein, hat mir noch in den allerletzten Jahren gesagt, daß ihm nichts über die Familie Ar­thur Klein bekannt ist. So rasch und vollständig lösen sich oft die natürlichen Sippenbande.
Zur Beerdigung meiner guten Großmutter hatte sich auch Tante Elise Rocholl aus Minden eingefunden. Vor der Rückreise lud sie mich ein, wie Hanna 2 Jahre vorher, einen Monat bei ihrer Familie zu verle­ben. Meine Eltern waren ebenso wie ich sehr damit einverstanden, zumal ich einer Erholung bedürftig erschien; der Tod der Großmutter hatte mich tiefer ergriffen, als für meine nicht eben robuste Kon­stitution gut war. Urlaub vom Gymnasium wurde mir anstandslos ge­währt. Ich trat wohl im Juni die Reise nach Minden an, die meinen dritten Aufenthalt dort einleitete. Zum ersten Male war ich 1870 dort gewesen. Als damals im Frühsommer mein Vater seinen Vater, der im Wildbad im Schwarzwald eine Kur gebrauchen mußte, dorthin be­gleitete, begab während seiner Abwesenheit meine Mutter mit Hanna und mir sich nach Minden zum Besuche der jung verheirateten Schwe­ster. Von diesem meinem ersten Auftreten in Westfalen konnte ich keinerlei Eindrücke mitnehmen, ich war kaum 8 Monate alt. Erfahren habe ich nur, daß, wie der Vater in Wildbad, auch die Mutter in Minden vom Kriegsausbruch überrascht wurde, und, weil zunächst der zivile Eisenbahnverkehr stockte, noch einige Zeit dort bleiben mußte. Die Heimreise soll dann recht langwierig und mühselig ver­laufen sein.
Zum zweiten Male war ich Minden gewesen, als wir von Düsseldorf nach Leipzig zurückkehrten. Wahrnehmungen, die ein normales Kind im Alter von fünf Jahren macht, können sich zu unverwischbaren Erinne­rungen verdichten. Eine solche wenigstens haftet noch jetzt in mir. Kurz vor dem Geburtstage meiner Kusine Lottchen, des Kindes, das im nächsten Jahre an Diphtherie starb, hatte ich einen Kreisel ge­schenkt erhalten, einen schönen glänzend braun lackierten, mit silbrigen Ringen gezierten Kreisel, so überwältigend schön, daß ich, um seine Schönheit nicht zu beschädigen, ihn nicht peitschen mochte. Ich trug ihn in der Tasche oder in der Hand mit mir herum. Als ich Lottchens Geburtstagstisch betrachtete, und wohl eins ihrer Geschenke anfaßte, legte ich meinen Kreisel für einen Augenblick aus der Hand. Da kam Lottchen dazu, sah ihn, und rief jubelnd aus: „Ach, der schöne Brummküsel. Den hatte ich noch gar nicht gesehen! Aber über den freue ich mich!“ Mir gab es einen Stich ins Herz! Was das Kousinchen für eins der Geburtstagsgeschenke hielt, war doch mein Kreisel. Mein Kreisel gewesen! Denn ich konnte doch unmöglich den Irrtum aufklären. Dadurch hätte ich Lottchen betrübt. Der Krei­sel lag zwischen ihren Geschenken, ich selbst hatte ihn dazugelegt. Ich schlich mich beiseite, meinem in einen westfälischen Brummküsel umgetauften Kreisel einen schmerzlichen Abschiedsblick zuwerfend.
Dieser Verlust ist mir wahrscheinlich deshalb so unvergeßlich ge­worden, weil es die erste Verminderung meiner Habe war. Inzwischen hat das Leben mir den Satz eingetrichtert: „Wer besitzt, der lerne verlieren – und vergessen!“[89]
Die dritte Reise nach Minden im Frühsommer 1887 verlief schmerzlos. Rocholls bewohnten eine in einem großen Garten gelegene Villa, die der Onkel wenige Jahre vorher hatte erbauen lassen; ich bezog eins der mehreren Gästezimmer, von dessen Fenstern sich ein Blick in ei­nen kleinen Park, genannt das Glacis bot. Das ganze Haus atmete Be­haglichkeit. Der Onkel, der ursprünglich mit einem Bruder die vom Vater ererbte Tabakwarenfabrik[90] betrieben hatte, war dann als Kom­plementär in ein unter der Firma Glasfabrik Wittekind in der Rechtsform der Kommanditgesellschaft begründetes Unternehmen über­getreten, das er mit großem Erfolge führte. Ich begleitete ihn oft nach der jenseits der Weser gelegenen Fabrik, wo ich mich interes­sierende Einblicke in die Glasbläserei bekam. Um riesige Schmelz­öfen standen, wegen der kaum erträglichen Hitze nur mit einer ganz leichten Hose bekleidet, am Oberkörper schwarzbraun gebrannte Män­ner, die ihren Atem durch lange Rohre in das an deren Ende hängende Schmelzgut jagten, um es dann in die metallene Form hineinzupres­sen, die es als Flasche verließ. Ob meine Beschreibung des Herstel­lungsprozesses einen Fachmann befriedigen würde, weiß ich nicht. Ich denke aber, daß das durch Sachkenntnis nicht verbildete Auffas­sungsvermögen der Laien zu einer hinreichend deutlichen Vorstellung vordringen wird. Dann wird auch meine Beobachtung verständlich wer­den, daß diese Glasbläser, sobald sie ihren Arbeitsplatz verließen, ein krankhaft elendes Äußere zeigten. Die Glut im Arbeitsraum und das Blasen in die heißflüssige Glasmasse mußte zu einer Überbean­spruchung der Lunge führen. Die Arbeiter überlebten in der Regel nicht das 35. Jahr. Weil sie das wußten, lebten sie, ähnlich wie fortwährend dem Tod ins Auge sehende Landsknechte und Galeerenskla­ven, ein ungehemmtes Triebleben ohne Ausblick auf höhere Ziele und ohne Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber der menschlichen Gesell­schaft. Während meines Aufenthaltes in Minden ereignete es sich, daß anläßlich eines belanglosen Streites einer dieser Burschen den Gegner die an dem Rohr anhängende, weißglühende Glasmasse in das Gesicht schlug und ihm dadurch grauenhaft schmerzhafte, todbrin­gende Verletzungen zufügte. Völlig unbekümmert wegen dieser Tat ließ er sich abführen; die anderen arbeiteten gleichgültig weiter.
Ich bin nicht darüber unterrichtet, ob in den seither verflossenen fast sechs Jahrzehnten die Glasbläserei zu menschenwürdigeren Fa­brikationsmethoden, als ich damals kennen lernte, übergegangen ist.
In erfreulichem Gegensatz zu den Eindrücken bei der Fabikarbeiter­schaft, die mich in Berührung mit sozialen Problemen brachten und darüber nachdenken ließen, standen die häufigen Ausflüge in die Um­gebung. Mein stets unternehmungslustiger Führer war ein Bruder mei­nes Onkels, Fritz Rocholl, dem der Geschäftsgang der vom Vater er­erbten Zigarrenfabrik Zeit genug für arbeitsfernes Privatleben be­ließ. Er war ein in der Wolle gefärbter Westfale. Die Porta Westfa­lica galt ihm als westfälisches Nationalsymbol, der Wittekindsberg als westfälische Kultstätte, die Bückeburger Tracht als ehrwürdiges westfälisches Brauchtum, die Stippgrütze bei deren bloßen Anblick jeder mitteldeutsche Mensch Magenkrämpfe bekommt, als westfälische Nationaldelikatesse in fast höherem Grade als der westfälische Schinken. Selbst das ekelhaft fad schmeckende übelriechende Wasser der Quellen in Bad Oeynhausen wurde mir, weil westfälisch, als göttlicher Nektar kredenzt. Aber diese Schrullen des Onkels Fritz störten mich nicht. Ich befreundete mich, abgesehen von der Stipp­grütze, mit allem, was die „rote Erde“ bot, auch wenn es weder rot noch Erde war. Namentlich mit meinen vier Kousinen. Mit Elise, der äl­testen unter ihnen, die nur drei Jahre jünger war als ich, hat mich bis zu ihrem erst 1945 erfolgtem Tode eine besonders innige Zunei­gung verbunden, obwohl wir uns jahrzehntelang nicht mehr gesehen haben. Als die für den Mindener Aufenthalt vorgesehenen vier Wochen verstrichen waren, reiste ich in Etappen zurück, das heißt, ich un­terbrach die Fahrt in Hannover, Braunschweig, Magdeburg. Das war wohl der erste Ausbruch meiner später recht intensiv auftretenden Neigung, Städtebilder in mir zu sammeln. Dabei habe ich nicht gebä­deckert, sondern im Gegenteil gerade die mehrbesternten Wichtigkei­ten der Reisebücher häufig übersehen. Aber doch pflanzte jede von mir um ihrer selbst willen bewanderte Stadt ein gewisses Charakter­bild mir ein, das wohl häufig unrichtig gewesen sein mag, aber eben mir gehörte und deshalb zu gelten hatte. Übrigens ist es denn ganz verkehrt, wenn ich seit 1887 in Magdeburg eine der ausdruckslose­sten menschlichen Siedlungen erblicke?
Der Winter von 1887 zu 1888 bekam sein Gepräge durch die Tanz­stunde. Üblich war damals in Leipzig für junge Menschen unserer ge­sellschaftlichen Schicht die Teilnahme an Tanzlehrkursen, die von tüchtigen Lehrern und Lehrerinnen in Hotelsälen und ähnlichen Räu­men abgehalten wurden, wie auch heute. Aber die Frau des badischen Reichsgerichtsrats Wielandt, dessen Sohn Wilhelm die Parallelklasse meiner Unterprima auf der Thomasschule besuchte, erstrebte für ihn mehr als nur Erlernung der gebräuchlichen Tänze. Im Zusammenhange mit der Tanzstunde sollten die jugendlichen Teilnehmer Sicherheit in der praktischen Anwendung der guten Umgangsformen auf allen Ge­bieten des gesellschaftlichen Verkehrs erlangen. An die Stelle der Unterrichtsstunde im Hotelsaal trat die allwöchentliche Tanzgesell­schaft in Privathäusern. Es gelang Frau Wielandt, einen sorgfältig ausgewählten Kreis von 12 jungen Mädchen und ebensoviel Jünglingen zu bilden, deren Elternhäuser reihum die „Tanzstunde“ bei sich auf­nahmen. Den Unterricht erteilte ein Ballettmeister von Pelchrzim. Nach einstündiger Dauer fand Abendessen statt. Danach wurde wieder getanzt. In der Regel waren auch auf Einladung der jeweiligen Haus­herrin einige Gäste, nicht nur im Alter der Tanzschüler, sondern auch „Respektspersonen“ anwesend; man mußte sich also „benehmen“. Dem Verfasser des einstmals so berühmten Buches „Der gute Ton in allen Lebenslagen“[91] wäre wenig zu wünschen übrig geblieben, wenn er die zweimal zwölf Tanzstundenteilnehmer im Verkehr mit den älteren Herrschaften und untereinander beobachtet hätte. Der Verkehr unter­einander: seinen Grundzug mit einem Wort zu bezeichnen, das jetzt, nach 60 Jahren noch begriffen wird, ist nicht leicht. Ich finde in meinem Sprachschatz kein passenderes als: Ritterlichkeit. Wir jun­gen Männer traten den Mädchen weder als Herren der Schöpfung noch als Minnesänger, weder als Wandervögel, noch in anderer kamerad­schaftlicher Pose entgegen, sondern wahrten respektvoll Distanz auch dann noch, wenn aus der gesellschaftlichen Berührung sich eine mehr oder minder herzliche Freundschaft entwickelt hatte. Ich glaube nicht, daß in unseren Kreisen jenes behende Verfallen in den Duz-Komment hätte um sich greifen können, das heute im Verkehr junger Leute eintritt, wenn – die Mädchen darauf eingehen. Damals schätzte man burschikose Weiblichkeit – contradictio in adiecto[92] – durchaus nicht. Die Zigarette zwischen rotbeschmierten Lippen war noch nicht als Hoheitszeichen für die Gleichberechtigung der Frau mit dem Manne eingeführt.
Der Tanzstundenwinter, dessen gesellschaftliche Auswirkung sich nicht in den Sonnabenden erschöpfte, sondern auch eine Mehrzahl von Einladungen zu Hausbällen und ähnlichen Veranstaltungen umschloß und sich über den Sommer 1888 fortsetzte, wurde dafür verantwort­lich gemacht, daß ich Michaelis als Zensur in Mathematik und Physik je eine 4 heimbrachte. Mir hat diese Kausalität nicht eingeleuch­tet. Meine sehr guten Leistungen in den anderen Fächern waren ja nicht vertanzt worden, und in Arithmetik und Algebra hatte ich auch nie Schwächeanwandlungen. Dagegen bin ich in Geometrie und Stereo­metrie nie warm geworden. Mir fehlt die Einsicht; ich kann sie auch ebensowenig erwerben, wie den mir fast völlig abgehenden Ortssinn; das ist ein Mangel, der mich durchs ganze Leben begleitet und man­ches heitere Abenteuer aber auch manche Unbequemlichkeit hervorge­rufen hat. Wie es vorgekommen ist, daß ich in einem fremden Gebäude zufällig den rechten Weg gefunden habe, so war es mir auch biswei­len gelungen, eine als schwierig geltende mathematische Aufgabe zu lösen. An den rein aleatorischen Charakter solcher Leistungen glaubte man aber nicht. Die 4 wurde als ernstliche Gefährdung mei­nes Abiturs angesehen. Ich mußte Nachhilfestunde bei einem Mathema­tiklehrer nehmen. Dieser brave Mann, der ganz aus Mathematik be­stand – er hat sein Leben als emeritierter Oberstudiendirektor ei­nes Realgymnasiums beschlossen – erkannte meine habituelle Unfähig­keit. Gerade deshalb sorgte er sich um mein Abiturium. Die Aufgabe, auf die er keinen Einfluß hatte, soll sehr schwierig gewesen sein. Das wußte ich nicht. In der fünfstündigen Klausur ritt ich über den Bodensee. Noch an demselben Tage erfuhr ich durch meine Konabitu­rienten Wielandt, ein mathematisches Genie, daß ich die richtige Lösung gefunden hatte. Mein Nachhilfelehrer war glücklich, aber nicht stolz. Er wußte nur zu gut, daß die Laune des Zufalls eine tolle Kapriole geschlagen hatte.
Darüber, daß man mich nun auf Grund einer Zensur „völlig ungenü­gend“ in Mathematik nicht im Schlußexamen durchfallen zu lassen ge­zwungen war, hat wohl das ganze Kollegium, Rektor und Ordinarius an der Spitze, wirkliche Freude empfunden. Die Schule hätte sich vor sich selbst lächerlich gemacht, wenn sie mir das Reifezeugnis ver­weigert hätte. Ich galt als einer ihrer besten Schüler in einem Jahrgange, der als besonders tüchtig von jeher belobt worden war. Und nun hatte sich ein halbes Jahr vor dem Abitur auch noch die Sa­che mit dem Witteschen Preis zugetragen. Die angesehenste unter den zahlreichen Stiftungen, die an der Thomasschule bestanden, war die eines ehemaligen Rektors Witte[93], der offenbar zu beweisen bezweckt hatte, daß die extrem humanistische Eigenart der Thomana keineswegs der Pflege der deutschen Sprache und des deutschen Aufsatzes ab­träglich sei. Witte hatte ein Kapital gestiftet, mit der Anordnung, daß aus dessen Erträgnissen alljährlich zwei Preise an Oberprimaner gegeben werden sollten, die in sechsstündiger Klausur die besten Aufsätze über ein freies Thema schreiben würden. Die Namen der Ver­fasser durften nicht genannt werden; die Arbeiten waren unter einem Motto abzugeben, das auch auf einem den Namen des Verfassers ent­haltenden verschlossenen Umschlag anzubringen war. Das „Preisge­richt“, eine jedes Jahr ad hoc aus dem Lehrerkollegium gebildete Kommission, mußte seine Entscheidung treffen, ohne die Verfasser der Arbeiten zu kennen; die Umschläge wurden erst in feierlichen Aktus vor der ganzen Schule durch den Rektor geöffnet.
Am 3. September 1888 schlug für meinen Jahrgang die Stunde der be­deutsamen Konkurrenz. Beide Oberprimen waren vollzählig in der Aula versammelt. Unter ungeheurer Spannung verlas ein Mitglied der Prü­fungskommission die Stiftungsbedingungen und schloß mit den Schick­salsworten: „Das Thema, das die Kommission gewählt hat, heißt: „Das klassische Altertum, eine Schule vaterländischer Gesinnung.“ Kaum hatte ich diese Worte gehört, als mich auch schon Unmut und Befrem­den packte. Wir waren daran gewöhnt, daß für den deutschen Aufsatz die höchsten Anforderungen an uns gestellt wurden. Erst kurz vorher hatte man uns – beispielsweise – das Thema gestellt: „Aus Morgen­duft gewebt und Sonnenklarheit – der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit.“[94] Es war einigen von uns gelungen, ihre Erkenntnisse vom Wesen und Zauber der Poesie in gehobener Sprache, denn zu sol­cher verpflichtete das Goethewort – vorzutragen; meine Arbeit, über die ich sechs Wochen lang hatte nachdenken können, wurde mit der besten Note zensiert. Aber von diesem und anderen Aufsatzthemen un­terschied sich das des Witteschen Preises dadurch, daß das letztere offenbar, wie mir schien, den Bearbeitern eine bestimmte Tendenz vorschrieb: Nachweis, daß die klassischen Studien den Patriotismus befruchten und fördern. Gegen solche Glorifizierung des Patriotis­mus bäumte sich meine moralische Überzeugung auf. Schon in jenen Primanerjahren war mir, vielleicht unter dem Einflusse ausgedehnter Lektüre ausländischer Literatur, eine kosmopolitische Denkweise zu eigen geworden, die den landläufigen Patriotismus ablehnte. Kurz vor der Witteschen Preiskonkurrenz hatte ich folgende Tirade nie­dergeschrieben:

„Patriotismus ist im genossenschaftlichen Betriebe erzeugter und staatlich prämierter Egoismus …
Eine sittliche Zukunft wird frei sich zu dem Satze bekennen: ubi bene, ibi patria.“[95]

Mit solchen Anschauungen sollte ich nun meine humanistische Bildung vor den Triumphwagen der Deutschtümelei, wie ich allzu bitter meinte, spannen. Ich quälte mich wohl eine oder zwei Stunden grü­belnd herum. Dann teilte ich dem die Aufsicht führenden Lehrer mit, ich sei unpäßlich, könne vor Kopfschmerzen keinen Gedanken festhalten und müsse nach Hause gehen. Er war erstaunt, konnte mich aber nicht zurückhalten.
Aber als ich das Portal der Schola Thomana verlassen wollte, er­blickte mich der dort im Gespräche mit einem Besucher stehende Rek­tor Jungmann. „Wohin wollen Sie denn gehen? Sie können doch noch nicht fertig sein“! „Nein, Herr Rektor; ich habe noch gar nicht an­gefangen. Ich leide an heftigen Kopfschmerzen und das Thema liegt mir nicht.“ „Aber ein paar Sätze werden Sie schon zu Papier bringen können. Wenn Sie heute gar keine Arbeit abgeben, müssen Sie ja in besonderer Klausur ein anderes Thema behandeln, weil der deutsche Aufsatz notwendige Prüfungsaufgabe für die Michaeliszensur ist. Es ist also doch viel einfacher, wenn Sie heute schreiben. Daß Sie Kopfschmerzen haben, wird bei der Michaeliszensur berücksichtigt werden.“
Die Suggestivkraft, die von Jungmanns wundervoller Persönlichkeit ausging, krempelte meinen Kleinmut völlig um. In die Aula zurückge­kehrt erklärte ich kurz dem Aufsichtsführenden, der Rektor habe an­geordnet, daß ich an der Klausur weiter teilnehmen solle, und ließ mich auf meinem Platze nieder. Mich hatte der Imperativ gepackt: „So schreib doch, was du denkst! Zeig ihnen den Unterschied zwi­schen Leonidas und Perikles, Muzius Scaevola und Brutus auf der ei­nen und den Patrioten des gestrigen Sedantages auf der anderen Seite.“ Die Zeit zum Entwerfen eines Konzepts mangelte; ich mußte mich gleich an die sogenannte Reinschrift machen. Das ging ohne größere Korrekturen ab, denn meine Gedanken saßen ja fest und die Sätze formten sich ganz von selbst. Dem ruhig stolzen Volksbewußtsein  der klassischen Völker trat die eitle Überheblichkeit des deutschen Spießers nach dem 70er Kriege gegenüber. Es sei nicht vaterländi­sche Gesinnung, wenn man am Engländer nur Spleen, am Russen nur vereisten Stumpfsinn bemerken wolle; statt Völkerversöhnung unter Anerkennung der Gleichberechtigung erziele der deutsche Patriotis­mus Gegnerschaften und Feindseligkeit. Ich weiß von jenem Aufsatze heute nur noch die Grundsätzlichkeiten, weil sie mich durch mein ganzes Leben begleitet haben. Damals aber gefiel mir meine Nieder­schrift ganz außerordentlich, als ich sie nach ihrer Vollendung überflog. Und als ich nun das Motto anbringen mußte, verwarf ich das vorher gewählte:

„Das Glück war niemals mit den Hohenstaufen“[96]
und schrieb übermütig hin:
„Oh zarte Sehnsucht, süßes Hoffen …“[97]

In den nächsten Wochen wurde unter den Primanern viel darüber gere­det, wer den Preis bekommen würde. Die meisten hatten ihre Konzepte in der Hand. In der Parallelklasse war ein ganz wilder Teutone na­mens Spitzner, der einen recht guten Stil schrieb wegen der Avan­cen, die ihm das Thema gab, von seinen Freunden als sicherer Preis­träger ausgerufen wurde. Am 23. September fiel die Entscheidung. Der Semesterschlußakt hatte die Aula überfüllt. Vornehm wie immer stand Jungmann vor der Versammlung, hinter ihm saß das ganze Kolle­gium. Atemlose Stille herrschte, als der Rektor zum Schluße seiner Mitteilung anhub:
„Bei der Bewerbung der Oberprimaner um den Witt­eschen Preis hat das Kollegium einstimmig den ersten Preis zuer­kannt der Arbeit mit dem Motto: ‚Oh zarte Sehnsucht, süßes Hoffen.‘ Ich öffne jetzt den das gleiche Motto tragenden Umschlag. Verfasser ist der Oberprimaner Martin Drucker.“
Eine Minute der Bewegung durchrauschte den Saal. Die Oberprima A konnte sich vor Stolz nicht lassen. Wenige Minuten vorher hatte der Rektor bekannt gegeben, daß der Ernestische Dukaten für den besten lateinischen Aufsatz meinem Freunde Hermann Triepel zugesprochen worden sei, und nun fiel auch der Wittepreis in unseren Cötus. Den zweiten Preis bekam tatsäch­lich Johannes Spitzner. Außerdem gab’s noch einige lobende Erwähnun­gen.
Im Klassenzimmer ging der Ordinarius, Prof. Stürenburg, auf meine Arbeit ein, las auch einige Sätze daraus vor und lobte sie. Aber dann trat er an mich mit der Frage heran, ob denn das alles wirk­lich meine Überzeugung sei, und als ich bejahte, sagte er ernst: „Dann bedauere ich Sie.“ Ein mit dem Eisernen Kreuz geschmückter Offizier des 70er Krieges konnte wohl nicht anders denken. Aber daß dennoch auch er wie die ganze Preisrichterkommission meiner apostatischen Arbeit den Preis zuerkannt hatte, zeigt die Gedankenfreiheit, die das Lebenselement der damaligen Thomasschule bildete.
Niemand in jenem Aktus, auch ich nicht, wußte, daß schon einmal ein Martin Drucker den Witteschen Preis davongetragen hatte: 1851 mein Vater! In dem alten Schulprogramm aus jenem Jahre war die Tatsache bezeugt und wurde nunmehr bekannt. Und als zu Michaelis 1922 mein Kopenäler Adolf Buchholz als Konrektor den Mottoumschlag des Preisträgers öffnete, las er den Namen Heinrich Drucker und gab in tiefer Bewegung den Versammelten Kunde davon, daß in ununterbrochener Geschlechterfolge der Preis zum dritten Male in die selbe Thomaner­familie gefallen sei.
Wie ich schon andeutete, hätte sich der Wittesche Preis schlecht mit einer perniziösen Mathematikzensur vertragen. Eine solche wäre aber auch durch die sonstigen Prüfungsergebnisse desavouiert wor­den. Ich hatte Glück bei den Klausuren und erst recht in dem mehr­tägigen mündlichen Examen. Hier kam mir in seltsamer Weise ein Zu­fall zu Hilfe. Als letztes Prüfungsfach war auf einen Montag Grie­chisch angesetzt. Am vorhergehenden Sonntagnachmittag fand bei der bekannten Musiklehrerin Thekla Friedländer, der Tante meiner Tanz­stundenfreundin Ilse Friedländer, ein Hauskonzert statt, das mich sehr lockte. Aber ich mußte erst das Bedenken niederkämpfen, ob ich nicht besser täte, diesen letzten Nachmittag zur Sammlung auf die Prüfung zu benutzen. Daß Jungmann als Examinator ganz tief ins Griechentum hineinsteigen würde, war vorauszusehen. Gerade deshalb beschwichtigte ich mein Gewissen mit der Vorstellung, eine weitere Vorbereitung sei doch zwecklos. Zum Besuche des Konzerts ent­schlossen, warf ich die bereit gehaltenen Bücher frivol auf die Schreibtischplatte. Dabei fiel ein Oktavheft, sich öffnend, zu Bo­den. Beim Aufheben las ich einige Zeilen. Sie bestanden in Notizen, die ich in Obersekunda zu Papier gebracht hatte, als Jungmann beim Ausbleiben eines Lehrers für eine Unterrichtsstunde bei uns einge­sprungen war. In solchen Fällen kümmerte er sich verständigerweise nicht um den vorgeschriebenen Lehrstoff, sondern beschäftigte sich und uns mit einem fernliegenden und darüber hinausgehenden interes­santen Thema. In einer dieser Stunden also, die uns stets großen Genuß verschafften, hatte ich mir einige Notizen gemacht. Der Ge­genstand ist mir nicht mehr erinnerlich; es handelte sich wohl um eine Singularität aus der griechischen Prosodie. Ich las meine alte Niederschrift fast achtlos und ging dann zu Thekla Friedländer. Er­frischt kehrte ich von der musikalischen Unterhaltung zurück.
Am nächsten Vormittag führte Jungmann uns tief in das klassische Griechentum hinein. Die griechische Sprachlehre kam zu ihrem Rechte, aber sie umrangte die eigentlichen Themen: Philosophie und Dichtung. Plötzlich fühlte ich, wie Jungmanns Fragen sich immer mehr meinem alten bescheidenen Oktavheft näherten! Und dann wollte er abbrechen mit einer Wendung etwas des Inhalts: es gibt hier ein höchstinteressante Eigentümlichkeit, aber davon werden Sie nichts wissen können. Oder doch, Drucker? Denn ich war aufgestanden. In aller Ruhe wiederkäute ich, was ich tags zuvor gelesen hatte. Die Sensation bei Examendatoren wie Examinanden war riesengroß. Das Ex­amen war beendet. Die Spannung dieser letzten Gymnasialwochen ebbte zurück. Das Übermaß des Schulwissens drückte und irritierte uns nicht mehr. Als Heinrich Triepel drei Jahre vor uns die Matura ab­gelegt hatte, äußerte er, er glaube nicht, daß man in irgendeinem Zeitpunkte des Lebens mehr wisse als nach guter Vorbereitung im hu­manistischen Abitur. Er hat Recht gehabt. Auch der fleißigste Ge­lehrte spezialisiert sich auf einzelne Disziplinen. Der Gymnasial­abiturient soll in einer Mehrzahl inkommensurabler Lehrfächer be­trächtliches Wissen angesammelt haben. Sein Vorbild soll Leibniz, nicht Helmholz sein.
Vor dem feierlichen Entlassungsaktus, nach dem es einige Prämien gab – für mich Jakob Burkhardts Kultur der Renaissance in Italien – fanden einige Abschiedsveranstaltungen statt; zunächst ein Kommers, bei dem das Kollegium Gast der Abiturienten war. Er bot nichts Be­merkenswertes außer einem mich persönlich betreffenden ärgerlichen Vorfall, auf den ich später einzugehen gedenke. Sehr festlich ver­lief dagegen der Abiturientenball im Hôtel de Pologne. Anders als bei den anderen Leipziger Gymnasien wurde auf der Thomana die ge­samte Ausrichtung und Durchführung dieser Bälle einem Schüleraus­schuß überlassen; zwei zu ihm abgeordnete jüngere Lehrer hielten sich im Hintergrunde. Unser Ausschuß, zu dessen Vorsitzendem ich gewählt wurde, bemühte sich mit Erfolg um eine recht vornehme und großartige Ausgestaltung des Festes, zu dem die gebildeten Familien sich drängten. Zutritt erlangte aber nur, wer eine gedruckte Einla­dung vom Ausschuß bekommen hatte. Es mögen wohl 500 Teilnehmer an­wesend gewesen sein. Ich hatte die Eingangpolonaise anzuführen und mußte auch bei der Tafel die Begrüßungsrede halten, die ich hier als mein erstes rhetorisches Auftreten in der Öffentlichkeit er­wähne.
Größerer Erinnerungswert kommt aber einem Gespräch des Konrektor Stürenburg mit meinem Vater zu. Stürenburg beschwor ihn, mich doch nicht Jura und Cameralia, wie ich gemeldet hatte, studieren zu las­sen, sondern Philologie und Literatur; ich besäße ein erhebliches schriftstellerisches Talent. Durch diese Sirenenklänge ließ ich mich nicht verführen. Trotz meiner guten Aufsätze und vieler Verse war ich meiner Grenzen mir bewußt. Außerdem hing ich damals dem Ge­danken nach, im Anschluß an die juristischen Examina in das Orien­talische Seminar in Berlin einzutreten und nach dessen Absolvierung im Dienste des Reichsjustizamtes oder Auswärtigen Amtes nach Japan oder Ostchina zu gehen. Jünglingsträume, aus denen das Leben mich bald erweckt hat.
Den Abschluß der durch das Abitur hervorgerufenen verschiedenarti­gen Festlichkeiten bildete ein Mulusball, den meine Eltern in unse­rer Wohnung veranstalteten. Die schönen Räume, zu denen ein saalar­tig großes und breites Balkonzimmer gehörte, mit ihrem spiegelblan­ken Parkett, dem in heller Bronze funkelnden Kronleuchter, der in einen Büfettraum verhandelten Diele, wo hinter Efeuwänden die Tanz­kapelle aufspielte, sahen an diesem Abende, wie ein bis in die Mor­genstunden sich erstreckendes Jugendfest Hannas und meine Freundin­nen und Freunde, dazu andere von den Eltern geladenen Gäste in Frohsinn und Heiterkeit vereinte. Den Höhepunkt bildete ein viel­touriger Kotillon[98], den Hanna und ich mit selbsterdachten lustigen Überraschungen ausgestattet hatten. Einen hübschen Spaß will ich erzählen. An ein Tanzpaar tritt ein zweiter Herr mit dem Verlangen heran, den ersten zu ersetzen. Weil die Dame nicht selbst entschei­den will, nimmt sie von einer ihr dargereichten magischen Servier­platte – Träger war wohl mein Bruder Carl – zwei rote Papierherzen und gibt je eines den beiden Rivalen. Man schreitet zum Wunderwas­serbecken, betreut, soviel ich noch weiß, von Betty. Des Wassers Zauberkraft soll erweisen, welches Herz echt ist. Die Nebenbuhler tauchen die Papierherzen ein. Und siehe da: eins wird in alter Röte wieder herausgezogen, das andere aber zeigt ein griesgrämliches   Blau. Dieser Tänzer muß abtreten. Die ganze, von Hanna mit flinken Verschen umrahmte Prozedur rief Stürme der Begeisterung hervor. Nur Wielandt ahnte wohl mein Produktionsgeheimnis: eins der Herzen be­stand aus gewöhnlichem Löschpapier, das andere aus ihm täuschend ähnlichem Lackmuspapier und der Zauberborn war Sodawasser.
Bald danach reiste ich für eine Woche nach Loschwitz. Im Jahre vor­her hatte ich in Wildbach einen Zwickauer Primaner Kurt Martens kennen gelernt und mich mit ihm angefreundet. Er gefiel mir sehr durch seine beste Kinderstube zeigendes Benehmen – dafür habe ich immer ein Faible gehabt – noch mehr aber wegen seiner literari­schen Bildung und seiner unverkennbaren dichterischen Befähigung. Einige seiner Verse, die in Wildbach entstanden, sind mir noch heute im Gedächtnisse geblieben. Bei einer Lustspielaufführung der Wildbacher Sommergäste gab er eine Charakterrolle ganz vorzüglich. Wir blieben dann im Briefwechsel, der uns immer näher zusammen­führte. Dadurch kam es zu der Einladung seiner in zweiter Ehe ver­heirateten Mutter nach Loschwitz, wo sie eine jener reizenden Gar­tenvillen bewohnte. Ich verlebte dort höchst genußreiche Tage. Mehrmals fuhren wir nach Dresden, das ich noch kaum kannte. Ich wurde durch die berühmten Sammlungen, das grüne Gewölbe, die Gemäl­degalerie und die sonstigen Kunstspeicher geführt und war pflicht­gemäß bemüht, mich zu begeistern. Aber bei allem Respekt vor der Sixtinischen Madonna und allem Wohlwollen für das Schokoladenmädchen ist es mir ebensowenig in Dresden wie später in München gelungen, die innige Fühlung mit und die Ehrfurcht gegenüber der Malerei zu gewinnen, die doch als Elemente der allgemeinen Bildung kanonisiert sind. Rührt oder packt mich nicht der dargestellte Gegenstand, so bleibt meine Empfindung vor großen und kleinen Gemälden fast ste­ril. Ich weiß, daß ich mich mit diesem Berichte bloßstelle. Warum aber werden andererseits die Leute, die sich als unmusikalisch de­nunzieren, nicht als amusisch verachtet? Meine Beziehungen zu Kurt Martens haben sich eigenartig gewandelt. Als er im nächsten Jahr nach Leipzig kam um Jura zu studieren, waren wir noch wirkliche Freunde. Ich führte ihn in meinen engsten Kreis ein, er schloß sich besonders an Georg Langerhans an. Aber eines Sonntags überraschte er mich als Fuchs des Corps Saxonia[99], in das er plötzlich einge­sprungen war. Er wollte mich durchaus bewegen, gleichfalls Korps­student zu werden, und lag meinem Vater in den Ohren, dieses Ver­langen zu unterstützen. Ich lehnte entschieden ab und versuchte ihn davon zu überzeugen, daß sein ganzes Wesen doch schlechterdings diesem Kommenttreiben abhold bleiben müsse. Er ging gekränkt weg und ließ zunächst nichts von sich hören. Aber es dauerte nicht lange, da bekam ich von ihm einen Brief aus Berlin: er habe sich von dem Korps, bei dem es nicht auszuhalten gewesen sei, durch un­gemeldete Abreise nach Berlin getrennt und werde sein Leben nun ganz anders einrichten. Ich las zwischen den Zeilen, daß er auch mir Valet sagte, und antwortete ihm deshalb nicht. Er wurde Schriftsteller. Bisweilen las ich Kritiken über seine Bücher, dann und wann fiel mir auch eins von ihnen die Hände. Keins erschien mir als unbedeutend. Aber die Erwartungen, die ich auf ihn gesetzt hatte, sind nicht erfüllt wor­den. An seinem Beispiel erkannte ich, wie recht ich mit der Verwer­fung von Stürenburgs Anregung getan hatte, Schriftsteller zu wer­den.
Etwa 30 Jahre nach der Flucht Martens aus Leipzig machte mich ein Leipziger Professor darauf aufmerksam, daß Martens in seinem Buche „Schonungslose Lebenschronik“ nicht allein über mich, sondern auch meine nächsten Freunde unter Namensnennung recht geringschät­zig, ja geradezu gehässig, sich geäußert habe. Der Professor (Süss) zeigte mir bei einem Zusammentreffen im Café Hennersdorf die Stelle. Ich fand seine Mitteilung voll bestätigt[100]. Was Martens zu solcher Falonie bewogen haben mag, ist mir unerkennbar geblieben.
Ehe ich mit dem Studium begann, gedachte ich das lästige Militär­jahr hinter mich zu bringen, möglichst außerhalb Leipzigs in einer Universitätsstadt, um wenigstens gelegentlich Wissenschaft naschen zu können. Ich meldete mich bei einem Füsilierbataillon in Jena zur Untersuchung. Da die ganze Truppe zu irgend einer Übung ausgerückt war, wurden die Funktionen des Stabsarztes vertretungsweise durch ei­nen Zivilarzt wahrgenommen. Bei seinen Fragen und Handgriffen merkte ich, daß er tüchtig getrunken haben mußte. Denselben Ein­druck hatten und bekundeten dann die sechs anderen jungen Männer, die sich am gleichen Tage stellten. Nach Beendigung der eigenarti­gen ärztlichen Prüfung eröffnete uns der gestrenge Examinator, daß wir alle dienstuntauglich seien. Verwundert fuhr ich nach Leipzig zurück, wo auch unser alter Hausarzt Dr. Schenkel, der meine kör­perliche Beschaffenheit genau kannte, seinem Befremden über das Ur­teil des Jenenser Kollegen lebhaft Ausdruck verlieh. Aber zunächst mußte ich auf Ehre und Freuden eines Rekrutendaseins verzichten. Leider nicht für immer.
Als Universitätsstadt trat an die Stelle Jenas nunmehr München, hauptsächlich deshalb, weil Georg Langerhans sich dafür entschieden hatte und wir zusammen wohnen wollten. Er hatte auch unsere Buden ausfindig gemacht: Türkenstraße 57 beim Grafen Fugger-Blumenthal. Diese hocharistokratische Familie schien einen bescheidenen Lebens­standart nur dadurch aufrechterhalten zu können, daß sie die ganze zweite Etage ihres Palais – so hieß, wohl von altersher, das gänz­lich schmucklose, einer voluminösen Lehmhütte schon wegen seiner schmutziggelben Farbe nicht unähnliche Gebäude – an Studenten und ähnlich distinguierte Fremdlinge vermietete, z. B. einen jungen amerikanischen Professor mit Frau und Kind, der sich studienhalber in München aufhielt. Als Langerhans und ich am Sonntag nach unserem Einzuge durch den einzigen dienstbaren Geist des Hauses das hoch­gräfliche Geschlecht um die Ehre hatten bitten lassen, uns persön­lich vorstellen zu dürfen, wurde beim Empfang ein vermutlich den Wittelsbachern abgegucktes höfisches Zeremoniell zelebriert. Das Dienstmädchen qua Hausmarschall öffnete vor uns die Flügeltür zum Empfangssalon, unsere Namen verkündend; der alte Graf ging uns we­nige Schritte entgegen, ganz Grandseigneur; nach huldvoller Begrü­ßung präsentierte er uns seiner auf dem gräflichen Sofa thronenden Gemahlin. Wir empfanden die Tragikomik der Szene und der Handlung, aber ohne Verlegenheit, auf die man bei ein paar jungen bürgerli­chen Studenten vielleicht gerechnet hatte. Wir trugen beide den ta­dellosen schwarzen Rock, der damals für feierliche Besuche vorge­schrieben war, und beherrschten nach unserem Leipziger Verkehr die gesellschaftlichen Formen zu sicher, als daß uns der erquälte Emp­fangspomp aus dem Konzept hätte bringen können. Wahrscheinlich im­ponierte unsere Wohlerzogenheit der Gräfinmutter, denn sie ent­schloß sich zu dem Wagnis, uns der „Komteß“ vorzustellen, die her­eingeholt wurde. Sie erwies sich als eine weder durch Schönheit noch durch Geist aufdringlich wirkende Dame schwer bestimmbaren Al­ters. Nach wenigen Minuten machten wir dem Auftritt ein Ende in dem Bewußtsein, uns ausgezeichnet benommen zu haben. Den einzigen Fauxpas beging die Gräfin, als sie ihrem leutseligen Wunsche, wir möch­ten uns in diesem Hause wohl fühlen, die in Form einer Bitte ge­kleidete Ermahnung anhängte, durch unser Verhalten als Mieter nie das Ansehen des Hauses zu gefährden. Das taten wir nun freilich so­fort nach der Rückkehr in unsere Oberstuben, indem wir in ein schallendes Gelächter ausbrachen, das man wohl in der gräflichen Bel-Etage gehört und vielleicht begriffen hat.
Der gräfliche Sohn war Offizier im Leibregiment. Für ihn mußten wohl die bescheidenen Revenuen der Familie hauptsächlich verwertet werden, damit der Schein der Vornehmheit gewahrt bleibe. Während unseres Aufenthalts in München kam es zweimal vor, daß das Gräflich Fuggersche Paar an irgendwelchem Hofempfang teilnehmen mußte. Dann wurde aus der Remise eine wohl sehr alte wappengeschmückte Kutsche hervorgeholt, mit zwei- oder gar vier? – geborgten Pferden be­spannt, mit einem Lohnkutscher und einem Lohndiener – aber natür­lich in Gräflich Fuggerscher Livree – besetzt und so begab sich der bayrische Grande nebst höchstseiner Gemahlin zur Residenz. Zunächst lachten wir über diese Spiegelfechterei. Aber dann beschlich uns Mitleid mit diesen vermutlich ganz harmlosen Menschen, denen Stan­desvorurteile den Weg zur Gegenwart und zur Wirklichkeit verschüt­teten.
Das Münchner Semester bereicherte nach den verschiedensten Richtun­gen unsere Kenntnisse und Erfahrungen. Wesentlich zunächst durch den Universitätsbetrieb. Wir waren sehr fleißige Kollegienbesucher, arbeiteten aber auch in der Regel abends das vormittags Gehörte miteinander durch. Von den Professoren unserer Fakultät hat aber mit einer Ausnahme keiner einen tiefen Eindruck hinterlassen. Die großen Juristen haben wir erst in Leipzig kennen gelernt. Jene Aus­nahme war der Professor Freiherr von Hertling, der spätere Reichs­kanzler, der über Rechtsphilosophie las. Das war eine tendenziöse Propaganda für eine von ihm begründete neue Lehre und erregte wegen allzu starker Betonung des Primats katholischer Ansprüche vor den Staatsnotwendigkeiten oft unseren Widerspruch. Aber der Vortrag war so geistvoll, die Diktion so vornehm, daß wir getreue Besucher des gefährlichen Rhetors blieben.
Neben diesem politisierenden Juristen fesselte mich Michael Bernays als Literarhistoriker. Mir ist so, als hätte ich an seinem letzten Kolleg teilgenommen; jedenfalls hat er bald nach dieser Zeit seine Lehrtätigkeit aufgegeben. Auch sein Vortrag brachte wie der Hert­lings hohen ästhetischen Genuß, ohne doch Gegensätzlichkeit zum In­halt zu erzeugen.
Als Beweis für die Ubiquität meines Wissensdurstes sei erwähnt, daß ich bei dem damaligen Privatdozenten Oberhummer ein Kolleg über Ethnographie, verbunden mit Führungen durch die ethnographischen Sammlungen, besucht habe. Viel habe ich fürs spätere Leben freilich nicht davongetragen.
In den oberbayrischen Volkscharakter einzudringen fehlte mir Anlaß und Neigung. Ich hatte schon in den ersten Münchner Tagen die kul­turhistorisch aufschlußreiche Beobachtung gemacht, daß man den Säuglingen mit bierfeuchten Brotbrocken gestopfte Schnuller ins Mäulchen steckte und sich dadurch ungestörte Ruhe, jenen aber wohl die künftige Anwartschaft auf höhere bayrische Staatsämter zu ver­schaffen gedachte. Im übrigen gewann ich keine Einsicht in das bay­rische Gemüt, für das damals der Aggregatzustand der kochenden Volksseele noch nicht entdeckt war. Ich hatte einige Leipziger Ein­führungsbriefe bei verschiedenen Familien abgegeben, war darauf eingeladen worden und hatte mich über Kulturzustände im hohen Nor­den, also in Sachsen, ausfragen lassen, nicht ohne bisweilen miß­trauisches Kopfschütteln zu erregen.
So hatte ich eines Tages die Frage eines jener Ur- und Nur-Münch­ner, ob es denn wirklich bei uns vorkomme, daß in ein und demselben Lokale Biere aus zwei verschiedenen Brauereien ausgeschenkt würden, bejahend mit der Ausführung beantwortet, daß unsere großen Gast­wirtschaften beispielsweise ein dunkles und ein helles bayrisches Bier, ein Pilsner und ein einheimisches Bier nebeneinander führten. Der Gastgeber bewies, daß etwas derartiges einfach nicht möglich sei, und ließ mich fühlen, daß er mich für einen saupreußischen Aufschneider hielt.
Auch abgesehen von solchen einmalig bleibenden Hausbesuchen habe ich in München keine näheren Bekanntschaften gemacht. Ich war zwar im Anfang einige Male bei dem Corps Makaria[101] und der Landsmannschaft Transrhenania[102] eingeladen, denen ich von Leipzig her annonciert wor­den war; da ich aber nicht Mine machte, mich den Bindungen des Far­benstudententums zu unterwerfen, so schlief jener Verkehr bald ein. Mein gewöhnlicher Umgang waren Landsleute. Außer Langerhans nenne ich meinen späteren Kollegen Georg Zöphel, der, wie wir in einer Mondnacht auf der am Zugspitzenmassiv gelegenen Knorrhütte fest­stellten, am gleichen Tage desselben Jahres wie ich, also am 6. Ok­tober 1869 geboren ist; ferner Rudolph, später Anwalt am Oberlan­desgericht Dresden; der Mediziner Viktor Rosenblatt, später ein an­gesehener Arzt in Leipzig, dessen Sohn bei mir die Referendarsta­tion durchstand und heute einer der tüchtigsten Richter ist; end­lich Eduard von Bomhard, zwei Jahre vor mir als primus omnium von der Thomasschule abgegangen, Sohn eines Senatspräsidenten des Reichsgerichts. Er ist noch in jungen Jahren als Amtsrichter oder Staatsanwalt gestorben.
Allzu intensiv war auch dieser Verkehr nicht. Alle Genannten nahmen ihr Studium ernst und hatten daher tagsüber wenig freie Stunden, abends besuchten wir häufig die Theater, in denen die Studenten zu lächerlich niedrigen Preisen gute Plätze bekamen. So begegneten wir denn einander nur abends auf den Bierkellern. Ich hätte beinahe ge­sagt: zu einem Glase Bier. Aber es war nie ein Glas, sondern stets ein Maßkrug, und es blieb nie bei nur einem. Es ist mir immer unbe­greiflich erschienen, wie wir so ungeheuerliche Quantitäten haben konsumieren können. Wollten wir bloß zum Abendessen Getränke genie­ßen, so waren es zwei Maß; hatten wir hinterher nicht mehr zu ar­beiten, so tranken wir drei, und wenn wir zu dem besonderen Zwecke des Biertrinkens ausgegangen waren, so wurden es 5. Fünfzig Zehn­tel, das sind nach heutiger Messung zwanzig Glas Bier. Und dieses Quantum hat mich nicht ein einziges Mal trunken gemacht.
Das schönste an München war für mich seine Umgebung. Schon der er­ste Sonntag unseres Aufenthalts hatte uns an den Starnberger See geführt. Zum ersten Male sahen wir Alpen und Almen und Gebirgsseen. Seitdem machten wir uns an jedem Wochenende in das Gebirge auf, wenn es das Wetter nur einigermaßen gestattete. Wegen dieser von der ganzen Studentenschaft geteilten Neigung wurde samstags keiner­lei Kolleg abgehalten. Die Beförderungsmöglichkeiten waren aller­dings unbefriedigend; die Eisenbahnen erstreckten sich durchaus nicht so weit wie jetzt und Omnibusse gab es vor Einführung des Au­toverkehrs nicht. Aber wir waren ja gut zu Fuße und den notwendi­gerweise zu schwänzenden Montag konnte man nachkeilen. Die erste Bergpartie galt dem Wendelstein. Ohne Führer verstiegen wir uns und mußten die Nacht auf einer Sennhütte kampieren, was zwar durchaus nicht bequem, aber romantisch und überdies recht nahrhaft war. Aus­sicht auf dem am nächsten Tag erklommenen Wendelstein genossen wir zwar nicht, denn es war keine vorhanden. Aber wir waren doch oben gewesen!
Den Rekord meiner alpinistischen Leistungen bildete die Zugspitze. Die Bahn brachte uns nur bis Murnau, so daß wir – das waren Langer­hans, Zöphel, Rudolph und ich – noch einen tüchtigen Marsch bis Partenkirchen zurücklegen mußten, wo wir übernachteten. Ein Führer erklärte sich bereit, uns gegen erträgliche Bedingungen auf die Spitze zu führen, obwohl eigentlich verboten war, mehr als zwei Personen zu führen. Unsere Ausrüstung war höchst mangelhaft. Der Führer bestand darauf, daß wir in die Sohlen unserer städtischen Schnürstiefel wenigstens Eisen schlagen ließen. In der vierten Mor­genstunde brachen wir auf und erreichten nachmittags gegen vier Uhr die Knorrhütte. Der Weg war nicht gerade beschwerlich gewesen, aber ungemütlich durch häufige Schneestürme, die uns nötigten, zeitwei­lig Schutz unter überhängenden Felsplatten zu suchen. Die Notwen­digkeit der Exkursion war mir recht zweifelhaft geworden. Auf der durch andere Wanderer stark belegten Knorrhütte verbrachten wir ei­nen kurzen, fröhlichen Abend. Ich sehe heute noch Zöphel vor mir, wie er im weißen Nachthemd auf dem mondüberglänzten Schneefeld ei­nen exzentrischen Tanz vollführte. Die Nachtruhe kam durch solchen Unfug etwas zu kurz. Denn schon um zwei Uhr zwang der Führer uns zur Gipfelwanderung, um vor den anderen Gruppen oben zu sein. Das waren noch einmal vier Stunden. Kurz vor Erreichung des Zieles brach ein niederträchtiger Schneesturm los. Aber wir erreichten die Unterkunftshütte. In ihr mußten wir mehrere Stunden verbleiben, bis der Sturm sich gelegt hatte. Von Aussicht war auch dann nicht die Rede. Wir konnten nicht einmal den anderen Gipfel der Zugspitze er­kennen. Und ich muß gleich hier zusammenfassend beurkunden: ich habe in den folgenden Jahrzehnten noch manchen kleinen oder großen Berg in verschiedenen Gebirgen erstiegen, aber niemals habe ich freie Aussicht gehabt. Diese meine Promenaden und Expeditionen ver­mochten das schönste Wetter, unter dessen Herrschaft ich sie an­trat, zu vernichten. Ich bin offenbar ein kosmischer Zersetzungs­körper.
Von der Zugspitze stiegen wir nach dem Eibsee ab, wobei wir durch einen langen Kamin hindurchrutschen mußten. Herrlichster Sonnen­schein umflutete uns, als wir von der Gipfelaussicht keinen Ge­brauch mehr machen konnten. Während des vielstündigen Rückmarsches gerieten wir allerdings in einen so gewaltigen Gewitter- und Platz­regen, daß wir die Absicht, die Station Murnau an diesem Abende noch zu erreichen, aufgeben und in einem kleinen Dorfgasthause in Oberau übernachten mußten, mit dessen Wirt wir einen ganz mäßigen Preis für Bett ohne Frühstück acondierten, denn unsere Reisekasse war durch eine üppige Mahlzeit am Eibsee bedenklich zusammenge­schrumpft. Ehe wir am nächsten Morgen in allerfrühester Stunde auf­brachen, hatte einer meiner Freunde das Mißgeschick, sein Zahnputz­glas herunterfallen zu lassen. Wir schoben die Scherben unter die Kommode, denn bezahlen konnten wir das Glas nicht. In Murnau fehl­ten uns ein paar Mark zur Bezahlung der Fahrkarten. Aber der Schal­terbeamte, ein überaus jovialer Mann, gab uns, nachdem wir ihm un­sere Studentenkarten gezeigt hatten, die Karten auf Kredit, dessen baldigste Abdeckung wir zusagten.
Als wir mit knurrendem Magen unsere Buden in München erreicht hat­ten, fand ich ein von meiner Mutter gesendetes Paket vor, das ein Goldstück als außerordentlichen Zuschuß zum väterlichen Wechsel barg. Unsere Nahrungssorgen waren also erledigt. Während ich, weil ich recht müde war und in den nassen Stiefeln mir Blasen an den Fü­ßen zugezogen hatte, mich zu Bett legte, trabte Langerhans mit dem Goldstück in die Kneipe, wo er die anderen Wandergenossen erwar­tete. Er blieb mehrere Stunden fort. Dann aber erschien er, bepackt mit einem Maßkruge und vielen schönen Eßsachen, die er an meinem Bett aufbaute. Man sei der Meinung gewesen, daß auch ich etwas von dem Goldstück haben solle, zu dessen Verbrauch er die anderen ein­geladen hatte. Von meinem Vater bekam ich in diesen Tagen eine Postkarte mit einem Versrätsel, für dessen baldige Lösung er einen Preis von zehn Mark aussetzte. Es lautete:

Jedwedem baut’s das Erdenleben,
Und doch: nicht jedem ist’s gegeben.
Ward Dir’s zu teil, so mag es Dir gelingen,
Es durch sich selber zu bezwingen.
Wenn nicht, so darfst Du nicht verzagen:
Versuch, es mit sich selbst zu tragen!

Das war eine harte Nuß. Aber mein Vater, der an geistvollen Rätseln seine Freude hatte, war seinen Kindern nicht umsonst ein Führer durch die Kunst des Erratens Schleiermacherscher Rätsel gewesen. Ich suchte methodisch nach mehrdeutigen Worten, auf die die De­skription der im Rätsel angegeben Eigenschaften passen könnte. Und richtig, nach mehreren Stunden konnte ich dem Vater zurückschrei­ben:

Es nimmt dem Menschen das Geschick
bald dieses und bald jenes Glück.
Trob trübt sich nicht des Weisen Blick,
wenn ihm nur eines bleibt zurück:
Geschick!
Denn hat der Weise nur Geschick,
Selbst dieses Rätsel wird, o Glück!
Durchsichtig dann vor seinem Blick.
Er schickt als Lö­sung dies zurück:
Geschick!

Weil der Semesterbetrieb Ende Juli zwar nicht offiziell, aber doch praktisch zum Stillstande kam, hatte meine Mutter angeregt, daß ich zum 55. Geburtstage meines Vaters, am 30. Juli, ihn durch meine Rückkehr überraschen sollte. So trat ich denn einige Tage vorher wieder eine meiner Etappenreisen an, wie zwei Jahre früher von Min­den nach Leipzig. Ich rastete zunächst in Nürnberg, dessen Eigenar­ten zwischen Sebaldusgrab und Bratwurstglöckle ich bewundernd und befriedigt auskostete. Dann lenkte ich meine Schritte nach Regens­burg, nur um von dort aus die Walhalla aufzusuchen. Es ist gewiß eine seltsame Idee Ludwigs des Ersten gewesen, auf die Höhen von Donaustauf diesen strengen dorischen „Tempel deutscher Ehren“ set­zen zu lassen, zu dem man auf einer überzyklopischen Treppe mit An­strengung hinaufsteigt. Die Walhalla ist wohl auch nie in das deut­sche Bewußtsein eingewachsen als eine der Sehenswürdigkeiten, die man bei Gelegenheit besuchen soll, wie Niederwald- oder Völker­schlachtdenkmal. Die Gedenktafeln und Statuen in der Walhalla ermü­den. Und doch enthält sie in den Rauchschen Viktorien erlesenste Kunstwerke. Die Photographie der nach meinem Empfinden schönsten habe ich aufbewahrt, bis sie am 27. Februar 1945 dem Bombenbrande zum Opfer fiel, und in all den Jahrzehnten immer wieder mit tiefer Beglückung angeschaut.
Nach Regensburg machte ich noch in Altenburg bei Onkel Gustav und Tante Adelheid Station und erschien dann am nächsten Morgen als er­ster Gratulant bei meinem überraschten Vater. Er schlachtete zwar kein Kalb, denn ich kam ja nicht gerade als verlorener Sohn zurück. Aber er gab seiner Freude über meine Wiederkehr in herzlichster und nachhaltigster Weise Ausdruck, die mich rührte und stolz machte.
Mit dem Wintersemester 1889/90 wurde ich in Leipzig immatrikuliert und bin es bis zum Referendarexamen geblieben. Ursprünglich war ge­plant, daß ich noch ein paar Semester an einer süddeutschen oder vielleicht auch der Berliner Universität studieren sollte. Daraus ist nichts geworden, weil ich mich einfach von der Leipziger Fakul­tät nicht zu trennen vermochte. Sie war in jener Zeit die glänzend­ste unter allen deutschen Juristenfakultäten und die bedeutendste, die sich jemals in Leipzig zusammengefunden hat. Man sagte, daß je­der der Ordinarien in seiner Disziplin der erste Mann in Deutsch­land sei. Windscheid als Pandektist, Friedberg und Sohm als Kir­chenrechtler, Wach als Prozeßualist, Binding als Kriminalist fan­den nirgends ihres gleichen. Adolf Schmidt, der Vater meines Freun­des Viktor, hatte freilich seinen früheren Ruhm als klassischer Ro­manist schon einigermaßen überlebt. Aber sein vorbereitetes Kolleg vermittelte uns immer noch in unübertrefflicher Weise das wahre rö­mische Recht strengster Observanz. Die Mitte zwischen den beiden Polen Windscheid und Schmidt hielt Kuntze, ein stiller Mann, aber ein ausgezeichneter Lehrer, dessen Praktikum nach unserer Empfin­dung weit nützlicher war als die eiskalten Verstandesexerzitien bei Windscheid. Die Praktika begannen damals eine große Rolle zu spie­len. Ich habe nicht weniger als neun besucht; das bedeutete eine Fülle wissenschaftlicher Haus- und Klausurarbeiten, damit aber eine ganz ausgezeichnete Schulung für die spätere Praxis. Weil National­ökonomie Prüfungsfach war, hörte ich auch darüber und über Finanz­wissenschaft zahlreiche Kollegien. Auch auf diesem Gebiete waren die Leipziger Professoren die Koryphäen ihrer Wissenschaft: Ich habe bei Wilhelm Roscher studiert; ihm folgte Lujo Brentano, der von August Miaskowski abgelöst wurde. Die wissenschaftlichen Grund­lehren dieser drei Gelehrten waren so verschieden voneinander wie ihre Persönlichkeiten. Der Polyhistor Roscher, dessen unerschöpfli­ches Detailwissen uns schaudern machte, lehrte andere Dinge als der Leichtkathetersozialistische Brentano, dessen Aussaat wiederum der konservative Balte von Miaskowski nicht recht aufkommen ließ. Ge­genüber der Strenge der juristischen Disziplinen erschien mir die Nationalökonomie wie eine freie Kunst. Ich begriff ein spöttisches Wort, mit dem Friedberg im Kolleg über Handelsrecht das soeben er­schienene und vielfach bestaunte Lehrbuch eines seiner Kollegen (Endemann) abgetan hatte: Es leide doch zu sehr an nationalökonomi­scher Verflachung.
Unter den jungen Lehrkräften der Fakultät befand sich Prozeßualist und Publizist Richard Schmidt, der leider schon 1891 als Professor nach Freiburg ging, um erst 1913 als hochberühmter Gelehrter nach seiner Vaterstadt Leipzig zurückzukehren, und sein Freund Friedrich Stein. Dem letzteren bin ich nähergetreten als irgendeinem anderen meiner akademischen Lehrer. Das kam so. Als wir eines Nachmittags Kaffeegäste bei Friedberg waren, in dessen Hause ich seit der Tanz­stunde mit Asta Friedberg häufig verkehrte, äußerte Stein, er habe noch keinen Famulus für seine Kollegien gefunden. Friedberg warf die Frage auf, ob ich nicht die Famulatur übernehmen wolle. Stein ging sofort darauf ein und ich konnte nicht gut ablehnen, zumal ich glaubte, keine umfängliche Bemühung auf mich zu nehmen. Das erwies sich freilich als eine Täuschung. Stein hatte ein publicum über Preßrecht angekündigt. Ich fand am ersten Tage das Auditorium über­füllt vor, so daß ich durch den Hausinspektor uns schnell noch ein anderes, ganz großes zuweisen lassen mußte. Stein war durch diese Überraschung beglückt. Er sprach hinreißend. Von diesem Tage an war er als einer der glänzendsten Redner der Universität anerkannt. Alles lief zu ihm. Sein privatissimum über die Institutionen des Gaius, das eigentlich außerhalb seines besonderen Fachwissens lag und doch kein Zwangskolleg bildete, war überfüllt, weil es sich bald als eine vortreffliche Einführung in die römische Rechtsspra­che erwies. Aber der größte Erfolg wurde sein Zivilprozeßpraktikum. Ein solches in erlaubter Konkurrenz mit Adolf Wach anzukündigen, war ein Wagnis. Aber erneut zeigte sich, welchen Ruf als Lehrer sich Stein rasch erworben hatte. Die Zahl der Praktikanten blieb hinter der des Olympiers Wach nicht zurück. Ich hatte nicht nur be­trächtliche Einnahmen, weil die Quästur neben den Kolleggeldern ein Fixum für den Famulus einzog, sondern kam als solcher auch in nahe persönliche Beziehungen zu meinem Meister. Wie oft hatte ich ihn in seiner von meiner elterlichen nicht weit entfernten Wohnung Grassi­straße 17 abends aufzusuchen, und wie hatte dieser große Gelehrte mir dabei das Verständnis für die Juristerei geöffnet. Keineswegs nur auf seinem ureigensten Arbeitsgebiete des Zivilprozesses. Er war überall zu Hause und ließ mich, wenn es nötig wurde, mit Hilfe seiner bedeutenden Bibliothek auch in abseits liegende Fragen ein­dringen. Im Zivilprozesse wurde ich durch diese persönlich-privaten Diskurse fast selbst ein Gelehrter, der die Kommilitonen weit über­traf. Das zeigte sich nicht nur in den Arbeiten für das Praktikum, das ich zweimal absolviert habe, sondern oft in der späteren Pra­xis. Als ich Referendar in Marienberg war, stand mein Chef, der Amtsgerichtsrat Mannsfeld, einmal vor einer ganz außerordentlichen Frage aus dem Beweisrecht. Von der Beantwortung hing es ab, ob um­fängliche und zeitraubende auswärtige Beweisaufnahmen anzuordnen seien oder alsbald zum Urteil zu gelangen sei. Bequem für den Richter war die erste Alternative, aber würdiger und im edelsten Sinne juristischer der Versuch, die Notwendigkeit der Beweiserhe­bung prozessual zu prüfen. Die Amtsgerichtsbibliothek ließ uns im Stiche. Ich schrieb an meinen Meister nach Leipzig. Kurz darauf traf eine von ihm abgeschickte Bücherkiste mit einem kurzen Hinweis auf den Weg zur Benutzung ein. Mannsfeld überließ mir die Ausarbei­tung. Ich kam zum Urteil. Es ging in die Berufung ans Landgericht Freiberg, die aber im ersten Termine verworfen wurde. Einige Zeit danach revidierte der Justizminister Schurig, übrigens ein Univer­sitätsfreund meines Vaters, das Amtsgericht Marienberg. Ich wurde ihm vorgestellt. Er äußerte, das Landgericht Freiberg habe jenes Urteil dem Justizministerium als Aufgabe zu Prüfungszwecken über­sandt; er habe soeben von Mannsfeld erfahren, daß ich der Verfasser sei, und wolle nun wissen, wie ich zu dieser Gelehrsamkeit komme. Ich gab ihm Aufschluß über meinen Lehrer und die Bücherkiste. Er sprach mir in ganz unbürokratisch herzlichen Worten sein Lob für mein Wissen und meine Arbeit aus. Der brave Mannsfeld strahlte und sorgte für Verbreitung des Vorkommnisses am Stammtische der Marien­berger Honoratioren.

(Abschließende Bleistiftnotizen:) Wundt – Mensur akademisch philosophischer Verein, freie wissenschaftliche Vereinigung, große Reise Alexandersbad

[1] M.D. wurde um 7.00 Uhr in der Nürnberger Straße 12 (damals: Bosenstraße) in der I. Etage geboren. Das Gebäude existiert heute nicht mehr.
[2] Die Annahme des Familiennamens „Drücker“ kann in der „namentliche(n) Liste der in der Gemeinde des Cantons Cassel geborenen und daselbst geseztlich domicilirten Israeliten männlichen Geschlechts, 1812 nachgewiesen wedren. Hiernach wählte der Mäkler Michel Levy aus Holland gemäß Dekret vom 29.03.1808 für sich und seine Familie den Namen „Drücker“.
[3] Tatsächlich ist der Name Drucker nur für jüdische Familien, bzw. solche mit jüdischen Vorfahren nachweisbar.
[4] Der Vater hieß Moses Abraham Fraenkel, war 1771 geboren und musss vor 1832 verstorben sein.
[5] Constanze Dölitzsch, geb. 18.07.1807 in Altenburg, gest. 31.05.1887 ebd.
[6] Emil Drucker wurde geboren am 23.02.1866 und starb am 11.04.1869.
[7] Martin Drucker sen. ließ sich am 07.02.1865 in der Kreuzkirche zu Dresden taufen.
[8] Der Großvater Karl Klein war am 28.02.1800 in Leipzig geboren.
[9] Karl Klein gehörte dem Leipziger Stadtverordnetenkollegium von 1849 bis 1861 an. In den Jahren 1852 bis 1858 war er deren Vizevorsteher.
[10] Arthur Ottomar Olympius Dölitzsch, Advocat, geb. 15.04.1819 in Altenburg, gest. 14.02.1900 Altenburg, Mitbegründer des Deutschen Anwaltvereins, verheiratet mit Selma Clara Zeutzschel
[11] Karl Klein starb 62jährig am 07.12.1862 in Leipzig.
[12] Adelheid Klein, geb. 31.08.1840 in Leipzig, gest. 01.09.1924 in Altenburg, verheiratet seit 1862 mit dem Arzt Gustav Rothe in Altenburg.
[13] Elise Klein, geb. 15.08.1846 in Leipzig, gest. 01.01.1913 in Minden, verheiratet seit 1870 mit Hermann Rocholl in Minden.
[14] Wie die Geschichte lehrt
[15] Siegmund Drucker, geb. 17.07.1801 in Cassel, gest. 24.08.1874 in Leipzig, in erster Ehe verheiratet mit Emilie Fränkel (1810-1842), in zweiter Ehe seit 1850 mit Emma Pollack (1825-1888), er lebte zuletzt Mühlgasse Nr. 3
[16] Dr. August Klein, geb. 13.01.1838 in Leipzig, gest. 29.09.1912 in Hamburg, verheiratet seit 1865 mit Mathilde Bredt, Rechtsanwalt
[17] Die Firma „Leppoc & Drucker befand sich in der Katharinenstraße 14.
[18] Das Hotel de Pologne in der heutigen Hainstraße 16/18 wurde am 29. August 1846 durch einen Großbrand vollständig vernichtet.
[19] Heinrich Drucker, geb. 12.09.1837 in Braunschweig, gest. in San Francisco
[20] Emma Drucker, geb. Pollack, geb. 14.10.1825 in Frankfurt an der Oder, gest. 23.12.1888 in Leipzig. Sie heiratete am 17.01.1850 in Leipzig Siegmund Drucker. Ihr Grab befindet sich auf dem Alten Jüdischen Friedhof in der Berliner Straße.
[21] Therese Drucker, geb. 04.12.1851 in Leipzig, gest. 20.05.1927 in Leipzig, verheiratet seit 1874 mit Philipp Friedrich Theodor Frederking (1844-1914). Paul Drucker, geb. 18.01.1863 in Leipzig, umgekommen am 10.08.1942 in Theresienstadt.
[22] Die Grabtafel von Siegmund Drucker auf dem Alten jüdischen Friedhof in der Berliner Straße blieb erhalten. Sie wurde im Jahr 1997 restauriert.
[23] Marie Klein hatte insgesamt neun Geschwister, von denen allerdings drei sehr früh im Kindesalter starben.
[24] Die Ratsfreischule am Fleischerplatz wurde am 16.04.1792 zur Verbesserung der damals kläglichen Schulverhältnisse gegründet. Die Gründung war wesentlich dem damaligen Bürgermeister Carl Wilhelm Müller (1728-1801) zu verdanken. Die Ratsfreischule nahm Schüler ohne Schulgeld auf. Ihr erster Direktor war Karl Gottlieb Plato (1757-1833).
[25] das Anwaltsbüro von Karl August Klein befand sich im Haus Katharinenstraße 13, III. Etage
[26] M.D. sen. war im Juni/Juli 1856 Auskultator bei seinem späteren Schwiegervater, Advocat Carl Klein. Das war damals der erste Teil des praktischen Vorbereitungsdienstes, dem sich dann das Referendariat anschloss.
[27] Der erste Sohn wurde am 23. März geboren.
[28] mit gebrochenen Flügeln
[29] Der Mitschüler war der Pianist, Komponist und Musikprofessor Carl Heinrich Döring, geb. am 04.07.1834 in Dresden, gest. am 26.03.1916 in Dresden. Für die Identifizierung des Mitschülers habe ich Herrn Claudius Böhm vom Gewandhausarchiv herzlich zu danken.
[30] Die bis heute bestehende Studentenverbindung wurde 1802 durch Mitglieder der Rhenania Gießen gegründet.
[31] Der Inhaber des Verlages war zu dieser Zeit Dr. phil. Adolph Ambrosius Barth (1827-1869), der Enkel des Gründers. Er hatte die Schule in Schulpforta besucht und studierte in Leipzig und Berlin Naturwissenschaften. Durch den plötzlichen Tod seines Vaters war er gezwungen, den Verlag zu übernehmen. Er begründete den naturwissenschaftlichen Ruf des Verlages. Er war aber auch der Begründer  der „Allgemeinen deutschen Strafrechtszeitung“.
[32] Der von Martin Drucker sen. inszenierte humoristische Auftritt des Gesangvereins „Achtbarkeit zur Schnarrtanne“, einer Hottentottendeputation, die ihre „Nationalhymne“ sang und eines Vereins für Zukunftsmusik fand anläßlich des 40. Stiftungsfestes im Juli 1862 statt. Zur Weihnachtsfeier der Pauliner 1866 wurden neue Schnarrtannenlieder von Martin Drucker sen. aufgeführt. Bei der Weihnachtsfeier am 13.12.1872 wurden zwei neue Schnarretannenlieder, die damals im Druck erschienen waren, aufgeführt. (Vergleiche hierzu: Hundert Jahre Paulus 1822-1922, Leipzig 1922, S. 149, 174, S. 208)
[33] lachend die Wahrheit sagen
[34] Zur 450-Jahrfeier der Leipziger Universität schrieb Martin Drucker sen. einen Festgesang, welcher von Julius Rietz vertont wurde. Mit diesem Festgesang eröffneten die Pauliner den Festaktus am 2. Dezember 1859, Zum 40. Stiftungsfest der Pauliner vom 28.-30. Juli 1862 verfaßte er einen Leitfaden in Gedichtform, der das Programm des ganzen Festes enthielt. Sein Stück „Die Trichinierinnen“ wurde am 28. Juli 1862 im Hotel de Pologne aufgeführt. Dieses Stück wurde zehn Jahre später erneut zur Weihnachtsfeier aufgeführt. Auch zum 25jährigen Paulinerjubiläum Hermann Langers zu Pfingsten 1865 wurden von Martin Drucker sen. verfaßte Aufführungen gezeigt.
[35] Die Erstauführung fand am 28. Juli 1862 abends im Hotel de Pologne anläßlich des 40. Stiftungsfestes statt.
[36] Der illustrierte Festbaedecker des Paulus von Martin Drucker sen. erschien anläßlich des 50. Stiftungsfestes im August 1872.
[37] Im Manuskript fehlen die Daten des Doktordiploms.
[38] Das Recht Notare zu ernennen, wurde der Universität 1859 entzogen.
[39] Die Allgemeine Deutsche Credit-Anstalt (ADCA) wurde 1856 von Gustav Harkort (1795-1865) in Leipzig gegründet. Ihr Sitz befand sich seit 1872 am Brühl 75/77. Das Bankgebäude wurde im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstört. Die ADCA wurde 1945 in die Sächsische Landesbank überführt und firmiert heute als Rabobank Deutschland AG in Frankfurt am Main.
[40] Die Konditorei Felsche befand sich am Augustusplatz unmittelbar neben der Paulinerkirche. Das Gebäude wurde bei den Bombenangriffen im Februar 1945 zerstört. Das einstmals beliebte Café Felsche soll im Zusammenhang mit der Neugestaltung der Universität bis 2099 ebenfalls wiedererstehen.
[41] Die Kurprinzstraße wurde 1950 in Grünewaldstraße umbenannt
[42] Die Kramerstraße wurde 1949 in Ernst-Schneller-Straße umbenannt.
[43] Martin Drucker kam am 14.10.1873 nach Düsseldorf. Die Wohnung befand sich in der Kaiserstraße 47. Am 04.11.1874 hat sich die Familie wieder von Düsseldorf abgemeldet. (Information von Herrn Spahr, Stadtarchiv Düsseldorf)
[44] Das erste Markenschutzgesetz datiert vom 31.11.1874
[45] Korrekte Schreibweise: Tolhausen. T. war nicht von Adel.
[46] Die Regierung der Französischen Republik verlieh Martin Drucker sen. im September 1905 das Ritterkreuz der Ehrenlegion für die Besorgung der Rechtsgeschäfte des französischen Generalkonsulats in Leipzig.
[47] Makame ist eine Gattung der arabischen Prosa. Die Makamen des Hariri sind die bedeutensten Werke des klassischen Arabisch. Sie wurden von Friedrich Rückert (1788-1866) zwischen 1826 und 1837 frei nachgedichtet.
[48] Die Jobsiade ist eine Satire in Knittelversen des Bochumer Arztes Carl Arnold Kortum (1745-1824), die in den Jahren 1783/84 entstand. Das Werk hat später viele andere Künstler inspiriert, so auch Wilhelm Busch (1832-1908).
[49] Der Roman von Alphonse Daudet (1840-1897) erschien erstmals 1885.
[50] Adelheid Rothe geborene Klein (1840-1924) war die ein Jahr ältere Schwester von M.D.’s Mutter.
[51] Der Schlussvers von Friedrich Schillers Gedicht „Der Gang zum Eisenhammer“ (1797) lautet: Und gütig, wie er nie gepflegt,/Nimmt er des Dieners Hand,/
Bringt ihn der Gattin, tiefbewegt,/Die nichts davon verstand:/“Dies Kind, kein Engel ist so rein,/Laßt’s Eurer Huld empfohlen sein!/Wie schlimm wir auch berathen waren,/Mit dem ist Gott und seine Schaaren.“
[52] Der noch heute mit Hauptsitz in Wiesbaden existierende Musikverlag wurde 1719 von Bernhard Christoph Breitkopf (1695-1777) in Leipzig gegründet.
[53] Leopold Graf zu Stolberg-Stolberg/Franz Schubert
[54]  Franz Schubert
[55] Korrekt Schreibweise: Hasenclever
[56] Weber-Rumpe, Hugo: Mnemonische Unterrichts-Briefe für das Selbststudium der Gedächtnißkunst, Breslau Selbstverlag ca. 1890
[57] Therese Drucker, verheiratete Frederking (1851-1927) war die Tochter von M.D.’s Großvater aus dessen zweiter Ehe mit Emma Pollack.
[58] Betty Fraenckel war verheiratet mit dem Kaufmann Bernhard Haller und lebte in Magdeburg.
[59] Zitat aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts entstandenen Studentenlied „O alte Burschenherrlichkeit!“
[60] richtig: Reimer, Carl Traugott
[61] Grundirrtum, falsche Grundvoraussetzung als Quelle anderer Irrtümer.
[62] Der Vorname des Rektors der Thomasschule war Friedrich, nicht August.
[63] Vorgängerbau des 1882 an dieser Stelle (Wintergartenstraße 17/19) errichteten Krystallpalastes.
[64] Ich hasse das gemeine Volk.
[65] Jospeh Victor von Scheffel (1826-1886), „Als die Römer frech geworden“ (1847). In der Vertonung von Ludwig Teichgräber (1840-1904) aus dem Jahr 1875 avancierte das Gedicht zum beliebten Volkslied.
[66] korrekt: Errare humanum est. Irren ist menschlich!
[67] Wehret den Anfängen!
[68] ehrenvolle Haft
[69] Der Völkerrechtler Ludwig Beer (1866-1935) stammte aus Essen und war kein Thomasschüler. M.D. ist eine Verwechlung unterlaufen. Siehe hierzu das Biogramm zu dem Thomasschüler Ludwig Beer.
[70] Gelehrteste Primaner, meine Kinder!
[71] Relegation von der Schule
[72] Gemeint ist Otto Barth, geboren am 30.10.1869 in Liebertwolkwitz, der Postmeister in Schirgiswalde wurde.
[73] Hermann Triepel starb tatsächlich erst 1935.
[74] Uriel Acosta (1585-1640) war ein jüdischer Philosoph und Theologiekritiker. Gutzkows Drama entstand 1846.
[75] Heinrich Bulthaupt: Dramaturgie der Klassiker, Oldenburg 1882
[76] Gotthold Ephraim Lessing: Die Hamburgische Dramaturgie, 1767. Beinhaltet Theaterkritiken, die L. als Dramaturg des Deutschen Nationaltheaters in Hamburgschrieb.
[77] Stammgast
[78] Marino Falieri (1278-1355), Doge von Venedig. F. hat verschiedene Dichter (u.a.: Karl von Gutzkow, Martin Greif und Franz von Werner) zu Dramen inspiriert, allerdings konnte eines solches von Arthur Fitger nicht nachgewiesen werden.
[79] Vergebliche Bemühung
[80] Die Arionen wurden 1849 durch den Thomaner Richard Müller gegründet, um den Männergesang zu fördern. Der Name bezieht sich auf Arion, den griechischen Dichter und Musiker. Später erfolgte eine engere Bindung an die Universität und der Chor wurde eine studentische Verbindung. Die Verbindung zu den Thomanern blieb aber erhalten.
[81] Die Mutter von Achilles verbarg ihren Sohn in Mädchenkleidern, um ihn (vergebens) vor dem geweissagten Tod im Kampf um Troja zu bewahren.
[82] Heinrich Heine (1797-1856)), Anno 1839
[83] mit ureigensten Worten
[84] Das Trauerspiel „Herzog Ernst von Schwaben“ schrieb Friedrich Ludwig Uhland (1787-1862) im Jahr 1817.
[85] Der Vorname von Possarts lautete Ernst, nicht Emil.
[86] Wörtliches Zitat aus Gottfried August Bürgers (1747-1794) Ballade „Leonore“ (1773)
[87] Parodie auf Bürgers Ballade „Lenore“, welche beginnt: Lenore fuhr ums Morgenrot/Empor aus schweren Träumen:
[88] Gedicht von Emmanuel Geibel (1815-1884)
[89] Wer besitzt, der lerne verlieren,/Wer im Glück ist, lerne den Schmerz. Zitat aus „Die Braut von Messina“ (1803) von Friedrich Schiller (1759-1805)
[90] Der Weinhändler Theodor Rocholl gründete 1826 in Minden eine „Tabak- und Zigarrenhandlung“.
[91] Franz Ebhardt: Der gute Ton in allen Lebenslagen. Ein Handbuch für den Verkehr in der Familie, in der Gesellschaft und im öffentlichen Leben. Das Standardbuch der Etikette des Verlagsbuchhändlers E. erschien seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in zahllosen Auflagen.
[92] als Attribut ein Widerspruch
[93] Witte ist nicht Rektor der Thomasschule gewesen. Näheres in seinem Biogramm.
[94] Zitat aus: Johann Wolfgang Goethe „Zueignung“ (1787)
[95] Wo es gut ist, da ist Heimat.
[96] Zitat aus Ernst Benj. Sal. Raupachs (1784-1852) „König Enzio“ (1831)
[97] Friedrich Schiller, Das Lied von der Glocke
[98] Der Kotillon war ein zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Frankreich entstandener Gesellschaftstanz, ursprünglich für 4 Paare. Seit dem 19. Jahrhundert wurde der Kotillon mit scherzhaften Einlagen und Modetänzen (u. a. Polka, Walzer, Galopp) angereichert und bildete den Höhepunkt der Bälle.
[99] 1812 gegründete Studentenverbindung, welcher u.a. auch Richard Wagner angehörte. Seit 2001 ist das Corps Saxonia wieder in Leipzig aktiv.
[100] In der einzig greifbar gewesenen 2. Auflage der „Schonungslosen Lebeneschronik“ aus dem Jahr 1921 finden sich die Bezüge auf Martin Drucker (S. 102), allerdings nur mit der Umschreibung „Mein Wildbacher Freund M.D. …“
[101] Das Corps Makaria wurde 1843 gegründet und besteht bis heute fort.
[102] Das Corps Transrhenania ist aus der 1866 gegründeten Fröhlich Pfalz, einer Gesellschaft pfälzischer Studenten und Offiziere in München, hervor­gegangen. Diese nahm 1876 den Namen Studentenverbindung Transrhenania an.

III. Ginster

Ende November 1917 wurde eine der drei Kompanien eines Königlich-Sächsischen Landsturmbataillons, das in Danzig-Neufahrwasser am Rande des Krieges fast nur noch durch Wachdienst seine Daseinsberechtigung zu beweisen gehabt hatte, plötzlich nach Belgien versetzt, um die Bewachung des Zivilgefangenenlagers Diest zu übernehmen. Die Eisenbahnfahrt dorthin dauerte neun Tage; sie wurde bei verhängten Fenstern ausgeführt; wenn die Zuginsassen nicht nächtlicherweile an Verpflegstätten unerlaubterweise erfahren hätten, wo sie sich befanden, würden sie nicht entdeckt haben, dass die Lokomotive statt des direkten Weges einer Kreuz- und Querfahrt durch das deutsche Vaterland den Vorzug gab. Das tat der Truppe leid, denn sie fror erbärmlich. Aber man sah ein, dass die umständliche Beförderungsweise eine Vorsichtsmaßregel gegenüber der feindlichen Spionage darstellte. Die Entschlüsse der gegnerischen Strategen und damit die Kriegsgeschehnisse hätten wohl wesentlich beeinflußt werden können, wenn bekannt geworden wäre, daß etwa hundert betagte Landstürmer von Danzig-Neufahrwasser weggezogen und hinter der Westfront kaserniert wurden.
Als die Kompanie, froh, den steifen Gliedern endlich wieder etwas lebhafte Bewegung erlauben zu können, vom Bahnhofe Diest nach dem Städtchen marschierte, ritt ihr ein höherer deutscher Offizier, von einem Adjutanten begleitet, entgegen. Der Kompanieführer, ein Rittmeister der Reserve, im bürgerlichen Leben Assessor irgendwo im Harz, meldete vorschriftsmäßig: „Königlich-Sächsische Bewachungskompanie des Zivilgefangenenlagers Diest auf dem Marsche nach dem Bestimmungsorte.“ Die Antwort des Offiziers, dessen Schulterstücke ihn als Oberstleutnant charakterisierten, war ein freundliches Lachen! Befremdet wiederholte der Rittmeister seine Meldung in gemessener, vielleicht ein wenig übermilitärischer Accentuierung. Darauf der Oberstleutnant in fast liebenswürdigem Tone: „Ich danke, Herr Rittmeister. Sie wunderten sich wohl, weil ich lachte. Ich bin seit vorgestern aus Mecklenburg hierher versetzt als Kommandant des Zivilgefangenenlagers Diest. Aber Zivilgefangene sind noch nicht gemacht, und das Lager ist noch gar nicht eingerichtet!“
Nach dieser nüchternen Eröffnung setzte der Oberstleutnant sich an die Spitze der ihm unterstellten Kompanie und führte sie an das Tor einer kleinen augenscheinlich verlassenen Festungsanlage. In ihr sollte das Zivilgefangenenlager entstehen. Vorläufig gähnten den Einmarschierenden leere Räume entgegen, sodaß sofort ein Kommando, wohl nach Brüssel, abgeschickt werden mußte, um wenigstens die allernotwendigsten Bedarfsgegenstände zu beschaffen. Mißmutig ergriffen die alten Landsturmmänner Besitz von dem unwirtlichen Quartier, in das sie verschlagen worden waren, um einer mindestens vorläufig nicht erfüllbaren Aufgabe, der Bewachung nicht vorhandener Gefangener obzuliegen. Aber beschäftigt werden mußte die Truppe. Darüber wäre sich jedermann klar gewesen, auch wenn der Oberstleutnant nicht den Befehl erteilt hätte, ihm täglich die schriftliche Beschäftigungsanzeige für den nächsten Tag vorzulegen. So setzte denn der Rittmeister Reviereinrichtung und Exerzierdienst an. Der fand aber nur ein einziges Mal statt. Denn dann wurde der Rittmeister darüber belehrt, dass im Generalgouvernement Belgien Exerzierdienst nicht stattfinden dürfe! Als Ersatz für den verbotenen Dienst erfand man „Hofreinigen.“ Das hätte eigentlich Schneeschippen heißen können, der Ausdruck gehörte aber wohl nicht dem militärischen Schriftdeutsch an. Der unschätzbare Wert dieses Hofreinigens für den Verfasser des täglichen Beschäftigungsplans bestand darin, daß es keinen abschließenden Erfolg herbeiführte. Der dünne Schneefall hielt mehrere Tage an. Wenn also die Schaufeln und Besen ihren Rundgang über den Hof beendet hatten, so hatte inzwischen eine neu entstanden Schneedecke dafür gesorgt, daß auch für den nächsten Tag bedenkenlos wieder „Hofreinigen“ befohlen werden konnte. Dieser wohltuenden Einförmigkeit erwies sich indessen recht bald als Störenfried eine strahlende Dezember sonne. Das letzte Körnchen Schnee zerschmolz; noch einmal gekehrt, prangte der Hof in so fleckenloser Sauberkeit, daß, ihm eine abermalige Reinigung durch ein paar Dutzend Soldaten anzusinnen, geradezu als eine Blasphemie gewirkt hätte. Jetzt erreichte die Verlegenheit um den Aufbau der Beschäftigungsanzeige ihren Höhepunkt. Ein justitium hätte der brave Rittmeister-Assessor wohl ertragen, vielleicht sogar bisweilen sich dienen lassen. Aber eine Kompanie Soldaten nicht Dienst tun lassen zu können, weil sich eine noch so überflüssige Beschäftigung nicht ersinnen ließ, hätte den ganzen Militarismus bloßgestellt, und dazu durfte es auch ein Reserveoffizier nicht kommen lassen.
Um einen Trübsinnsausbruch bei seinem bedauernswerten Kompanieführer zu vermeiden, suchte sein Vizefeldwebel durch Befragung eines alten Sergeanten, der in zwölfjähriger Dienstzeit sich grenzenlose Praxis in der Erfindung von Beschäftigungen für seine Soldaten angeeignet hatte, der Verlegenheit abzuhelfen. Der alte Korporal wusste Rat. „Auf den Wällen der Festung steht Strauchwerk, das heißt bei uns wohl Ginster. Das brauchen wir nicht; die Gefangenen können auch nichts damit anfangen, wenn sie hier sein werden. Man kann es doch abschneiden. Damit bringt die Kompanie ein paar Tage hin.“
Das leuchtete dem Spieß ein, aber nicht minder dem Rittmeister. So besagte denn nun der neue Dienstplan, daß vom nächsten Tage ab bis auf weiteres von 8-11 Uhr „Ginsterschneiden“ stattfinde.
Die Mannschaft wurde nach streng militärischer Gepflogenheit eingeteilt; etwa so: „Sergeant A mit dem ersten Zug: Herbeischaffung, erforderlichenfalls Anfertigung von benötigten Gerätschaften. Unteroffizier B: Schneiden des Strauchwerks. Der dritte Zug versieht den Wachdienst. Wachhabender: Unteroffizier C. Aufsicht: Vizefeldwebel D.“
Die Dezember sonne des folgenden Vormittags bestrahlte eine frohe Arbeitsgemeinschaft. Ein Teil der Kompanie lief im Städtchen von Laden zu Laden mit dem schwierigen Auftrage, Baumscheren oder Gärtnermesser einzukaufen; inzwischen gingen die Leute des zweiten Zuges mit Taschenmessern oder ähnlichen Schneidewerkzeugen gegen die Ginsterbüsche vor, und die zum Wachdienst bestimmten Mannschaften erfreuten sich wundersamer Ruhe, weil überhaupt nichts zu bewachen und auch nicht das störende Heran- oder Vorbeikommen eines höheren Vorgesetzten zu besorgen war. Die  Kompanie erlebte die glücklichsten Tage ihres Einsatzes im Weltkriege. Aber noch hatte sie statt waffenstarrender gefährlicher Feinde nicht alle die wehrlosen Sträucher niedergestreckt, als dieser Kampfhandlung Einhalt geboten wurde. Bei dem Oberstleutnant war von einer hohen Dienststelle, die sich wohl Generalinspektion der Festung im Generalgouvernement Belgien nannte, ein bitterböses Schreiben eingetroffen. Darin wurde die Wahrnehmung mitgeteilt, daß die auf den Wällen der Festung Diest zum Schutze gegen Fliegersicht gepflanzten Ginstersträucher von unbefugter Hand verschnitten, teilweise sogar gänzlich entfernt worden seien, und um Erörterung des Sachverhalts sowie Ermittlung der Täter ersucht!
Der Oberstleutnant tat das Klügste, was er tun konnte: er gab das Schreiben an die Kompanie weiter zur Beachtung und zum Bericht. Auf so bequeme Weise konnte allerdings der Kompaniechef sich die fatale Angelegenheit nicht vom Halse schaffen; er war die letzte Dienststelle. Ihm und dem Feldwebel wollte es scheinen, als ob das Unheil nicht überschätzt werden dürfe. Die ihres Schmuckes, wie man ahnungslos gemeint hatte, oder ihres Schutzes, wie die Festungsinspektion lehrte, beraubten Wälle umschlossen nicht mehr eine Festung oder irgendwelche andere militärisch wichtige Anlage, sondern eine vorläufig nur in der Idee vorhandene Zivilgefangenenanstalt. Das Ginsterschneiden hatte also die Wehrkraft des Heeres nicht beeinträchtigt. Überdies aber ließ sich im Notfalle der angebliche Schaden durch Neubepflanzung wiedergutmachen. Da das Ersuchen der Festungsinspektion nicht befristet war, bedeutete Zeitgewinn vielleicht fast soviel wie Erledigung. Aus solchen Betrachtungen erwuchs die Taktik, mit der der verlangten Erörterung näher getreten wurde. Ein Befehl des Rittmeisters ordnete umfassende Untersuchung an und ernannte den Feldwebel zum Untersuchungsführer, da er als Vizefeldwebel Offiziersdienst tat und wegen seines bürgerlichen Rufs – er war Rechtsanwalt[2] – zur Bearbeitung der Sache sich eignete. Als Protokollführer wählte und bestellte er einen Gefreiten, der nicht allzu hurtig schrieb. Dann begann er mit Vernehmungen, auf die er aber nicht sehr viel, sondern nur die Zeit verwenden konnte, die seinen sonstigen Dienstobliegenheiten entzogen werden durfte. Bei den Vernehmungen ging er sehr gründlich vor. Zunächst verhörte er alle Revierkranken, dann die Wachmannschaften. Sie versicherten alle, daß sie sich weder selbst an den Ginsterbüschen vergriffen noch andere dazu angestiftet oder bei solcher Tätigkeit unterstützt oder auch nur dabei beobachtet hätten. Die Protokolle dieser Nichtswisser, in umständlicher Befragung erwachsen und von dem bedächtigen Gerichtsschreiberadepten langsam zu Papier gebracht, füllten viele Bogen an und gleichzeitig manche Tage aus. Ehe aber die Untersuchung weiter auf das Küchenkommando und die Ökonomiehandwerker erstreckt werden konnte, fand die militärische Laufbahn des Feldwebels ihren Abschluss dadurch, dass er auf Reklamation einer höchsten Behörde[3] für ein Jahr in die Heimat beurlaubt wurde. Er legte seinen beleibten Aktenband in die Hände des Kompaniechefs. Dort ist er liegengeblieben, niemand hat wieder danach gefragt.
Das erfuhr der zeitweilige Untersuchungsführer, als nach Jahr und Tag der Frieden geschlossen war, von heimkehrenden Kameraden. Sie wußten auch Größeres zu berichten: Zivilgefangene waren nicht gemacht, das Zivilgefangenenlager Diest auch nie seiner Bestimmung gemäß errichtet worden!

[1] Diest ist heute eine Stadt in der belgischen Provinz Flämisch-Brabant mit ca. 20.000 Einwohnern.
[2] Dieser Rechtsanwalt war Martin Drucker.
[3] Das Reichsjustizministerium forderte M.D. an. Er sollte den damaligen Vorsitzenden des DAV Julius Haber (1844-1920) unter den erschwerten Bedingungen des Krieges zur Seite stehen.
Quelle: SächsStA-L, 22381 Nachlass Martin Drucker, Nr. 04

IV.  J.S.L.

Einige Jahre vor dem Weltkriege verschwand vom „Brühl“, wie der Rauchwarenhandel und das Rauchwarenviertel Leipzigs nach der längsten es durchziehenden Straße genannt wird, der Händler Josef Singer. Da man über den Umfang seiner Geschäfte hinreichend unterrichtet zu sein glaubte, wurde mit dem Vorhandensein bedeutender Warenbestände gerechnet. Die Nachschau legte indessen die für die zahlreichen Gläubiger höchst verdrießliche Tatsache bloß, daß das Lager nahezu gänzlich ausgeräumt war. Auch in London, wo Singer ein Zweiggeschäft betrieben hatte, fehlte die Ware. Vermisst wurden u. a. große Mengen von Fuchsfellen, die Singer aus Alaska importiert hatte. Es entstand aber und hielt sich das Gerücht, daß er von London aus beträchtliche Rauchwarenpackungen an bösgläubige Empfänger versendet habe. Nicht nur der Konkursverwalter und die Staatsanwaltschaft, die ein Verfahren wegen betrügerischen Bankrotts gegen den Flüchtigen einleitete, sondern fast der ganze Brühl, voran die geprellten Gläubiger, bemühten sich um die Ermittlung der verborgenen Vermögensmasse, aber vergeblich.
Als es um die Affäre Singer beinahe schon still geworden war, kam irgendwie und irgendwo im Brühl ein Raunen und Flüstern auf über Singersche Ware, die nach Leipzig gelangt sein sollte. Wer diesen Gerüchten nachzugehen, sich bemüßigte, sah sie wohl in Kaffeehausgerede oder Markthelferklatsch sich verflüchtigen. Und doch hinterließ das brodelnde Geschwätz am Ende einen festen Rückstand, der einer amtlichen Bearbeitung unterzogen werden musste:
Die Firma Lifschitz & Gelberg hat vor einigen Monaten eine Lieferung Alaska-Füchse von Josef Singer aus London bekommen!
Diese Behauptung wurde das Rohmaterial, das, kriminalpolizeilich behauen und staatsanwaltschaftlich poliert, eine recht lesbare Anklageschrift gegen die Kaufleute Lifschitz und Gelberg wegen Beihilfe zum betrüglichen Bankrott ergab.
Die Firma Lifschitz & Gelberg gehörte weder zu den alten noch zu den großen Brühlunternehmen, aber ihre Inhaber waren in dem damals üppig blühenden Rauchwarenhandel zu lebhaftem Geschäftsgang und damit zu Wohlstand gelangt. Sie hatten sich nicht auf eine bestimmte Fellart spezialisiert, sondern handelten mit allerlei, darunter auch umfänglich mit Füchsen. Mit Josef Singer hatten sie in Verbindung gestanden. Alles das unterschied die Firma in keiner Weise von vielen anderen Teilnehmern an dem gewaltigen Brühlverkehr. Mit größter Entschiedenheit bestritten sie, mit Singer in Beziehungen geblieben zu sein oder gar Ware von ihm erhalten zu haben. Auf ihre Geschäftsbücher konnten sie zu ihrer Entlastung sich freilich nicht berufen, denn es lag zu Tage, daß sie über fraudulöse[1] Ein- oder Ausgänge keine Eintragungen gemacht haben würden. Die Befragung der nicht zahlreichen Angestellten zeitigte nichts Bedenkliches. Als Mitwisser wären sie auch teilnahmeverdächtig gewesen.
Aber eine eindeutige, unwiderlegbare erscheinende Belastung erwuchs aus den Aussagen zweier durchaus beachtlicher Zeugen. In dem Gebäudeviereck, in dem das Lager der Firma Lifschitz & Gelberg sich befand, betrieb auch ein Rauchwarenhändler M., griechischer Nationalität, seine Geschäfte. Er genoß überall den Ruf eines gewissenhaften, zuverlässigen und anständigen Mannes. Nach seinen klaren und bestimmten Angaben hatte er mehrere Monate vor seiner Vernehmung, als er im Hofe des Grundstücks mit einem Landsmann sprach, ein für Lifschitz & Gelberg bestimmtes, mit Rauchwarenballen belastetes Fuhrwerk stehen sehen. Aus einem beschädigten Ballen habe ein Fuchsfell herausgehangen. Ohne irgendwelche Absicht habe er hingeschaut und auf dem Ballen die Worte: „Josef Singer, London“ gelesen. Seinen Landsmann habe er darauf hingewiesen. Keiner von ihnen habe Anzeige erstattet. Sie wollten mit der Angelegenheit Singer, die sie nicht berührte, nichts zu tun haben, er selbst stehe auch mit dem Hausgenossen Lifschitz & Gelberg auf bestem Fuße. Leider habe aber nach geraumer Zeit sein Landsmann unbedachterweise doch einmal den Vorfall gegenüber anderen Brühlleuten gelegentlich erwähnt, so daß nun er selbst als Zeuge herbeigeholt worden sei.
Der andere Grieche, gleichfalls eine einwandfreie Persönlichkeit, bestätigte in vollem Umfange diese Aussage.
Darauf mußte die Staatsanwaltschaft die Verhaftung der beiden Beschuldigten und nach Anklageerhebung die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Schwurgericht herbeiführen.
Angeregt durch Justizrat Broda als den Verteidiger des Lifschitz erklärte ich auf Wunsch der Familie des mir unbekannten Gelberg mich zur Übernahme seiner Verteidigung unter der in meiner Berufstätigkeit stets grundsätzlich festgehaltenen Voraussetzung bereit, daß ich seinen Unschuldsbeteuerungen zu vertrauen vermöge. Im Untersuchungsgefängnisse fand ich einen völlig gebrochenen Menschen. Über die Tragweite der belastenden Aussagen, die ich mit ihm durchging, war er sich klar. Er versuchte nicht, an ihnen zu deuteln, sie abzuschwächen oder gar als erlogen hinzustellen. Gerade deshalb machte auf mich tiefen Eindruck die Schlichtheit seiner wiederholten Versicherung, daß er unschuldig sei, daß er von der angeblichen Fuchssendung Singers nichts wisse.
Der Staatsanwalt selbst räumte mir in einer kollegialen Unterredung ein, daß es ihm nicht leicht falle, Gelberg nicht zu glauben, daß aber doch über die belastenden Aussagen der beiden Griechen nicht hinweggegangen werden könne.
Einen anderen Standpunkt vertrat Justizrat Broda. Auf seine bedeutsamen Erfolge als Geschworenenredner vertrauend, erklärte er, es müsse und werde gelingen, die Griechen als unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Diese Zuversicht wagte ich nicht zu teilen. Ich grübelte vielmehr über Möglichkeiten einer objektiven Entlastung. Nach ihr tastend, suchte ich kurz vor dem Verhandlungstermin die Geschäftsräume der Firma Lifschitz & Gelberg auf, unterhielt mich mit den Angestellten, ließ mir Bücher vorlegen, Ware zeigen. Ich wollte in die Atmosphäre eintauchen, in der mein Klient die Straftat begangen haben sollte. Ich suchte nicht, aber ich fand.
Im Schwurgerichtssaale, dessen Zuhörerraum großenteils von Brühlleuten und von Bekannten der Angeklagten besetzt und dessen Juristentribüne ebenfalls ungewöhnlich gut besucht war, weil die Eigenartigkeit der Beweislage sich herumgesprochen hatte, machte sich zwar von Anfang an eine starke Spannung fühlbar. Ihr entsprach aber nicht der ruhige Verlauf der von einem unbefangenen und sachlich amtierenden Vorsitzenden geleiteten Verhandlung. Die Angeklagten erklärten sich für nichtschuldig. Dem Vorhalte der Zeugenaussagen trat Lifschitz, vermutlich auf Brodas Rat, erregt und mit Schärfe entgegen; Gelberg blieb mit leiser Stimme dabei, er wisse nicht, was die Griechen wahrgenommen hätten, aber seine Firma habe keine Ware von Singer bekommen.
Als der erste der Belastungszeugen hereingerufen wurde, beantragte ich, ihn nicht vor, sondern ausnahmsweise nach seiner Vernehmung zu beeidigen, weil ich ihm einige Fragen vorzulegen haben würde, bei deren Beantwortung er sich nicht durch vorherige Aussage gebunden fühlen solle. Der Vorsitzende willfahrte mir.
Der Zeuge wiederholte ruhig und klar, was er über seine Beobachtungen bei den früheren Befragungen zu Protokoll gegeben hatte. Er war offensichtlich in keiner Weise an dem Fall Singer oder gar an einer Überführung der Angeklagten interessiert, vielmehr schien ihm sein Hineingeraten in die Zeugenstellung peinlich zu sein. Daß ihm mehr als vier der zwölf Geschworenen – zu Bejahung der Schuldfrage waren acht Stimmen erforderlich – nicht glauben würden, mußte als ausgeschlossen gelten. Vergebens bemühte sich Broda, ihn durch verbindliche, dann durch schroffe Vorbehalte zu erschüttern. Danach machte ich vom Fragerechte des Verteidigers Gebrauch.

„Herr Zeuge, Sie haben aus dem beschädigten Ballen ein Fuchsfell oder mehrere herausdringen gesehen. Wie war die Farbe?“ „Ein lebhaftes Rot, Fuchsrot, wie man ja sagt.“
„Aus welcher Art Stoff bestand die Verpackung des Ballens?“
„Aus derber weißer Leinwand.“
„Wo war die Beschriftung: ‚Josef Singer, London‘ angebracht?“
„Um den würfelförmigen Ballen liefen, wohl unter der Verschnürung, Pergamentstreifen mit diesem Firmen Ausdruck.“

Die Verhandlungsteilnehmer hatten dieses Interrogatorium[2] mit Verwunderung, die Geschworenen es vielleicht mißbilligend als einen törichten Versuch verfolgt, den trefflichen Zeugen irre zu machen. Der Vorsitzende äußerte ruhig: „Ich nehme an, daß der Herr Verteidiger uns darüber unterrichten wird, wohin diese Fragen zielen.“
Darauf erwiderte ich: „Zur Vorbereitung dafür bitte ich, mir zu gestatten, jetzt sofort an den Herrn Sachverständigen einige Fragen zu richten.“  Der Verhandlungsleiter war einverstanden.
Als Sachverständiger war der Chef einer der angesehensten Brühlfirmen, Herr Lentsch, geladen, ein Mann von umfassender Kenntnis seines Geschäftszweiges. Er hatte in diesem Falle wohl nur den Wert der Felle begutachten sollen. Aber ich hatte bemerkt, dass er bei meinen Fragen und noch mehr bei den Antworten des Zeugen stutzte. Ich fühlte, daß ich auf dem richtigen Wege war.

„Herr Sachverständiger: Singer hat, wie feststeht, Alaskafüchse  beiseite gebracht. Wie ist deren Farbe?“
„Man wird sie bräunlich nennen. Das Fuchsrot ist der Farbton des europäischen Fuchses.“
„Ist Ihnen bekannt, in welcher Verpackung Alaskafüchse versendet werden?“
„Das kann natürlich auf verschiedene Art geschehen. Die Benutzung von Leinwand halte ich schon wegen des langen Seetransports für ausgeschlossen. Innerhalb Europas kommt das wohl vor.“
“Können Sie sich über die beschrifteten Pergamentstreifen äußern, die der Zeuge wahrgenommen hat?“
„Ich bin darüber befremdet. Derartiges habe noch nie gesehen. Es muss sich um eine Eigenart des Lieferanten handeln, wenn der Zeuge sich nicht getäuscht hat.“

In die allgemeine Verblüffung, die diesem Zwiegespräch folgte, warf ich mit fester Stimme die Bemerkung: „Insoweit hat der Zeuge sich nicht getäuscht!“ und fuhr fort: „Herr M., sah der Pergamentstreifen etwas so aus, wie dieser hier?“
Bei diesen Worten mitten vor den Richtertisch tretend, hielt ich dem Zeugen einen mehrfach zusammengelegten, etwa vier Zentimeter breiten gelblich-weißen Pergamentstreifen hin.

„Ja, ja,“ rief M. aus, „das ist ein solcher Streifen!“
„Und diesen Streifen“, so fuhr ich mit erhobener Stimme fort, „habe ich vor einigen Tagen auf dem Lager der Firma Lifschitz & Gelberg an mich genommen. Was ist darauf zu lesen, Herr Zeuge?“ Triumphierend erklang die Antwort:
„Hier steht’s ja: J.S.L. – J.S.L. – J.S.L. !“

Wahrscheinlich hielten Geschworene und Zuhörer, wenn auch nicht Richter und Staatsanwalt, mich nunmehr für wahnsinnig. Lieferte ich doch eine Art Urkundsbeweis zur Bekräftigung der Zeugenaussage und damit zur Schuld des Angeklagten. Aber kaum hatte die überall im Saale ausgebrochene Unruhe sich einigermaßen gelegt, als ich den Griechen erneut anging mit dem Vorhalte:
„Sie sagten, daß Sie an der Aufschrift des Streifens Singersche Ware erkannt hätten. Wie war das möglich?“
„Nun, J.S.L., J.S.L., daß heißt doch Josef Singer London!“
Darauf ich:
„Nein! Das ist Ihr Fehlschluß, der zu der Anklage geführt hat. Hiermit übergebe ich dem Gericht ein Wareneingangsbuch der Firma Lifschitz & Gelberg. In ihm ist eingetragen, daß vor sieben Monaten, in der Zeit, in der Herr M. seine Beobachtungen gemacht hat, die Firma in der Tat mehrere Ballen Fuchsfelle bekommen hat, nur nicht Alaskafüchse, sondern Schweizer Ware, und zwar von J.S.L., nämlich: Jakob Schweitzer, Lindau!“
Erstaunen, Erregung, Ausrufe im ganzen Saale. Broda brach in Begeisterung aus. Lifschitz frohlockte. Gelberg weinte.
Verwirrt, erschrocken, sah der Zeuge drein. Ihn fragte der Vorsitzende, der seine überlegene Ruhe bewahrt und rasch die Ordnung wieder hergestellt hatte, ob er die Angabe aufrecht erhalte, die Worte Josef Singer, London gelesen zu haben.
Mühsam, stockend entrang sich tiefer seelischer Erschütterung eine Antwort, die etwa besagte: er sehe ein, daß er nur jene drei Buchstaben bemerkt habe; weil damals die Affaire Singer in aller Munde gewesen sei, müsse sich bei ihm die Ausdeutung der Buchstaben suggestiv eingestellt haben; was nur Vermutung gewesen sei, habe sich im Laufe der Zeit als Tatsache in seiner Erinnerung festgesetzt.
Um der Form zu genügen, wurden noch einige belanglose Feststellungen über die Schweitzerschen Lieferungen getroffen. Dann erklärte der Staatsanwalt, daß er auf weitere Beweisaufnahme verzichte; ihm schlossen Verteidiger und Angeklagte sich an. Die Umständlichkeiten des schwurgerichtlichen Prozesses mußten zwar respektiert werden. Aber selten werden Fragenverlesung, Plaidoyers, Rechtsbelehrung, Geschworenenberatung, Spruchverkündung, Schlussantragstellung, Beratung des Gerichts, Urteilsverkündung sich mit solcher Schnelligkeit und Selbstverständlichkeit abgewickelt haben wie in der Sache gegen Lifschitz und Gelberg.
Während die Freigesprochenen von ihren Verwandten und Freunden umringt, den Saal verließen, tauschen wir Juristen noch einige Worte erhebender Berufsfreude darüber aus, daß dieses Verfahren hart am Justizirrtum vorbei in ein unbezweifelbar richtiges Urteil gemündet habe.

[1] betrügerisch, trugvoll
[2] Fragen, die auf Antrag des Beweisführers dem Zeugen vorzulegen sind.
Anmerkung: Leo Lifschitz wurde durch JR Gustav Broda verteidigt. Es erschienen mehrere ausführliche Gerichtsberichte über dieses Verfahren im Leipziger Tageblatt vom 26.03.1906, 03.04.1906, 04.04.1906, 05.04.1906, 04.06.1906, https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/newspaper/item/3GJ5YLA6BVY2LFS2EMFQHVY6JUMK6GQA?tx_dlf[highlight_word]=%22Paul%2BGelberg%22&issuepage=3&query=%22Paul+Gelberg%22&hit=3 (11.08.2022)
Quelle: SächsStA-L, 22381 Nachlass Martin Drucker, Nr. 04

V. „Schlucken – -„

In mein Arbeitszimmer trat eine etwa dreißigjährige, bürgerlich schlicht gekleidete Frau. Aus ihrem Gesicht sprach Ängstlichkeit, Verlegenheit, Schamgefühl. Mit gutem Anstande nannte sie ihren Namen und fügte hinzu, sie sei an mich gewiesen worden, um mich zu fragen, ob ich bereit sei, die Verteidigung ihres Mannes zu übernehmen, der sich beim Amtsgericht in Untersuchungshaft befinde. Auf meine Frage nach dem Gegenstande der Beschuldigung erwiderte sie unter tiefem Erröten leise und schüchtern: „wegen Diebstahls“, entnahm ihrer Handtasche ein Schriftstück in dem mir wohlbekannten, von den Strafjustizbehörden verwendeten Umschlage und sagte mit zitternder Stimme: „Bitte lesen Sie selbst.“
Diese Anklageschrift richtete sich gegen den Hauptlehrer Wenzel Br. aus Schluckenau[1] in Böhmen. Ihm wurde zur Last gelegt, daß er, vor einigen Tagen nach Leipzig gekommen, mehrmals den Lesesaal der Universitätsbibliothek aufgesucht und aus dort der Allgemeinheit zugänglichen Büchern einzelne Blätter herausgeschnitten, auch mit sich genommen habe. In flagranti ertappt, hatte er begreiflicherweise nichts zu seiner Entlastung vorzubringen vermocht und saß als der Flucht verdächtiger Ausländer unter der Anklage des Diebstahls und der Sachbeschädigung in Untersuchungshaft.
Als ich von diesem nur allzu einfachen Tatbestande Kenntnis genommen hatte, mußte ich meine Besucherin, die auf eine dringliche Aufforderung des Mannes aus Schluckenau herbeigeeilt war, darauf hinweisen, daß die Sachlage keine angemessene Aufgabe für einen Verteidiger darbiete. Darauf aber antwortete sie zu meiner Überraschung, daß ihr von dem die Akten bearbeitenden Assessor, den ich nicht kannte, die Zuziehung eines Verteidigers sehr nahegelegt und mein Name genannt worden sei. Das machte mich stutzig. Ich ließ mir deshalb zunächst Näheres über die Persönlichkeit und den Lebensgang des Mannes sowie die Umstände mitteilen, unter denen er nach Leipzig gelangt sei.
Was ich erfuhr, war nicht viel. Immerhin stieß ich auf ein möglicherweise mit günstigem Erfolge zu verwertendes Körnchen. Br., der die übliche Lehrerausbildung genossen hatte, war schon lange an einer herausgehobenen deutschen Schule in Schluckenau angestellt. Er unterrichtete in den oberen Klassen und galt als eine ausgezeichnete Kraft. Außerberuflich führte er ein zurückgezogenes Leben, hatte Freude an der Natur und beschäftigte sich außerordentlich viel mit Literatur, hatte auch hier und da selbst zur Feder gegriffen. Mit seiner erheblich jüngeren Frau führte er eine glückliche Ehe, die aber kinderlos geblieben war. Seit etwa einem Jahre hatte sich sein sonst immer gleichmäßig gütiges Wesen merkbar verändert. Er zeigte zeitweise eine auffällige Erregbarkeit bei unbedeutenden Anlässen, schien gegenüber den gewohnten Beschäftigungen, auch dem Unterricht, Unlust zu empfinden und blieb tagelang untätig und übellaunig. Diese Zustände klangen alsbald wieder ab und wichen der hergebrachten Lebensweise. Der ihm wohlwollende Rektor hielt ihn für überarbeitet und hatte ihm deshalb einen längeren Urlaub erteilt oder verschafft. Um sich zu erholen, war Br. nach Dresden abgereist; in der dortigen Gegend wollte er einen Ruheplatz ausfindig machen. Daß er und warum oder wie er nach Leipzig gefahren sei, wusste seine Frau nicht. Er hatte ihr zu ihrem Befremden darüber keine Nachricht gegeben.
Ich schloß aus alledem, daß Br. sich in einem jener Zustände befände, den man zwar unwissenschaftlich, aber gemeinverständlich als Nervenzusammenbruch bezeichnet. Dessen Vorhandensein konnte einen Milderungs-, aber kaum einen Schuldausschließungsgrund ergeben. Interesse und Berufspflicht führten mich zu dem Verhafteten.
Ich war damals noch ein junger Verteidiger. Aber ich hatte bereits die Erfahrung erworben, daß nichts den Einblick in die Gemütsart des Klienten tiefer fördert als die Prüfung seiner Stellungnahme zu ganz außerhalb der ihm beigemessenen Straftat liegenden Dingen und daß gerade aus solcher Beleuchtung der Persönlichkeit sich oft wertvollste Schlüsse auf die Schuld oder Nichtschuld im einzelnen Falle ziehen lassen. So ging ich also zunächst nur ganz kurz auf die Geschehnisse im Lesesaal ein, die er weder bestritt noch zugab, und lenkte ihn dann auf seine Lebensgeschichte. Dass sie nichts Bemerkenswertes bot, wusste ich. Darauf kam es mir auch nicht an, sondern nur auf die Darstellung, die er geben würde. Er sprach etwas müde, aber in der Ausdrucksweise gut. Dabei machte ich eine höchst auffallende Beobachtung. Seine Heimat nannte er „Schlucken“. Es konnte sich um einen Lapsus oder um eine im Dialekt gebräuchliche Abkürzung handeln. Aber alsbald traten in seiner Erzählung andere Worte auf, denen er die Endsilbe entzog. So etwa Zoolog statt Zoologie, Reisekoff statt Reisekoffer, Einerl statt Einerlei. Diese Wahrnehmung ließ mich aufhorchen. Ich hatte als Student und in meiner Anwaltszeit mich mit Psychologie und Psychiatrie beschäftigt, Kollegien darüber gehört und Handbücher studiert. Daher wusste ich, daß jenes sonderbare Unterdrücken der Endsilben zu den Symptomen der Paralyse gerechnet werde. Lag diese Krankheit in vorgeschrittener Entwicklung bei Br. vor, so war er für seine Tat nicht strafrechtlich haftbar.
Ein namhafter Psychiater, dem ich meine dilettantische Diagnose unterbreitete, hielt sie grundsätzlich für beachtlich, glaubte aber ohne eigene Anschauung des Patienten sich nicht festlegen zu können. Der zuständige Richter gestattete die ärztliche Untersuchung. Bereits nach zwei oder drei Tagen lag das Gutachten vor: Br. leide an Paralyse, die so weit entwickelt sei, daß zu ihrer Feststellung es keiner Anstaltsbeobachtung bedürfe. Br. sei in schuldausschließendem Umfange geisteskrank.
Trotz dieses Ergebnisses mußte nach der Strafprozeßordnung die Hauptverhandlung stattfinden, weil das Hauptverfahren bereits eröffnet war. Zu ihm zog der Richter auch noch den Gerichtsarzt zu. Er schloß sich aufgrund selbständiger Untersuchung dem Gutachten des Privatarztes an, ging sogar in seinen Folgerungen darüber hinaus, indem er sich – in Abwesenheit des Angeklagten – dahin aussprach, in längstens ein bis zwei Jahren werde der Tod eintreten.
Der Freigesprochene reiste unter dem Schutze seiner Frau nach „Schlucken“ heim. Inwieweit er selbst die Ursache seiner Straffreiheit erkannt hatte, war mir zweifelhaft. Die Frau nahm das Schicksal, daß ihn und sie nach dem ärztlichen Befund erwartete, mit Fassung auf sich. Sie äußerte, daß sie sofort die Pensionierung ihres Mannes herbeiführen und sich bemühen werde, die ihm noch beschiedene kurze Lebenszeit durch liebevolle Pflege erträglich zu gestalten.
Zum nächsten Neujahrstage bekam ich von Wenzel aus Schluckenau eine Karte, auf der mir in einer zwar klaren und festen, aber jeder Eigenart entbehrenden Kinderhandschrift, wie sie nicht selten von Schreibunterricht erteilenden Volksschullehrern beibehalten wird, Glückwünsche und Grüße übermittelt wurden.
Nicht nur der Text, sondern schon die Anschrift war in einem unbeschreiblich schwülstigen Stil und unter Verwendung neuer sprachlich unmöglicher Wortbildungen abgefaßt. Da war etwa von „heilgrüßiger Dankbarkeit“, von „Verehrungstreue“, von „danktiefster Wohlmeinung“ die Rede. So fand die von den Ärzten diagnostizierte Geisteskrankheit ihre Bestätigung. Aber ich freute mich nicht allein über die durch das Schriftstück mir bewiesene Anhänglichkeit, sondern besonders auch darüber, daß der frühere Klient sich anscheinend wohl und in ruhig heiterer Stimmung befand. Ich antwortete ihm mit einigen freundlichen Worten. Als das Jahr vergangen war, traf wieder ein Neujahrsglückwunsch ein: an Herzlichkeit und Dankbarkeit gleich dem ersten, aber auch an Verrücktheit der Fassung und des Wortschatzes. Um es kurz zu machen: so haben sich diese Kundgebungen über zwei Jahrzehnte erstreckt! Ich erfuhr durch sie dann auch, daß Br. seinen 70. Geburtstag froh begangen habe; später, daß seine geliebte Frau gestorben sei. Nach der Angliederung Böhmens an das Dritte Reich verstummte Br. Da er das biblische Alter überschritten hatte, wird er eines natürlichen Todes gestorben sein. Darüber, wie er die ihm von den sachverständigen Ärzten zugebilligte Lebensdauer um das Zehn- bis Zwanzigfache zu überschreiten vermocht hat, erhält der Jurist sich jeder Mutmaßung.

[1] Heute: Sluknow in Tschechien
Quelle: SächsStA-L, 22381 Nachlass Martin Drucker, Nr. 04

VI. Begegnung in Gedanken

Beim Königlich‑Sächsischen Landsturmbataillon XIX,6 in Danzig‑Neufahrwasser lernte ich im Frühjahr 1917 einen Kaufmann und Fabrikanten Meixner aus Plauen kennen, der gleich mir als Vizefeldwebel eingezogen war. Wir bewohnten gemeinschaftlich mit Erlaubnis des Kommandeurs, eines Oberstleutnants von Wuthenau, auf eigene Kosten ein gutes Zimmer in einem am Strande des kleinen Fischer‑ und Badeortes Brösen[1] gelegenen Hause (Villa Seestern),­ wechselten in unserem Dienste, der nach unserer felsenfesten Zi­-vilüberzeugung gänzlich überflüssig war, mit militärisch stumpfer Pünktlichkeit ab und traten einander menschlich näher in kamerad­schaftlichen Gesprächen über Heim, Familie, Beruf und über die mutmaßliche Dauer des Krieges, den wir als verloren ansahen. Meixner ersehnte die Rückkehr in seine Friedensverhältnisse auch im Hinblick auf ein Augenleiden, das nach seiner Ansicht von den in Danzig verfügbaren Ärzten nicht sachgemäß behandelt wurde und ihm deshalb die Entlassung aus dem Dienste nicht eintrug. So ließ ich ihn in Mißmut zurück, als ich Ende November nach Bel­gien versetzt wurde. Monate waren seitdem vergangen, ich arbeite­te, auf eine Reklamation des Reichsjustizministers für ein Jahr beurlaubt, wieder in Leipzig, als Meixner  mich dort auf­suchte. Nach längerer klinischer Beobachtung war er wegen des Augenleidens endlich für dienstuntauglich erklärt, über dessen Charakter aber nicht näher unterrichtet worden. Der auf meine Veranlassung von ihm konsultierte berühmte Augenarzt Professor Dr. Goldschmidt[2] kam zu einer sehr ernsten Diagnose, die er in ihrer ganzen Tragweite nur mir bekanntgab. Danach war der Sitz der Krankheit im Gehirn zu suchen. Mit hochgradiger Wahrscheinlichkeit werde alsbald volle Erblindung eintreten und in ein bis zwei Jahren der Tod.
Meixner, dem Goldschmidt als ein unverzagter Kämpfer für das Leben eine ärztlich anzuwendende Behandlungsweise vorgeschrieben hatte, reiste halb getröstet heim. Er schrieb mir wohl noch einige Male, ließ aber dann nichts mehr von sich hören. In den Wirren des Novemberzusammenbruchs erstarb unser Meinungsaus­tausch wie so viele ungleich engere persönliche Beziehungen.
Es war an einem Sonnabend im Herbst 1921, als ich in Bad Elster meine dort zur Kur weilende Frau besuchte. Zwischen 4 und 5 Uhr nachmittags lustwandelten wir auf einem der langgestreckten beque­men Promenadenwege, die die hügelige Landschaft durchziehen. Unter den uns entgegenkommenden Spaziergängern fiel mir plötzlich ein Herr in Begleitung einer Dame in die Augen. Überrascht erkannte ich meinen Kameraden Meixner, machte meine Frau darauf auf­merksam und schickte mich schon zur Begrüßung an. Inzwischen hatte ­sich das Paar uns bis auf wenige Schritte genähert. Da bemerkte ich, daß ich mich getäuscht hatte. Der Herr war mir fremd.
Meine Frau und ich sprachen über den seltsamen Irrtum. Ich hatte jahrelang kaum an Meixner gedacht, erst durch sein plötz­liches Erscheinen war mir seine Gestalt und sein Schicksal wie­der ins Bewußtsein getreten. Der bedauernswerte Mensch, so äußerte ich mich, wird wohl nach Goldschmidts Vorhersage längst tot und begraben sein.
Einige Stunden nach dieser Begegnung suchten wir eine bekannte Gaststätte zum Abendessen auf. Wir hatten noch nicht lange Platz genommen, als ein mit uns etwa gleichaltriges Ehepaar eintrat und die Richtung nach unserem Tisch einschlug. Mich erblickend, stutzte der Herr, machte eine Bemerkung zu seiner Frau und trat auf mich mit den Worten zu: „Drucker, sind Sie es wirklich?“ „Meixner,“ rief ich, „also doch!“
Nachdem wir uns wechselseitig mit unseren Frauen bekannt gemacht hatten, ließen die Ankömmlinge sich bei uns nieder. Und nun ergab das Gespräch alsbald einige Vorgänge, die auf abergläubische Gemüter unheimlich wirken müßten. Ohne daß ich die täuschende Nachmittagsbegegnung erwähnt hatte, erzählten Meixners, sie hätten heute einen Wochenendausflug von ihrem nahegelegenen Wohnorte Plauen nach Bad Elster unternommen und seien etwa halb fünf eingetroffen. Im Geplauder sei Meixner auf seine Kriegs­dienstzeit, auf sein Augenleiden, das sich nicht verschlimmert hatte, und auch auf mich zu sprechen gekommen. Deshalb hatte ihn der Zufall, mich nun in der Gastwirtschaft zu treffen, so heftig überrascht. Unseren Spazierweg hatte das Ehepaar nicht betreten!
Meine Frau erzählte unser Erlebnis. Wir verfielen alle in einiges Nachdenken über die merkwürdige Parallelität unserer spontan aufgetauchten Erinnerungen; jeder versuchte mit dem eigengearteten Tatbestand sich abzufinden.
Ich selbst lehnte und lehne noch heute jede metaphysische Deutung ebenso ab wie die bedingungslose Verweisung auf den „Zufall“. Zufall war allenfalls, daß das Ehepaar Meixner wie manchmal, den Ausflug nach Bad Elster nun gerade an einem Tage machte, an dem auch ich dort mich aufhielt. Aber daß wir Männer dann, räumlich nahe aneinandergerückt, mit unseren Gedanken uns gegen­seitig erfaßten, erscheint mir nicht befremdlich. Heute wissen wir noch nicht, aber unsere späten Nachkommen werden einmal er­kennen, wie eines Menschen Gedanken wort‑ und drahtlos sein Hirn verlassen und in die Vorstellungswelt des Mitmenschen aufgenommen werden, um den sie kreisten.

[1] Heute: Brezno, ein Stadtteil von Danzig am Ufer der Danziger Bucht
[2] Der Augenarzt Prof. Dr. med. Max Goldschmidt betrieb noch 1928 seine Privatklinik in der Albertstraße 26. Er hatte an der Leipziger Universität den Lehrstuhl für Ophthalmologie inne. Von den Nationalsozialisten wurde er zwangsweise in den Ruhestand versetzt.
Quelle: SächsStA-L, 22381 Nachlass Martin Drucker, Nr. 04

VII. Nachwort

Martin Drucker schrieb seine Lebenserinnerungen während der letz­ten Kriegsmonate. Er hielt sich in dieser Zeit wiederholt in Aue auf und flüchtete schließlich vor der drohenden Deportation ins Konzentrationslager nach Jena. Dort erlebte er mit dem Rest seiner Familie den Einmarsch der Amerikaner.
Es war eine Zeit der von den Nationalsozialisten erzwungenen Untä­tigkeit. Unter diesen Umständen folgte Martin Drucker der Bitte seiner Schwiegertochter, seine Erinnerungen zu Papier zu bringen. Andernfalls wäre der Leipziger Rechtsanwalt, der nicht zur Selbstreflektion neigte, wohl niemals auf die Idee gekommen, seine Memoiren zu schreiben. Auch jetzt erfolgte diese Niederschrift ausdrücklich nur für die Nachkommen, war also ursprünglich nicht zur Veröffentlichung gedacht. Es ist der noch heute in Leipzig le­benden Tochter Renate Drucker zu verdanken, dass nunmehr die Erin­nerungen ihres Vaters einer breiten Öffentlichkeit erstmals zu­gänglich gemacht werden können.
Die außergewöhnlichen Umstände der Niederschrift erklären auch das abrupte Ende. Mit dem Einmarsch der Amerikaner in Jena und schließlich auch in Leipzig endete für Martin Drucker die Zeit der Untätigkeit. Sofort stellte der 76-jährige seine ganze Kraft für den Wiederaufbau eines demokratischen Rechtsstaates zur Verfügung. Es blieb ihm deshalb in seinen beiden letzten Lebensjahren keine Zeit mehr für Selbstbetrachtungen.
An dieser Stelle soll deshalb der weitere Lebensweg des jungen Mannes aus dem jüdisch-protestantischen Bildungsbürgertum bis an die Spitze der deutschen Anwaltschaft nachgezeichnet werden.

1. Student in Leipzig

Zur Leipziger Studienzeit hat Martin Drucker in seinen unvollstän­digen Erinnerungen nicht mehr notiert, dass er hier erstmals mit Antisemitismus in Berührung kam. Dieser wurde unter der Führer­schaft des Berliner Hofpredigers Stöcker durch den auch an der Leipziger Universität existierenden „Verein deutscher Studenten“ propagiert. Es gab zunächst keine Studentenorganisation, die der extrem nationalen und vor allem antisemitischen Weltanschauung dieses Vereines etwas entgegensetzen konnte.
Der Student Drucker gründete deshalb in Leipzig die „Freie Wissen­schaftliche Vereinigung“, die an zahlreichen anderen Universitäten bereits existierte. Es kam zu Beginn der 90er Jahre des 19. Jahr­hunderts zu ernsthaften Auseinandersetzen zwischen diesen beiden Studenten­organisationen. Drucker wurden als Vorsitzenden der „Freien Wis­senschaftlichen Vereinigung“ wiederholt Maßregelungen seitens der Universitätsbehörden angedroht. Es wurde auch bean­standet, dass die Vereinigung sozialdemokratische Mitglieder habe. Aus die­ser Zeit rühren insbesondere die bis zur Ermordung anhal­tenden freundschaftlichen Beziehungen zu dem Altersgenossen Karl Lieb­knecht.
Der liberale Lehrkörper der Juristenfakultät hat jedoch immer wie­der Eingriffe der Universität in die Meinungs- und Redefreiheit verhindert. So konnte der junge Martin Drucker damals im Akade­misch-Philosophischen Verein ungehindert einen Vortrag über Kants Schrift über den ewigen Frieden halten und seiner pazifistischen und kosmopolitischen Anschauung öffentlich Ausdruck verleihen.
Martin Drucker legte im Januar 1893 die erste Staatsprüfung ab. Seine Doktorarbeit „Die Konstruktion der Auslobung im justitiani­schen Recht in der Bedeu­tung für das heutige gemeine Recht“ wurde von Emil Friedberg als Doktorvater betreut und am 28. März 1896 mit „magna cum laude“ bewertet.
Im Juni 1896 absolvierte Drucker schließlich auch die große Staatsprüfung an der Juristenfakultät der Leipziger Universi­tät mit Bravour.

2. Ehemann und Familienvater

Am 22. November 1898 heiratete Martin Drucker in Köt­schenbroda Margarethe Mannsfeld, die Freundin seiner Schwester Betty. Die Fa­milie Mannsfeld hatte bis zu dem frühen Tod des Vaters, der in Leipzig Richter war, in der unmittelbaren Nachbarschaft der Dru­ckers in der Braustraße gewohnt.
Schon 1896 hatte Betty Drucker den Bruder ihrer Freundin Margare­the, Carl Mannsfeld[1], geheiratet. So kam es zu einer „doppelten Verschwäge­rung“ der Familien Drucker und Mannsfeld, über deren Folgen noch zu berichten sein wird. Mar­garethe Mannsfeld war am 1. Juni 1873 in Leipzig geboren und also zwei Jahre älter als ihre Freundin Betty. Mit der Heirat wurde eine über 40-jährige Partner­schaft begrün­det, die harmonisch und glücklich war, obwohl der Charakter und die Mentalität der Eheleute durchaus unterschiedlich waren. Margarethe war eine sensible Ro­mantikerin, die versuchte, unter den Bedingun­gen der damaligen Zeit auch als Hausfrau und Mutter ihren eigen­ständigen Weg zu gehen.
Für die Haushaltsführung war sie natürlich wie alle Mädchen ihres Standes ausgebildet. Die tagtägliche Abrechnung sämtlicher Ausga­ben entsprach wohl nicht dem Wesen der jungen Frau, die zeichneri­sches Talent besaß und mit ih­rem Mann die Liebe zur Musik und zur Literatur teilte. Die älteste 1903 geborene Tochter Martina be­schrieb sie in ihrer Erinnerung als sehr strenge Mutter, die ener­gisch die Erledigung der Hausaufgaben überwachte.
Ihr Rollenverständnis als Mutter hat sich gewan­delt, denn die 1917 als viertes Kind geborene jüngste Tochter Renate kann sich nicht erinnern, von ihrer Mutter jemals für schlechte oder gute Noten bestraft oder besonders belobigt worden zu sein.
Diese differierenden Erinnerungen der beiden Töchter sind wohl durch die einschneidenden Veränderungen, welche der Erste Weltkrieg auch für die Familie Drucker bedeutete, erklärlich. Die nach Kriegsende einsetzende Emanzipationsbewegung ließ auch Margarethe Drucker nicht unbeeindruckt. Sie war wohl eine der wenigen Frauen, welche bereits damals Franz Kafka zu ihren Lieblingsautoren zählte.
Margarethe Dru­cker konnte ihre persönliche Erfüllung deshalb auf Dauer nicht nur als sorgende Hausfrau und Mutter fin­den und versuchte deshalb, sich eigene kreative Freiräume zu schaf­fen. Der Romanist Wilhelm Fried­mann, der Anfang der 20er Jahre, nachdem die Großmutter Otti­lie Mannsfeld gestorben war, bei Druckers in der Schwägrichenstraße 5 zur Untermiete wohnte, hat diese Bemühungen besonders begünstigt. Der mit den größten deutschsprachigen Literaten dieser Zeit, ins­besondere mit Stefan Zweig, befreundete Friedmann brachte mit seinem typi­schen Wiener Charme und seinem einnehmenden Wesen die ganze Familie Drucker auf seine Seite.
Im Kreis der zahllosen, ständig im Hause ein und aus gehenden Freunde ihrer heranwachsenden vier Kinder fand Marga­rethe Drucker ihre wahre Erfüllung. Sie besaß eine besondere Aus­strahlung, welcher sich insbesondere die jungen Freunde ihrer Kin­der nicht entziehen konnten. So lange sie im Raum war, war sie stets der Mittelpunkt der Gesell­schaft. Sie vermochte alle mit ih­rem Charme, ihrem außergewöhnlichen Intellekt und ihrer manchmal überbordenden Phantasie zu faszinieren.
Wenn sich Martin Drucker bei diesen Zu­sammenkünften auch nur sel­ten sehen ließ, wurde bei diesen Gelegen­heiten offenbar, welchen besonderen Einfluss auch er auf die zahlreichen gleich­ gesinnten Freunde seiner Kinder hatte. Nur wenige Worte oder Ges­ten genügten oft, um den Freunden zu zeigen, welches väterliche Interesse der berühmte Anwalt an ihrer Entwick­lung hatte.
Die zahlreichen Freunde der Kinder, zu denen unter anderem auch Hermann Mau und Fritz Nachod gehörten, wurden von den Eltern wie zur Familie gehörend aufgenommen. Ganz besonders galt das für einen Freund Peters aus seiner Schulzeit in Salem. Der jüngste Sohn hatte dort eine enge Freundschaft mit Heiner Ackermann geschlossen. Der aus angesehener Freiburger Patrizierfamilie stammende Junge war frühzeitig Waise geworden und unterstand der Betreuung eines Vetters. Dieser hat die Interessen des Kindes jedoch offenbar nicht genügend wahrgenommen. Jedenfalls fand Heiner bei der Familie Drucker in Leipzig die vermisste familiäre Liebe und Nähe. Er besuchte von 1928 bis 1933 die Schule Schloss Salem, wo er als ein hervorragender Sportler, insbesondere als 10.000 Meterläufer Ansehen genoss. Nach der Machtübernahme durch Hitler verschlechterte sich der psychische Zustand des Jungen so dramatisch, dass Martin Drucker eingreifen musste. So wurde Heiner zunächst Lehrling in einer Leipziger Versicherung, weshalb er neben seinem frühe­ren Spitznamen „Poppele“ nun auch „Glas­stift“ gerufen wurde. Heiner musste sich jedoch in psychiatrische Behandlung begeben und kam in eine geschlossene Klinik südlich von Leipzig zu Dr. Sernau, der ein guter Bekannter Martin Druckers war. Er ermöglichte es, dass Heiner Ackermann die Kriegszeit unbeschadet überstand.
Gleiches kann von einem weiteren Freund leider nicht gesagt werden. Der hochbegabte Sohn des Leipziger Bankiers Breslauer war ein guter Klassenkamerad Peters an der Thomasschule. Die Familie emigrierte frühzeitig zunächst nach Rotterdam. Von dort erreichte die Familie Drucker dann die Nachricht, dass sich Bernhard Breslauer voller Verzweiflung vom Kirchturm gestürzt hatte.
Aus erhalten gebliebenen Briefen aus der Zeit nach 1945 geht her­vor, dass die Verbindung zwischen Martin Drucker und den Freunden seiner Kinder auch später nicht abriss. Be­gierig suchten diese Freunde den Rat ihres großen Vorbildes. Es wurde für sie sehr wichtig, dass ihr Verhalten und ihre berufliche Entwicklung, gerade auch während des Nationalsozialismus, die Zu­stimmung Martin Druckers fanden.
Förmliche gesellschaftliche Zusammenkünfte waren bei Margarethe Drucker unbeliebt und sie versuchte immer wieder, sich solchen lästigen Verpflichtungen zu entziehen. Aber in diesem Punkt hatte sie – wenn auch weniger extrem – wieder eine Gemeinsam­keit mit ih­rem Mann, der solche Dinge ebenfalls nicht besonders mochte.
Regelmäßige Besuche des nahe gelegenen Gewandhauses, wie auch der Leipziger Theater waren für die Eheleute eine wichtige Bereicherung. Durch die auch im Hause Drucker üblichen wöchentlichen Mittagstische für Studenten des Konservatoriums und der Akademie gab es darüber hinaus immer einen anregenden Kontakt mit dem künstlerischen Nachwuchs.
Der namhafte Münchner Kollege Max Friedländer verkennt die feine Ironie, die in der Beziehung der Druckers gepflegt wurde, wenn er in seinen Erinnerungen einen Ausruf Margarethes während einer der vielen öffentlichen Reden ihres Mannes interpretiert. Sie soll 1919 während der Rede begeistert zu Frau Estelle Dittenberger gesagt haben: Herrlicher Mann, herrlicher Mann! Friedländer irrt, wenn er hierin einen Beweis für eine undistanzierte Verehrung des Ehe­man­nes durch Margarethe zu sehen glaubt.
Friedländer erinnert sich an Margarethe Drucker als eine char­mante lebhafte Dame und glaubt, dass die Ehe später kriselte, weil die Ehefrau ihrem Mann nicht verzeihen konnte, dass er sich zu viel um den Deutschen Anwaltverein und zu wenig um sie küm­merte. Sicher hat die Ehe der Druckers auch Krisen gekannt, die zu einer zeitweisen Entfremdung führten. Die Gründe, welche Friedlän­der hierfür zu erblicken glaubt, sind aber mit Sicherheit unrich­tig. Die Selbstständigkeit und die Freiräume, welche Marga­rethe in ih­rer Ehe immer wichtig waren, widersprechen der Annahme, dass sie sich ausschließlich oder vordergründig nur als die Ehe­frau Martin Druckers definierte.
Ihren 50. Geburtstag nutzte Margarethe Drucker, um ein deutliches Zeichen ihrer Emanzipation zu setzen. Die daheim gebliebene Familie erreichte an diesem Tag ein Telegramm folgenden Inhalts: Grüße vom Geburtstagsbubikind. Die 50-jährige hatte sich den herrschenden Konventionen zum Trotz an ihrem Geburtstag von dem als Belastung empfundenen langen Haar getrennt und sich einen modischen Bubikopf zugelegt. Die verhassten Haarklammern warf sie in weitem Bogen vom Balkon ihres Hotels auf die Straße. Dieser Befreiungsschlag führte später übrigens dazu, dass Margarethe Drucker in Leipzig ihren Friseur wechseln musste, da Herr Sorgler in der Beethovenstraße nicht bereit war, Haarschnitte bei Frauen zu tolerieren.
Da Margarethe Drucker nicht nur die Leidenschaft zu reiten mit ih­rem Mann teilte, sondern auch Hunde liebte, spielten diese Tiere über viele Jahre im Familienleben eine dominierende Rolle. Als Wilhelm Friedmann in der Schwägrichenstraße wohnte, kamen zwei reinras­sige schwarzhaarige Glatthaardackel namens Tristan und Waldi ins Haus. Tristan starb sehr früh, aber die Dackeldame Waldi trauerte und lachte über viele Jahre mit der ganzen Familie. Nach­dem der Schmerz über den Tod Waldis verwunden war, wurde im Früh­sommer 1932 eine etwa ein Jahr alte Tigerdogge angeschafft, die den stolzen Na­men Nestor vom Eichberg führte. Dieser Hund wuchs natürlich enorm und musste tagtäglich mindestens sieben Stunden bewegt werden. Das führte dazu, dass die gesamte Familie, ein­schließlich des Herrn Ju­stizrat, in die Betreuung dieses Familien­mitgliedes eingebunden wurde. Nestor musste nach Kriegsbeginn Ende 1939 einge­schläfert wer­den, um ihm ein langes, qualvolles Ende zu ersparen.
Margarethe Drucker liebte die Natur. Ihr geradezu schlafwandleri­sches Orientierungsvermögen wurde von ihrem Mann, der sich kaum irgendwo zu­rechtfand, immer wieder bewundert. So war es selbstver­ständlich, dass die Familie immer wieder Urlaubsziele wählte, die Berge und Wasser ver­einten.
Als sich 1913 die Gelegenheit bot, in Niedergräfenhain ein leer stehendes ehemaliges Pfarrhaus als Wochenenddomizil zu nutzen, war sie es, die dafür sorgte, dass dieses Haus auf dem Lande gerade wäh­rend des Ersten Weltkrieges zum Ruhepol für die gesamte Familie wurde. 1923 benötigte die Gemeinde das für ein Wo­chenenddomizil recht große Haus, um Arbeiter unterzubringen, wes­halb der Pacht­vertrag endete.
Der Beginn des Ersten Weltkrieges musste für den Pazifisten Martin Drucker eine schwere Belastungsprobe darstellen. Schon die Weigerung eine Offizierslaufbahn zu bestreiten, hatte unter seinen Standesgenossen Aufsehen und Unverständnis erregt. Als er dann im November 1915 in einer Leserzuschrift an das Leipziger Tageblatt nachwies, dass die an den Anschlagsäulen der Stadt erfolgte Einberufung seines Jahrganges rechtswidrig war, kam es zu einer Konfrontation mit dem Bezirkskommandeur Generalmajor Leimbach. Dieser war nur schwer wieder zu beruhigen. Dass Martin Drucker dann trotzdem eingezogen wurde, ist wohl auch auf seine öffentliche Unbotmäßigkeit zurückzuführen.
Seine Dienstzeit hat Martin Drucker später trotzdem in geradezu schwejkscher Manier unter dem Titel „Ginster“ zu Papier gebracht. Auf Intervention des Reichsjustizministeriums wurde er bald wieder nach Leipzig entlassen, um dort als Schriftführer des DAV dem von ihm verehrten Vorsitzenden Julius Haber in schwerster Zeit beistehen zu können.
Die für Martin Drucker so wichtige Möglichkeit, in der kurzen freien Zeit mit der Familie aufs Land zu flüchten, ergab sich dann erst wieder Ende 1932. Als Wilhelm Ostwald im April 1932 starb, standen in Großbothen die von ihm in idyllischer waldreicher Lage für seine Kinder errichteten Häuser teilweise leer. Andererseits besaß die Witwe Ostwalds nicht die finanziellen Mittel, um die Häu­ser zu erhalten. Deshalb wurde von Martin Drucker nach dem Tod Ost­walds im April 1932 das Haus „Glück auf!“ durch Vermittlung des Bruders Carl Drucker, der Assistent bei Wilhelm Ostwald gewe­sen war, von dessen Erben angemietet. Dieses Haus auf dem Land mit seinen insgesamt 16 Schlafplätzen erwies sich in den folgenden fin­steren Jahren für die Familie und den außerordentlich umfang­reichen Freundeskreis der Kinder als besonderer Glücksfall.
Während Martin Drucker gemeinsam mit Fritz Grübel über Monate in höchster Anspannung in Berlin in dem Aufsehen erregenden Prozess Petschek gegen Caro auftrat, widmete sich Margarethe Drucker mit viel Liebe für jedes Detail und unter strenger Beachtung der be­schränkten zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel der Einrichtung des neuen Wochenenddomizils. Sie schuf für die Familie eine ländli­che Idylle, einen Hort der Ruhe und Entspannung. Hier zogen die Druckers am Heiligen Abend 1932 ein.
Margarethe Drucker war ihrem Mann eine ebenbürtige Partnerin in ei­nem Sinne, wie es damals noch nicht üblich war. Sie verfolgte die Arbeit ihres Mannes mit großem Interesse, wie Briefe aus der Zeit des Caro-Petschek-Prozesses belegen. Sie litt unsäglich, vielleicht sogar mehr als Drucker selbst, an den Verfolgungen, Dif­famierungen und Repressalien, denen der Leipziger Rechtsanwalt nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt war. Diese ständigen Angriffe auf ihren Mann und insbesondere die bru­tale Gewalt gegen die Leipziger Juden, die sie in der berüch­tigten Pogromnacht im November 1938 entsetzt miterleben musste, haben ihr Leben entscheidend verkürzt.
Margarethe Drucker, schon seit längerer Zeit herzkrank, starb erst 65-jährig am 21. Januar 1939. Sie fand ihre letzte Ruhestätte, ih­rem Wunsch gemäß mit einem ein­fachen Holzkreuz versehen, auf dem Leipziger Johannisfriedhof.
Mit dem Tod seiner Frau ging für Martin Drucker ein weiterer, ent­scheidender Lebensabschnitt zu Ende. Margarethe fehlte ihm gerade in der nun folgenden dunklen Zeit, die noch so viel von ihm abver­langte. Aber auch die zahlreich auf dem Friedhof erschienenen Freunde und Freundinnen ihrer Kinder hatten Tränen in den Augen, als sie Abschied von dieser im wahrsten Sinne des Wortes besonde­ren Frau nehmen mussten.3.

3. Der erfolgreiche Rechtsanwalt (1898-1933)

Bereits am 17. Juni 1898 wurde Martin Drucker jun. als Rechtsan­walt vereidigt. Er konnte seine Tätigkeit in der weit über die Stadt­grenzen hinaus bekannten Kanzlei seines Vaters, welche sich zu die­sem Zeitpunkt noch in dem nicht mehr existen­ten Haus Neumarkt 29 befand, aufnehmen. Erst etwa um die Jahrhun­dertwende bezog die Anwaltskanzlei ihren endgültigen Sitz in der Ritterstraße 1-3.
Die Tätigkeitsschwerpunkte des jungen Anwaltes waren natürlich durch das Profil der anwaltlichen Arbeit des Vaters vorge­prägt. Hierzu gehörte zunächst insbesondere das damals noch relativ neue Internationale Markenrecht mit allen angrenzenden Rechtsgebie­ten.
So ist auch erklärlich, dass heute nicht mehr mit Bestimmtheit fest­gestellt werden kann, ob Drucker sen. oder jun. der Verfasser zweier rechtsvergleichender Aufsätze zum spanischen und zum portu­giesischen Markenrecht im Jahr 1912/1913 war.[2] Keinesfalls be­schränkte sich Martin Drucker jun. in seiner anwaltlichen Tä­tig­keit jedoch auf dieses Rechtsgebiet. Martin Drucker genoss insbe­son­dere als Strafverteidi­ger besonderes Ansehen. Naturgemäß ist wegen der bereits damals üb­lichen Resonanz in der Presse diese Ar­beit des Leipziger Anwalts heute noch am besten nachzuzeichnen. Es muss jedoch der Versuchung begeg­net werden, eine Übergewichtung des strafrechtlichen Engagements Druc­kers vorzunehmen, denn er war im Unterschied zu anderen in dieser Zeit tätigen Kollegen, insbe­sondere des sicher namhaftesten Berli­ner Strafverteidigers Prof. Dr. Max Alsberg, keinesfalls so aus­schließlich auf diese Rechtsma­terie fixiert. Aber trotzdem soll an dieser Stelle auf einige be­deutende, von ihm vertretene Strafsa­chen eingegangen werden. Ent­scheidenden Einfluss auf den Ruf des jungen Anwalts als exzellen­ter Strafverteidiger weit über Leipzigs Grenzen hinaus hatte die er­folgreiche Vertretung der Hauptangeklagten im Zusammenhang mit dem Zusammen­bruch der 1838 als erste private Notenbank Sachsens gegründeten Leipziger Bank Ende Juni 1901[3]. Den Angeklagten war be­trüge­rischer Bankrott vorgeworfen worden. Die außerordent­lich ver­wickelten Hintergründe des Bankencrashs wa­ren aber hier offen­sichtlich so, dass der Zusammenbruch von Berli­ner Großbanken ziel­gerichtet provoziert worden war.
Wie Dr. Fred Gru­bel, ein en­ger Mitarbeiter von Justizrat Drucker, sehr zutreffend fest­stellte, kam dem Leipziger Anwalt in dieser Sache damals nicht nur die exzellente Beherrschung des Strafpro­zesses zu­gute, sondern insbesondere seine Fähigkeit zur „scharf­sinnigen Ana­lyse kompli­zierter Wirtschaftsvorgänge und bis dahin kaum erprobter Gesetzes­vorschriften.“[4] Der damals 33-jährige Rechtsan­walt erreichte durch sein Engagement einen Freispruch der Hauptangeklagten von dem Vor­wurf des betrügerischen Bankrotts. In diesem Verfahren traf er auch mit seinem Kollegen Karl Rothe, dem späteren Leipziger Ober­bürgermeister, zusammen, welcher als Direktor der Leipziger Hypo­thekenbank in das Verfahren involviert war. Die beiden Rechts­an­wälte blieben ihr Leben lang freundschaftlich verbunden.
Martin Drucker kaufte von dem ersten nennenswerten Honorar, wel­ches er aus diesem Prozess verdiente, für seine Frau einen Bech­stein-Flügel. Dieser stand dann viele Jahre im Zentrum des offenen musikalisch-literarischen Familienlebens in der Schwägrichenstraße. Die Eheleute Drucker spielten darauf gemeinsam ebenso selbstverständlich, wie die zahlreichen Gäste und Freunde der Familie. Spontane Musikeinlagen gehörten in der musikliebenden Familie damals zum Alltag. Der geliebte Flügel konnte sogar trotz Lebensgefahr und mit ge­meinsamer An­strengung von Freunden und Bekannten am 27. Februar 1945 in letz­ter Minute aus den Flammen gerettet werden.

3.1. Verteidigung von Bruno Apitz und Rosa Luxemburg

Zu seinen heute noch bekannten Mandanten gehörte gegen Ende des Er­sten Weltkrieges der damals gerade 17-jährige Bruno Apitz, der spä­tere Autor des Buchenwald-Romans „Nackt unter Wölfen“. Apitz war damals vor dem Reichsgericht mit weiteren Angeklagten vorge­worfen worden, in Leipzig durch Flugblätter und Reden zum Massen­streik aufgerufen zu haben, um die Aufnahme von Friedensverhand­lungen zu erzwingen.
Aber auch Rosa Luxemburg verteidigte Martin Drucker etwa um 1917 auf persönliche Empfehlung ihrer langjährigen Freundin und Berate­rin Mathilde Jacob in einem Prozess wegen Beleidigung eines Krimi­nalbeamten vor dem Reichsgericht.[5]

3.2. Elisabeth Förster-Nietzsche

Druckers hervorragender Ruf als Spezialist für Urheberrecht ist heute noch belegbar[6] durch ein Mandat, welches ihm im Jahr 1929 er­teilt wurde. Als Elisabeth Förster-Nietzsche, die Schwester Friedrich Nietzsches[7], für das Nietzsche-Archiv eine außerordent­lich verwickelte Auseinandersetzung um die Abrechnung von Honora­ren mit dem Leipziger Alfred Kröner Verlag zu führen hatte, kam für sie selbstverständlich nur der beste Anwalt auf diesem Gebiet in Frage. Drucker war erfolgreich und der Verlag wurde durch Ur­teil des Landgerichts Leipzigs antragsgemäß zur Zahlung verpflich­tet.
Seiner Gewohnheit entsprechend hat Martin Drucker einen bei ihm damals beschäftigten Referendar in die Bearbeitung des Mandates einbezogen. Dieser begabte Jurist hat sehr gute Arbeit geleistet, aber nach 1933 den Schriftverkehr mit der von ihm hochverehrten Mandantin hinter dem Rücken seines Chefs weitergeführt. Drucker wäre sicher sehr überrascht gewesen, wenn er erfahren hätte, dass sein Referendar seine Honorarrechnungen auf Richtigkeit prüfte und sich euphorisch über die Machtübernahme Hitlers und die herausge­hobene Rolle, welche Elisabeth Förster-Nietzsche nunmehr spielte, geäußert hat. Der von seinem Chef ganz besonders geförderte Refe­rendar begrüßt in einem persönlichen Brief an die verehrte Schwes­ter Nietzsches die Maßnahmen gegen die „vaterlandslose Geschäfts­tüchtigkeit“ der Juden und schränkt dann allerdings großmütig ein: „Ich glaube nicht, dass Herr Drucker die ihm widerfahrene Behand­lung verdient hat.“
Hier findet sich ein einziges Mal ein Hinweis, dass Druckers aus­geprägte Menschenkenntnis versagt hat. In Kenntnis dieser Äußerun­gen hätte er sich mit Sicherheit nach 1945 nicht so vehement für diesen ehemaligen Referendar eingesetzt. Seine Einschätzung der juristischen Begabung war aber vollkommen richtig, wie die spätere Karriere dieses Ungetreuen als Hochschullehrer in der Bundesrepu­blik eindrucksvoll bestätigt.

3.3. Der Caro-Petschek-Prozess

Ein „Gesellschaftsskandal“ beschäftigte die Kanzlei Dru­cker im Jahr 1932 besonders intensiv. Auch die Presse, insbeson­dere die Berliner Tageszeitungen, berichteten über den über meh­rere Monate laufenden Prozess hauptsächlich aus zwei Gründen: Ei­nerseits stan­den sich hier – leider jüdische, wie Fred Grubel in seinen Erinne­run­gen[8] schreibt – Personen des öffentlichen Lebens gegen­über, ande­rer­seits wurden deren Interessen durch zwei der namhaf­testen und pro­filier­testen Anwälte dieser Zeit vertreten, nämlich Prof. Max Als­berg und Justizrat Martin Drucker.
Der Chemiker Nicodem Caro, der gemeinsam mit Adolf Frank das Ver­fahren zur Erzeugung von Kalkstickstoff aus Luft, das so genannte Frank-Caro-Verfahren, entwickelt hatte, wurde in die­sem Verfahren von dem un­bestritten namhaftesten Strafverteidiger Als­berg, von Rudolf Dix, dem Nachfolger Martin Druckers im Amt des Präsidenten des DAV, und dem früheren preußischen Justizminister Heine vertre­ten. Justizrat Drucker vertrat in diesem Verfahren den früheren Schwie­gersohn Caros, Ernst Petschek. Dessen Vater Ignatz Petschek ge­hörte zu den größ­ten tschechischen Braunkohlenhändlern und hatte auch wesentlichen Einfluss auf die mitteldeutsche Braunkohlenwirt­schaft.
Zur Vorgeschichte des Verfahrens gehört, dass Caro nach der erfolg­ten Ehescheidung seiner Tochter von seinem früheren Schwie­gersohn eine Mitgift von 300.000 Mark zurückforderte. Nachdem Pet­schek be­hauptet hatte, dass er sich an eine solche Zahlung nicht erinnern könne, sagte Caro, dass er sogar eine Quittung hierüber besäße. Pet­schek hat dann versucht, diese ominöse Quittung im Wege einer einstweiligen Verfügung sicherstellen zu lassen. Als der Ge­richts­vollzieher im Hause Caro erschien, behauptete dieser, die Quittung soeben in der Toilette weggespült zu haben. Die wegen der Behaup­tungen Caros in ihrer Ehre verletzten Petscheks erstatteten nun Strafanzeige wegen Urkundenfälschung.
Caros Kontakte zu höchsten Regierungsstellen führten jedoch offen­bar dazu, dass die gebotene Klageerhebung seitens der Staatsanwalt­schaft rechtswidrig verweigert wurde. Petschek erhob daraufhin beim Berliner Kammergericht Klage mit dem Ziel, die Staatsanwaltschaft anzuweisen, Anklage gegen Caro wegen Urkunden­fälschung zu erheben.
Die Angelegenheit erregte immer mehr öffentliches Aufsehen. Die  zwischen Als­berg und Drucker zeitweise eskalierenden Auseinander­setzungen waren Berliner Tagesgespräch. Der Leipziger Anwalt wurde mehrfach als Sachse verhöhnt, obwohl er ein perfektes hochdeutsch sprach. In einem Zeitungsbericht wird Drucker in übelster Weise als Jude[9] verhöhnt. Es ist nicht bekannt, ob er diesen Be­richt gele­sen hatte, aber die antisemitischen nationalistischen Angriffe gegen ihn, wie auch seine Mandanten, sind mehrfach in der Familie besprochen worden.
Vor dem Berliner Landgericht standen sich in diesem „abscheulichs­ten Prozess aller Zeiten“[10] zwei Juristen ge­genüber, die in ihrer We­sensart un­terschiedlicher kaum sein konn­ten, die jedoch ihre wechselsei­tige kollegiale Hochachtung wie­derum verband. Der jüdi­sche Rechtsan­walt Max Alsberg liebte, ganz im Gegensatz zu Dru­cker, den großen drama­tischen Auftritt. Er ge­noss es, bei diesem, wie auch bei ande­ren großen Strafprozessen, im Mittelpunkt des In­teresses zu stehen. Die unmittelbar nach der Machtergreifung gegen ihn ein­setzenden Angriffe trafen ihn daher bis ins Innerste.
Eine unrühmliche Rolle in diesem Verfahren spielte im Übrigen auch der ebenfalls auf der Gegenseite agierende, aus Leipzig gebürtige Berliner Anwalt Dix. Der Nachfolger Druckers im Amt des DAV-Präsi­denten griff die Gegenpartei mit scharfen nationalistischen Tönen, im Sprachgebrauch der Nationalsozialisten an, weil diese einen englischen Schriftsachverständigen als Zeugen benannt hatten. Un­ausgesprochen blieb allerdings, dass Alsberg in einer Nacht- und Nebelaktion alle namhaften deutschen Schriftsachverständigen für seine Partei verpflichtet hatte. So hatte Druckers Mandantschaft gar keine andere Möglichkeit, als einen ausländischen Sachverstän­digen zu benennen. Da Dix die verbalen, aber auch physischen Be­drohungen der Gegenseite durch die Nationalsozialisten in den Ver­handlungspausen nicht verborgen geblieben sein können[11], ist sein Ver­halten unentschuldbar. Diese nationalistischen Angriffe hatten keine Relevanz für die zu erörternden Sach- und Rechtsfragen. Sie dienten einzig dem Ziel, die Petscheks, aber auch deren Leipziger Vertreter in den Augen der Öffentlichkeit zu diffamieren.
Bemerkenswert bleibt, dass Drucker von seinen Mandanten trotz des letztendlich verlorenen Prozesses mit großer Dankbarkeit für sei­nen Einsatz bedacht wurde. Alsberg hingegen hat für seine Tätig­keit von Caro nicht einmal sein Honorar bezahlt bekommen.

3.4. Rosalie Ullstein, geborene Gräfenberg

Gemeinsam mit Max Alsberg war Martin Drucker im März 1931 im Zusam­menhang mit dem Familieneklat, der das berühmte Haus Ullstein da­mals erschütterte, erfolgreich tätig gewesen. Als Franz Ullstein zum Missfallen seiner Familie Rosi Gräfenberg heiratete, setzte eine üble Verleumdungskampagne ein. In deren Zentrum stand die mit gefälschtem Material untermauerte Behauptung, dass Rosi Ullstein für Frankreich spioniert habe. Zu dieser Zeit war kaum ein Vorwurf denkbar, der eine Person des öffentlichen Lebens in Deutschland härter treffen konnte. In den daraufhin einsetzenden wechselseiti­gen Klagen vertraten die Rechtsanwälte Drucker, Alsberg und Dix die Beklagten Franz Ullstein und den Schriftsteller Josef Born­stein in einer Privatbeleidigungsklage, die der frühere Chefredak­teur der „Vossischen Zeitung“, Professor Georg Bernhard, gegen diese ange­strengt hatte.

3.5. Der angeklagte Staatsanwalt

Lange vor der Machtübernahme Hitlers im Jahr 1933 war Drucker in seiner anwaltlichen Tätigkeit wiederholt in politische Auseinan­dersetzungen mit den Nationalsozialisten involviert.
Besonderes Aufsehen hat der Fall des Weimarer Oberstaatsanwalts Frieders in ganz Deutschland ausgelöst. In Thüringen hatte im Er­gebnis der Landtagswahlen vom 10.02.1924 der so genannte Ordnungsbund, bestehend aus den Deutsch-Nationalen, dem Landbund und der Deutschen Volks­partei, die Mehrheit um nur zwei Stimmen verfehlt. So wurde unter Einbeziehung der sieben Völkischen (Nationalsozialisten) Abgeord­neten erstmals eine Rechtsregierung gebildet. Eine wesentliche Zielrichtung dieser Regierung war die Abrechnung mit den Linken, d.h. den Kommunisten und den Sozialdemokraten, die durch unge­zählte politische Prozesse erfolgte. Einige davon haben damals für große Aufregung gesorgt. Hierzu gehörten die Verfahren gegen den früheren sozialdemokratischen Innenminister Hermann und den Staatsbankpräsidenten Loeb.
Die Zielstellung dieser politischen Abrechnungen wurde häufig ver­schleiert. Anders verhielten sich insbesondere die Völkischen im­mer dann, wenn die Angegriffenen Juden waren. Der Abgeordnete Din­ter hatte bereits damals die Gründe hierfür wie folgt genannt: „Jeder Jude, auch wenn er noch so anständig und ehrbar ist, bildet eine Gefahr für den Staat.“
Der junge und außerordentlich erfolgreiche Präsident der Thüringer Staatsbank Loeb war Jude und sollte deshalb trotz seines Erfolges unbedingt entfernt werden. Da es hierfür keine sachlichen Ansätze gab, wurden die abwegigsten Gründe gesucht. Es bestand für die Regierung die ernsthafte Gefahr, dass enorme Schadenersatzver­pflichtungen aus der grundlosen Entlassung Loebs entstehen könn­ten. So wurde schließlich der Weimarer Leiter der Staatsanwalt­schaft Frieders, welcher erst 1922 von Trier nach Thüringen gekom­men war, in diese Aktionen einbezogen. Ihm wurde vorgeworfen, in dem Ermittlungsverfahren gegen Loeb einen Meineid geleistet zu ha­ben. Die bösartigen Angriffe erreichten ihren Höhepunkt, als die Völkischen öffentlich behaupteten, dass der Staatsanwalt der frü­here „Jude Friedländer“ sei.
Der Prozess in dieser Sache führte zu Frieders‘ fragwürdiger Verur­teilung wegen fahrlässigen Falscheides. Auch die weiteren Verfah­ren zur Aufhebung dieser Entscheidung belegen, dass sich bereits damals Gerichte zum willfährigen Werkzeug der Thüringer Rechtsre­gierung machen ließen. Schließlich wurde Revision vor dem Reichs­gericht eingelegt, welche Martin Drucker für den Staatsanwalt Frieders vertrat. Am 11.01.1927 wies das Reichsgericht die Revision zurück. Nachdem auch mehrere Wiederaufnahmeanträge scheiterten, gab es für Frieders keine Hoffnung mehr, seine angegriffene Ehre wieder herzustellen, obwohl die Thüringer Rechtsregierung mit den Wahlen vom 30.01.1927 ihr vorläufiges Ende gefunden hatte. Der Ber­liner Staatswissenschaftler Prof. Ignatz Jastrow hat es deshalb unternommen, die völlige Unhaltbarkeit der Beschuldigungen gegen Frieders akribisch zu begründen und öffentlich zu machen.[12]

3.6. Der Fall Richard Tempel

Die Vertretung des Präsidenten der Sächsischen Landesversicherungs­anstalt Richard Tempel durch Justizrat Drucker und Rechtsanwalt Nathanson in einem Ende 1930 durchge­führten Disziplinarverfahren verdient schon inso­weit eine geson­derte Erwäh­nung, weil bereits damals die national­sozialistische Presse dieses Verfahren nutzte, um die beiden „jüdischen“ Anwälte in unflä­tigs­ter Weise zu diffamieren.[13]   Alle bekannten antisemitischen Vorur­teile wurden hier wiederholt: die krampfhafte Verdrehung der kla­ren gesetzlichen Bestimmungen durch den jüdischen Verteidiger und das angeblich horrende Hono­rar, welches der Justizrat für seine „Bemühungen“ erhalten soll. Beson­ders ausfällig wurde der mit „Me­phisto“ (!) zeichnende Autor wegen der Tatsache, dass Justizrat Drucker doppelt verschwägert sei mit dem sächsischen Justizminis­ter Dr. Mannsfeld. Diese Ver­wandt­schaftsverhältnisse haben auch später immer wieder den ganz beson­deren Zorn der Nationalsozialis­ten erregt. Der in der Anwaltschaft hoch angesehene Leipziger Rechtsanwalt war es, wie dieses Beispiel besonders krass zeigt, bereits vor 1933 ge­wöhnt, antisemitischen Angriffen ausgesetzt zu sein.

3.7. Publikationstätigkeit

Auch auf dem Gebiet des Strafprozesses beließ es Martin Drucker nicht bei der reinen Anwaltstätigkeit, sondern meldete sich auch wiederholt in der einschlägigen Fachpresse zu Wort.
Als im Jahr 1909 die Universität und die Stadt Leipzig des 500. Jahrestages der Gründung der alma mater lipsiensis gedachte, legte die Juristische Gesellschaft Leipzig eine Festschrift[14] vor.
Neben namhaften Juristen wie Adelbert Düringer und Johannes Mit­tel­staedt hat sich auch Martin Drucker mit dem Aufsatz „Die Ver­teidi­gung nach dem Entwurfe der Strafprozessordnung“ an dieser Pub­lika­tion beteiligt.
Im September 1908 war der Entwurf der neuen Strafprozessordnung amt­lich bekannt gemacht worden. Es ist ein wahrer Genuss noch heute zu lesen, mit wieviel humorvoller Ironie sich Drucker hier mit der weitgehenden Rechtlosigkeit des neu eingeführten „Verdäch­tigen“ – ganz im Unterschied zum „Beschuldigten“! – auseinander­setzt. Gegen eine Vorverurteilung des Beschuldigten und gegen die Be­schneidung von prozessualen Rechten der Verteidigung wandte sich der Leipziger Rechtsanwalt vehement nicht nur in diesem Aufsatz, sondern auch später immer wieder in anderen Veröffentlichungen, insbesondere natürlich in der Juristischen Wochenschrift.[15]
Die Gruppe der Strafverteidiger im DAV wählte Drucker zu ihrem Vor­sitzenden, so dass er auch in dieser Position die Interessen sei­ner Kollegen vehement in der Öffentlichkeit vertrat.

3.8. Der Wirtschaftsjurist

Die ju­ris­tische Kompetenz Martin Druckers erschöpfte sich jedoch keines­falls im Marken- und Strafrecht. Zentraler Schwerpunkt der Anwalts­kanzlei, zu der seit März 1919 neben Dr. Kurt Eckstein auch der jü­dische Rechtsanwalt Dr. Erich Cerf gehörte, waren vielmehr wirt­schaftsrechtliche Fragen und Probleme im umfassendsten Sinne.
Justizrat Drucker wurde wegen seines anerkannten Sachverstandes be­reits sehr früh in verschiedene Vorstände und Aufsichtsräte von Leipziger Unternehmen berufen. Hierzu gehörten auch ein führender Konzern der Kosmetikbranche, die Spe­di­tion Eitner und natürlich mehrere Rauchwarenfirmen. Hier muss das Engagement Druckers für die Chaim Eitingon AG und deren Tochtergesellschaft, die Kurt Wachtel AG, besonders genannt werden. Aber auch für das renom­mierte Unter­nehmen Harmelin war der Leipziger Anwalt über viele Jahre bera­tend tätig. Bis zuletzt war Drucker auch im Aufsichtsrat der Leipziger Allgemeinen Deutschen Creditanstalt (ADCA) tätig.

3.9. Ehrengerichtsverfahren

Frühzeitig beschäftigte er sich darüber hinaus auch mit Fragen des Standesrechts und übernahm die Vertretung von Kollegen in Ehrenge­richtsverfahren. Belegt ist u. a. die Vertretung von Max Alsberg im Jahr 1913 vor dem Ehrengerichtshof der deut­schen Rechtsanwälte beim Reichsgericht. Der namhafte Berliner Strafverteidiger wurde im Ergebnis der mündlichen Verhandlung im Reichsgericht am 11.10.1913 freigesprochen.
Als dem Leipziger Geschäftsführer des Börsenvereins Kurt Runge 1926 die Zulassung zur Anwaltschaft versagt wird, übernahm Drucker auch dessen Vertretung. Er erreichte vor dem Ehrengerichtshof die Aufhebung dieser Entscheidung, weil tatsächlich kein Versagungs­grund gemäß § 5 Ziff. 4 RAO vorlag.

4. Sprach- und musische Begabung

Neben seinem herausragenden juristischen Scharfsinn ver­fügte Mar­tin Drucker wie sein Vater aber auch über mu­si­sche und ausge­prägte sprachliche Begabung. So bril­lierte er zur Überraschung seiner Zu­hörer des Öfteren in sponta­ner freier Rede in lateini­scher und griechischer Sprache.
Als einer der ihm auf diesem Gebiet ebenbürtigen Gesprächspartner kann der in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts weit über Leipzigs Grenzen berühmte Leipziger Strafverteidiger Kurt He­zel angesehen werden. Dieser Kollege hatte einen Stammtisch von Literaten und Künstlern, die Bungonen, gegründet. Drucker war ak­tives Mitglied dieser Gemeinschaft, welcher auch der namhafte Li­teraturwissenschaftler Georg Witkowski angehörte. In seinen jetzt öffentlich zugänglichen Erinnerungen[16] ist nachzulesen, wie es bei diesen Stammtischen im Leipziger Ratskeller jeden Donnerstag nach dem Gewandhauskonzert zuging. Hiernach flogen die Reden von allen Seiten „geladen mit kühnen Gedanken und oft in deutschen, noch öf­ter in lateinischen und griechischen Versen.“
Im Nachlass Druckers ist eine handschriftliche Einladung Hezels vom 01.10.1919 zu den Zusammenkünften mit folgendem Inhalt über­liefert: „Bungonen versammeln sich heute Donnerstag 2. Okt. voll­zählig 9 Uhr Abends bei Kitzing & Helbig, Petersstraße, zwecks endgültiger Bestimmung der Sitzungsstätte. Ausbleiben strafbar! – Hezel“
In einem Nachruf[17] wird Kurt Hezel als der Mann bezeichnet, welcher die Brücke schlug zwischen Kunst und Recht. Der Vertraute und Ver­teidiger von Frank Wedekind, Richard Dehmel und Otto Erich Hartle­bens war „der juristische Mittelpunkt des künstlerischen Deutsch­lands“. Seine beispiellose geradezu sprachschöpferische Beredsam­keit wurde von Martin Drucker zeitlebens in hohen Ehren gehal­ten.[18]
In einer geradezu euphorischen Lobpreisung hob der Kollege Hans Bachwitz im Leipziger Tageblatt vom 1. Februar 1925 hervor, dass Justizrat Drucker auch als treff­licher Kenner des englischen und des französischen Rechts gel­te. Er sei aber auch „ein heiterer Ge­sellschafter und liebens­würdiger Intellekt, dessen Witz stadtbe­kannt ist. Man könnte ihn für einen Schriftsteller von Rang hal­ten, für einen ironi­schen Phi­losophen voll Güte und Men­schen­kenntnis.“

Im Jahr 1919 wurde Justizrat Drucker schließlich auch das Notariat verliehen. Die notarielle Tätigkeit bedeu­tete na­türlich auch da­mals bereits, insbesondere nach dem Tod des Vaters, eine bessere finan­zielle Absicherung der Kanzlei Drucker, Eckstein, Cerf.

5. Martin Drucker und der Deutsche Anwaltverein

Bereits für Martin Drucker sen. gehörte es zur Selbst­ver­ständ­lich­keit, sich über die eigenen beruflichen In­teres­sen hinaus auch für die gemeinsamen Belange der An­walt­schaft zu engagie­ren. Wie be­reits der Vater, gehörte der Sohn dem Vor­stand des Leipziger An­waltvereins (LAV) an.
50 Jahre nach der Vereinsgründung wurde in der aus die­sem Anlass er­schienenen Festschrift[19] hervorgehoben, dass der Vor­stand des LAV be­sonders stolz darauf ist, dass die beiden Druckers in so inten­siver Weise an dessen Ent­wicklung be­teiligt waren.
Wörtlich heißt es dann: „Mit ganz besonderer Genugtuung erfüllt es den Leipziger An­waltverein, … dass es unse­rem Verein ver­gönnt war, dem deut­schen Anwaltstande in Justiz­rat Dr. Drucker den op­ferwilli­gen und erfahrenen Führer von durchdringendem Verstande und nie er­müdendem Sinn für die Ideale unseres Beru­fes zu präsen­tieren.“
Acht Jahre vor der Gründung des LAV hatte sich im Jahr 1871 im Haus der Koncordia in Bamberg der Deutsche Anwaltverein (DAV) ge­gründet, welcher bis 1932 seinen Sitz in Leipzig hatte.
In dem Maße, in dem sich die materielle Lage vieler deut­scher An­wälte verschlechterte, wurde der Ruf laut, dass der DAV sich stär­ker für die Interessen der Anwalt­schaft ein­setzen möge. Einen ge­wissen Höhepunkt erreichten diese Debatten auf dem An­waltstag in Mannheim im Jahr 1907. Martin Drucker wurde der Vor­sitz in dem neu gegründeten Geschäftsausschuss übertragen, welcher für die einge­hende Aufklärung über die Bedeutung und Tragweite des Gesetzent­wurfs, betreffend die Justizreform, gebildet wurde.
Es sollte u. a. die Zu­ständigkeit der Amts­gerichte erweitert wer­den, was die Lage der Anwälte, welche in Preußen und Bayern nur am Amtsgericht zugelas­sen waren, entscheidend hätte verbessern kön­nen. Dabei ging es in der Gesetzgebungsphase auch um die Frage, ob die Kammern der Amts­ge­richte künftig mit Ein­zelrichtern besetzt oder als Kollegialge­richte tätig werden sollten. Auf dem An­waltstag in Mannheim hielt Rechtsanwalt Dr. Max Hachenburg ein Grundsatzreferat über die Lage der deutschen Anwaltschaft. Als we­nige Wochen später der Gesetzesent­wurf der Regierung ver­öffent­licht wurde, musste die Anwaltschaft zur Kenntnis nehmen, dass dieser keinerlei Rücksicht auf die Be­schlüsse des An­waltstages nahm. Daraufhin wurde ein au­ßerordentlicher Anwaltstag nach Leip­zig einberufen. Hier sprach Max Hachenburg erneut und unterbrei­tete ge­meinsam mit Rechtsanwalt Hin­richsen aus Güstrow eine ent­spre­chende Resolu­tion, die angenom­men wurde. Auch diese Beschlüsse waren wiederum für die von der Reichs­re­gierung dem Reichstag vor­gelegte Novelle zur Gerichts­ver­fassung und zur Zivilprozessordnung ohne Auswirkungen. Die deut­sche Anwalt­schaft, gespalten in Amtsge­richts- und Land­gerichtsan­wälte, fühlte sich durch die Nichtbe­ach­tung ihrer Meinung brüs­kiert.
Diese Tatsache und die immer weiter wachsende Not der deutschen An­waltschaft führte zwangsläufig zu einer Veränderung des Selbst­ver­ständnisses des DAV, der aus seiner jahrzehntelangen vornehmen Zu­rückhaltung erwachte und die Sicherung der materi­ellen Basis seiner Mitglie­der mehr in den Vordergrund stellen musste. Die somit dringend notwendige straffere Organisation und Umpro­fi­lierung des DAV verlangte eine Umbesetzung sei­nes Vorstandes, in welchem bislang hauptsächlich die Reichs­ge­richtsanwälte, als die Elite des Standes, vertreten waren. Der DAV brauchte aber zur Lö­sung der dringlichsten Probleme der deutschen Anwaltschaft keine „vornehmen Re­präsentan­ten“, die weit entfernt von den Problemen der Kollegen im Lande wa­ren. Er benötigte vielmehr Vertre­ter, die die Sorgen und Nöte ihrer Kol­legen kannten und teilten und demzu­folge bereit waren, für de­ren Beachtung in der Öffentlichkeit mit aller Kraft zu kämp­fen.
Zur Bewältigung dieser Probleme standen auf dem XIX. An­waltstag 1909 in Rostock endgültig Ent­scheidungen zur umfassenden Reform des DAV an. In dieser Um­bruchsituation wurde der 40-jährige Martin Drucker als ein aus der Sicht der deut­schen Anwaltschaft geeigne­ter Vertreter erst­mals in den Vor­stand des DAV gewählt. Er hatte die Hochachtung der Teil­nehmer des Anwaltstages mit einer in Vor­bereitung des Anwaltstages erschienenen Broschüre über die damals disku­tierte Strafprozessreform erworben, die laut Friedländer „ein Mus­ter von Scharfsinn und praktischem Weitblick war.“ Von ihm ist in diesem Zusammenhang folgende Anekdote über­liefert: Der Berliner Kollege von Gordon, welcher Drucker schon aus der gemeinsamen Ver­teidigertätigkeit um den Leipziger Banken­zusammenbruch kannte, sagte auf dieser Versammlung, dass er ges­tern Abend im Bett eine sehr vergnügte Stunde gehabt habe. Schal­lende Heiterkeit im Audi­torium über ein solch offenherziges Ges­tändnis war die Folge. Der Redner fuhr, nachdem sich die Lachsalve gelegt hatte, fort: „Ich habe nämlich im Bett die Broschüre des Kollegen Drucker gelesen.“[20]
Auch Hachenburg, Adolf Heil­berg und Conrad Haußmann wurden zu neuen Vor­stands­mit­gliedern be­stimmt. Gleichzeitig wurde die Posi­tion eines Geschäftsführers des DAV neu geschaffen, in welche Heinrich Dittenberger gewählt wurde. Eine weitere maßgebliche Sat­zungs-änderung wurde 1909 da­durch vorgenommen, dass die Vertreter­versammlung neu eingeführt wurde. Dieser war seitens des Vorstan­des der Haushalts­plan vorzule­gen, sie entschied über die Mit­gliedsbeiträge und sie wählte auch den Vorstand. Diese Re­form si­cherte in den kommenden Kriegs- und Inflationsjahren das Überleben des Deutschen Anwalt­vereins.
Nach dem Anwaltstag in Rostock schied Drucker aus dem Vor­stand des LAV aus und widmete sich von diesem Zeitpunkt an mit seiner ganzen Kraft den Interessen der deutschen Anwaltschaft. Drucker übernahm im Vorstand zunächst das Amt des Schriftführers. An der mit dem Anwaltstag in Rostock 1909 in Angriff genommenen Umprofilierung des DAV hatte er von Anfang an maß­geblichen Anteil.
Ein Jahr später übernahm er den Vorsitz in dem neu eingerichteten Vorstandsausschuss für Strafrecht und Strafprozessrecht. In dieser Position hat Drucker die Interessen der deutschen Strafverteidiger in den jahrelangen Diskussionen um die Reform des Strafprozesses vehement und nachdrücklich vertreten.[21]
Der DAV wurde seit dieser Zeit immer mehr zum wirklichen Inter­es­senvertreter der deut­schen Anwaltschaft. Das war durch die grundle­gende Verlagerung der Schwerpunktaufga­ben des DAV mög­lich, die in der Folge auch zu einem er­heblichen Anstieg der Mitglieder­zah­len führte.
Mit der Neuwahl des Vorstandes trat Julius Haber[22], ein am Leipzi­ger Reichsgericht zugelassener Kollege, an die Spitze des DAV.
Eine besondere Rolle bei der Neuprofilierung des DAV hat die von dem unvergesse­nen Freund Druckers Julius Magnus hervorra­gend be­treute Juristi­sche Wochenschrift gespielt. Martin Drucker hat der Juristischen Wochenschrift als dem Sprachrohr des DAV seine ganz besondere Aufmerk­samkeit gewid­met.
1920 wurde Martin Drucker zum Stellvertreter des Vorsit­zenden und schließlich 1924 zum ersten Vorsitzenden ge­wählt. Diese Position erhielt später die Bezeichnung Prä­sident. Im Jahr 1923 legte Dru­cker im Auftrag des Deutschen An­walt­vereins dem Reichsjus­tizmi­nister einen Gesetzentwurf vor, welcher die Zu­lassung der An­walt­schaft zur Vertre­tung vor den Verwaltungsge­richten regeln sollte. Dieser Entwurf konnte da­mals jedoch nicht durchgesetzt werden. Zu dieser Zeit gehörte es keinesfalls zur Selbstverständ­lich­keit, dass der Anwalt als berufsmäßiger Parteivertreter über­all und aus­nahms­los tätig werden konnte. Der damalige Stell­vertre­ter des Vor­sitzen­den des DAV hat für die Durchset­zung dieses Grundsat­zes im­mer wie­der gestritten und so Pionierarbeit für das heutige Ver­ständnis an­walt­licher Berufsausübung ge­leistet.
Mit der „Renaissance von 1909“ wuchsen jedoch auch die Aufgaben des Vorstandes. In der Vorzeit war der Gesamt­vorstand nur spo­ra­disch zusammengekommen. Jetzt musste zwangsläufig ein engerer Leipziger Vorstand gebildet werden, der fast wöchentlich tagte. Für eine Sit­zung des Gesamtvorstandes mussten regelmäßig zwei volle Tage ein­ge­plant werden. Der Vorstand musste aber nicht nur wegen der Häufung der Aufga­ben, sondern vielmehr deswegen erheb­lich erweitert werden, weil er zahlreicher werdende, unterschied­lichste Interes­sen­gruppen innerhalb der Anwaltschaft zu vertre­ten hatte. Der Vorstand war immer wieder gezwungen, zwischen den sehr hart ge­führ­ten Aus­einan­dersetzungen zwischen Landgerichts- und Amtsge­richtsan­wäl­ten zu schlichten.
Es war bei der zunehmend schwieriger werdenden Lage für den Vor­stand kaum möglich, die hochgeschraubten Erwar­tungen der Vereins­mitglieder zu befriedigen, welchen die tagtägliche Ar­beit der DAV-Führung weitestgehend verbor­gen blieb. In der Folge trafen manch­mal harte und ungerechte Vorwürfe die Leipziger Mitglieder des Ver­einsvorstandes.
Durch Hachenburg[23] ist folgende Anekdote aus dieser Zeit über­lie­fert: „Dittenberger hat ein Töchterchen von sieben Jahren. Das fragte ihn, wohin er geht und was geschieht. Der Vater nannte dem Kinde die Namen der bekannten Leipziger Her­ren: ‚Erst spricht Dr. Dru­c­ker, dann Dr. Hahnemann, dann Dr. Brücklmaier, dann ich.‘ – ‚So,‘ unterbrach ihn die Kleine, ‚Ihr redet. Ich habe geglaubt, Ihr ar­beitet.'“
Martin Drucker meldete sich in diesen Jahren als Vor­standsmit­glied des DAV wiederholt und energisch zu Wort, weil er die freie Be­rufsausübung der Anwaltschaft be­droht sah. Schon auf dem An­waltstag 1894 hatte sich die deutsche Rechtsan­walt­schaft mit der Frage einer möglichen Zulas­sungsbeschränkung ausein­andergesetzt, nachdem in Folge der Freigabe der Advocatur 1879 die Zahl der zu­gelasse­nen Rechtsanwälte sprunghaft gestie­gen war. Der An­waltstag schloss sich dem vorgelegten Gutachten an und sprach sich damit gegen jegliche Zulassungsbeschrän­kun­gen aus. Die Diskussion um die Einführung eines numerus clau­sus war je­doch kei­neswegs ad acta ge­legt. Auch die Anwaltstage 1905 und 1907 befass­ten sich ein­gehend mit dieser Thematik und spra­chen sich gegen ei­nen numerus clausus aus. Im Jahr 1911 überstieg die Zahl der in Deutschland zugelasse­nen Rechts­an­wälte erstmals die 10.000er Grenze. Der An­waltstag in diesem Jahr hatte sich demzufolge auch mit der Grundsatzfrage zu be­fassen: „Empfehlen sich ge­setz­geberische Maßnahmen gegen eine Überfül­lung des Anwalts­standes?“ Dem energischen Auftreten des da­maligen DAV-Prä­sidenten Julius Haber und des namhaftesten Standes­rechtlers Max Friedländer war es zu ver­dan­ken, dass sich der An­waltstag in Würzburg gegen die Ein­füh­rung eines numerus clausus aussprach, weil alle derarti­gen Maß­nah­men für „unnötig und im In­teresse der Rechtspflege und des Standes für schädlich“ gehalten wurden. Nachdem Martin Drucker an die Spitze des DAV getreten war, sollte sich an der von seinen Vorgängern vertretenen Auffassung zum numerus clausus nichts ändern.
Als jedoch der namhafte Berliner Anwalt und spätere Nachfolger Druckers als DAV-Präsident Rudolf Dix auf dem Anwaltstag 1927 in einer mit viel Beifall bedachten Rede erstmals den Stand­punkt ver­trat, dass Freigabe und Frei­heit der Advocatur keines­falls in ei­nem untrennbaren lo­gischen Zusammenhang ständen, zeichnete sich ein Um­schwung in der herrschenden Meinung der DAV-Mitglie­der ab. In der 1928 anlässlich des 70. Geburtstages von Adolf Heilberg für diesen herausgegebenen Fest­schrift trafen die konträren Auffassun­gen von Dix und Drucker aufeinander.
Während Dix seine auf dem Anwaltstag im Vorjahr bereits artiku­lierte Argumentation der Trennung von Freigabe und Freiheit der Ad­vocatur wiederholte und ausbaute, sprach Drucker in sei­nem Bei­trag[24] die Hoffnung aus, dass die Beschlüsse des An­waltsta­ges von Würzburg Bestand haben werden:
„In noch schwererer Stunde hat die ausgleichende und eini­gende Seele des Gesamtkörpers sich bejaht, als vor andert­halb Jahr­zehn­ten das Numerus-Fieber im Anwalts­stande um sich griff. Da­mals war in einigen Bezirken schon das be­denkliche Symptom der Bildung von Son­der­gruppen aufgetre­ten, die sich ausschließ­lich unter dem Feld­ge­schrei „Schließung des Standes“ zusammen­fanden, als noch recht­zei­tig die Leitung des Deutschen Anwalt­vereins die kontra­diktori­sche Verhandlung der Einzel­mitglieder herbei­führte. Der Würzburger An­waltstag ent­schied gegen den nu­merus clausus. Dieser Beschluss, ge­gen den die Anwaltschaft ein Wie­deraufnahmeverfahren ohne Bei­brin­gung neuer Tatsachen und Be­weismittel nie­mals zulassen wird, wäre nicht zu­stande gekom­men, wenn die Anhänger der streitenden Ansich­ten sich in Ten­denz­ver­einen gegeneinander organisiert hät­ten. Wett­rüsten be­deutet dau­ernde Friedensbedrohung auch im Reiche des Gei­stes und des Glaubens.“
Bis zum Ende seiner Amtszeit hat sich der Präsident des DAV im­mer wieder vehement gegen jegliche Zulas­sungsbeschränkungen ausge­spro­chen, weil diese nach sei­ner Auffassung zwangsläufig mit der Ein­schränkung der Freiheit der Advocatur verbunden sein müssten.
Die Tätigkeit im Deutschen Anwaltverein hatte jedoch auch un­mittel­bare Rückwirkungen auf das Profil der An­waltskanzlei Mar­tin Druc­kers. Immer häufiger wurde er von Kollegen in Fragen des Stan­des­rechts um Rat und Hilfe gebeten. Auch wenn er in dieser Materie nicht so stark schriftstellerisch hervortrat wie z. B. Max Fried­länder[25], hatte seine Meinung in Standesfragen für die deutsche An­waltschaft besonderes Gewicht.
Als während der Inflation die Frage der Reformation der Gebühren­ordnung auf der Tagesordnung stand, hat sich der DAV-Vorstand un­ter Druckers Führung dafür eingesetzt, diese Regelung vollständig abzuschaffen und die freie Vereinbarung des Honorars den Anwälten selbst zu überlassen.
Ein kollegialer Rat, den Drucker einem Kollegen bereits im Jahr 1930 zu einer Standesfrage erteilt hatte, sollte nach 1933 natio­nal­sozialistischen Anwälten ein willkommener Vorwand sein, um den Leipziger Rechtsanwalt auszuschalten. Hierauf wird spä­ter noch aus­führlich zurückzukommen sein.
Bereits zu Beginn der 20er Jahre entbrannte unter den Mitglie­dern eine leidenschaftlich geführte Diskussion um die Verlegung des Sitzes des DAV von Leipzig nach Berlin. In der Inflations­zeit überstürzte sich die Gesetzgebung und viele Kollegen hoff­ten, dass eine größere Nähe des DAV-Vorstandes auch einen größe­ren Einfluss der deutschen Anwaltschaft auf die Regierung und das Parlament bringen könnte.
Auf dem außerordentlichen Anwaltstag 1925 in Berlin spitzte sich die Debatte auf sehr unangenehme Weise zu. Die zahlreich vertre­tenen Berliner Kolle­gen ver­suchten, das Gremium für poli­tische Dis­kussio­nen zu missbrauchen. Es bedurfte des energischen und ge­schick­ten Eingreifens seitens des Präsidenten Drucker, damit der An­waltstag nicht zum völligen Fiasko geriet.
Manche Teilnehmer, wie auch Hachenburg, änderten damals ihre Mei­nung und kamen zu dem Schluss, dass es schon seinen guten Grund und Sinn habe, dass Berlin nicht Sitz des DAV sei. Trotz­dem ende­ten die Auseinandersetzungen um die Sitzverlegung auch nach diesem An­waltstag nicht.
Aus dem erhalten gebliebenen Briefwechsel des DAV-Präsidenten mit dem Ber­liner Kollegen Albert Pinner im Jahr 1928[26] ist zu entneh­men, mit welchen sachlichen Argu­menten sich Druc­ker bereits damals im Interesse der gesamten deut­schen An­waltschaft gegen eine Sitz­verlegung nach Berlin wandte.
Als Martin Drucker im Oktober 1929 seinen 60. Geburtstag be­ging, war das Anlass, ihm für seine Verdienste um den Deutschen Anwalt­ver­ein mit einem öffentlichen Glückwunsch­schreiben auf der Titel­seite der Juristischen Wochen­schrift[27] zu danken. Die im Original auf Per­gament geschriebene Ehrung wurde von allen Vorstandsmit­gliedern un­terzeichnet und dem Jubilar feierlich überreicht.
Die Berliner Kollegen nutzen allerdings sogar diesen Anlass, um den Präsidenten des DAV wegen seiner ablehnenden Haltung zur Sitz­verlegung sachlich ungerecht anzugreifen. Pinner behauptet in ei­nem Aufsatz zu Druckers 60. Geburtstag, dass dieser keine sach­li­chen Gründe, sondern nur eine Antipathie gegen Berlin habe.[28]
Im April 1932 wurde die Ver­legung des Sitzes des DAV von Leipzig nach Berlin be­schlossen. Drucker hat deshalb wie angekündigt seine Wiederwahl abgelehnt.
Dass die Tätigkeit des DAV-Vorstandes immer wieder mit heftigen emotionalen Auseinandersetzungen verbunden war, belegt ein weite­rer Vorgang aus dem Jahr 1932[29]. Der Berliner Rechtsanwalt Soldan hatte am 07.03.1932 an Justizrat Schatz als Mitglied des DAV-Vor­standes einen verleumderischen Brief geschrieben. Hiernach sollte sich Justizrat Schatz von anderen Vorstandmitgliedern, insbeson­dere dem Präsidenten, missbrauchen lassen. Schatz wird als gewis­senlos bezeichnet, weil er eine handgreifliche Lüge nicht nach­prüfe und seine Mitwirkung zu ihrer Verbreitung verweigere. Soldan droht, dass über die Ehrenhaftigkeit der Vorstandmitglieder „in Gerichtsverhandlungen, Versammlungen und Drucksachen“ Beweis erho­ben werden solle. Die Beschuldigten beantragen bei der zuständigen Rechtsanwaltskammer wegen dieser Vorwürfe umgehend ehrengerichtli­ches Einschreiten gegen sich selbst. Da die Behauptungen Soldans greifbar ohne jeden Anhalt waren, wurden diese Verfahren ohne Er­gebnis eingestellt.
Drucker war stets bemüht, sich die Betroffenheit von derartigen persönlichen Angriffen in der Öffentlichkeit, aber auch in der Fa­milie nicht anmerken zu lassen. Trotzdem blieb er hiervon natür­lich nicht vollkommen unberührt. Die Bemerkung in den Erinnerungen Friedländers, wonach der Präsident einmal einen Nervenzusammen­bruch erlitten habe, deutet darauf hin.
Trotz der jahrelangen Kontroversen, insbesondere mit der Ber­liner Anwaltschaft, welche Drucker zu den „trübsten Erfahrungen seiner Amtszeit“ zählte, wurde er auf Grund sei­ner außeror­dent­li­chen blei­benden Verdien­ste um den Deutschen Anwaltverein und den gesam­ten Berufsstand von der Abgeordnetenversammlung einstimmig zum Eh­renprä­sidenten mit Sitz und Stimme im Vorstand des DAV ernannt.
Daraufhin erhielt Martin Drucker ein Schreiben der Sächsischen Rechtsanwaltskammer, in welchem der Vorstand seinen Dank aus­spricht. Wörtlich heißt es dann:
„Es bleibt der Stolz der Sächsi­schen Anwaltschaft, dass un­ter Ih­rer Leitung der Deutsche Anwalt­verein sich zu einer achtungsge­bieten­den Höhe entwickelt hat; nicht zum wenig­sten Ihr Ver­dienst ist es, dass er aus einer bloßen Zusam­menfassung der Be­rufsgenossen zu ei­nem le­bendigen Körper ge­worden ist.“
Max Hachenburg gibt in seinen Memoiren[30] seine persönli­chen Er­in­ne­rungen an den hochgeschätzten Freund und Kol­le­gen aus der Zeit der Präsidentschaft Druckers im Deut­schen Anwaltverein wie folgt wie­der:
„Er besitzt nicht die abgeklärte Ruhe Habers, nicht die Konzi­lianz Kurlbaums, dafür aber eine rastlose Arbeits­kraft, eine unbeugsame Energie und einen scharfblicken­den, rasch zugreifen­den Verstand. Ich habe niemanden ge­troffen, der mit solcher Schlagfer­tigkeit und, wenn nötig, mit ei­ner guten Dosis Ironie eine Ver­sammlung leitet …“
Der Münchner Vorstandskollege Max Friedländer kommt in seinen Er­innerungen wiederholt auf Drucker zurück. Seine Aussagen sind al­lerdings nicht so unkritisch, teilweise aber in sich widersprüch­lich. So schreibt er im Zusammenhang mit dem notwendigen Wechsel im Vor­stand aus Anlass der Sitzverlegung:
„Wir besaßen in Drucker eine Persönlichkeit, deren überragende Qualitäten, deren unüber­treffli­che Sach- und Personenkenntnis nicht so leicht zu ersetzen waren.“
An früherer Stelle hatte er den Leipziger Kollegen als den „bedeu­tendsten Kopf, den wir in der Anwaltschaft damals hatten“ und „wohl einer der vielseitigsten und feinsten Köpfe, die die deut­sche Anwaltschaft bisher hervorgebracht hat“ bezeichnet. Dann jedoch beschreibt er an anderer Stelle aus seiner Sicht „ei­nen Kardinalfehler Druckers: er war zwar ein geistig überragender, äußerst gewandter, aber kein guter Vorsitzender, weil ihm die äu­ßere Ruhe und wirkliche Objektivität fehlte. Er nahm immer und meist sichtbar Partei, oft nur durch einen Witz zeigend, wo er stand, und seine ironische Art reizte seine Gegner, namentlich diejenigen, die ihm geistig in keiner Weise gewachsen waren.“
In der Auseinandersetzung um das Verhältnis zur Richterschaft wirft Friedländer dem DAV-Präsidenten vor, in seiner Position ei­nen Skandal, der durch die überspitzte Kritik eines Kollegen ent­standen war, nicht abgewendet zu haben.
Erklärbar werden diese Aussagen wohl im Wesent­lichen durch die ab­weichende Wesensart der beiden Vorstandskolle­gen. Friedländer suchte die Harmonie und den Kompromiss, während Drucker seine Auf­fassung klar und deutlich gegen abweichende Auf­fassungen vertrat. Das tat er auch dann, wenn eine Mehrheit gegen seine Meinung stand. Von dem DAV-Präsidenten Drucker war keine neutrale oder un­parteiische Haltung zu erwarten und dazu war er wohl auch nicht verpflichtet. Es ist nicht überliefert, dass sich Martin Drucker einmal über die Mehrheitsmeinung des Vorstandes hinwegge­setzt hätte. Die Tatsache, dass er nach seinem Ausscheiden aus dem DAV-Vorstand per Akklamation zum ersten und bis heute ein­zigen Ehren­präsidenten gewählt wurde, widerlegt wohl faktisch die zumindest punktuell negative Bewertung Druckers durch Friedländer.
Für die nächsten 13 Jahre war der Leipziger Rechtsanwalt Martin Drucker von jeglicher aktiver Anteilnahme an den Standesinter­essen der deutschen Anwaltschaft ausgeschlos­sen.
Seinen weltanschaulichen Überzeugungen entsprechend hat sich Mar­tin Drucker, wie seine Frau Margarethe, über viele Jahre auch po­litisch engagiert. So war er von 1919 bis 1926 Mit­glied der Deut­schen Demokra­tischen Partei, in welcher er vor seiner Wahl zum Präsidenten des DAV auch sehr aktiv tätig war. Im Jahr 1926 er­klärte er sei­nen Aus­tritt, weil sich die Partei­füh­rung wie­derholt bei Abstimmungen im Reichstag aus taktischen Mo­ti­ven von den Grundsätzen des Parteipro­gramms entfernt hatte. Martin Druckers Gespür für die politi­schen Verhältnisse wurde in der Zeit seiner Zuge­hö­rigkeit zur DDP und durch seine Erfahrungen als DAV-Präsi­dent ent­scheidend geschärft. Bereits im No­vem­ber 1932 war für ihn klar, dass die Machtübernahme durch die Nazis unmit­telbar bevor­stand. Hinden­burg hatte dem Leipziger Oberbürgermeis­ter Görde­ler zu dieser Zeit angeboten, Reichskanzler zu werden. Dieser hatte jedoch das Verbot der NSDAP zu seiner Be­din­gung ge­macht. Die Abendzeitungen meldeten dann, dass von Schleicher zum Reichskanz­ler bestimmt worden war.[31]

6. Diskriminierung, Verfolgung, Berufsverbot

Kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsoziali­sten ver­lor der jüdische Sozius Erich Cerf das Notariat und seine Zulassung als Rechts­anwalt. Weil Martin Drucker ihn und den Referendar Dr. Fritz Grübel trotzdem weiter be­schäf­tigte, wurde er scharf ange­griffen[32].
Im Zusammenhang mit dem Boykottaufruf der Nationalsozia­li­sten am 1. April 1933 wurde Martin Drucker im Landge­richt Chemnitz wäh­rend einer Verhandlung in „Schutzhaft“ genom­men. Der in der „Frankfurter Zeitung“ vom 4. April 1933 erschienene Bericht über diesen Vorgang gibt ein weiteres Mal einen Eindruck von der souve­rä­nen Haltung des Leipziger Rechtsanwalts selbst in dieser Ausnah­mesi­tua­tion.
Die in Berlin weilende jüngste Tochter Renate war, nach­dem sie die Nachricht von der Verhaftung ihres Vaters im Radio gehört hatte, höchst beunruhigt und versuchte ver­geblich, Familien­mitglieder, Leipziger Freunde und das Anwaltsbüro telefonisch zu erreichen, um Näheres zu er­fahren. Margare­the Drucker befand sich zu diesem Zeit­punkt – wie immer am Wochenende – in Großbo­then. Da sie tele­fonisch nicht er­reichbar war, eilten Kollegen und Freunde, die von der Ver­haf­tung Druckers hör­ten, auf schnellstem Wege dorthin, um ihr bei­zustehen und zu beraten, was zu tun sei. Als sie dort anka­men, tra­fen sie zu ihrer Überraschung auch den Justizrat an. Der sofort einsetzende internationale öf­fentliche Pro­test hatte die neuen Machthaber veranlasst, den Ehren­präsi­denten des Deutschen An­waltver­eins sehr schnell wie­der auf freien Fuß zu setzen. Sogar die „New York Evening Post“ hatte am 3. April 1933 über den Vor­gang auf der Ti­telseite berich­tet. Es war sehr typisch für den rücksichtsvollen Martin Drucker, dass er seiner Frau von der Ver­haf­tung in Chemnitz überhaupt nichts gesagt hatte und diese die unheilvolle Nachricht deshalb erst im Nachhinein von den beunru­higten Besu­chern er­fuhr.
Auch wenn zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen konnte, was die näch­s­ten zwölf Jahre bringen würden, hat der reali­sti­sche Sinn Druckers für das, was nach der im Januar 1933 erfolgten Macht­übernahme be­vorstand, vielleicht manchen das Le­ben ge­ret­tet. Hierzu gehört auch, dass er seinen jüdischen So­zius Dr. Erich Cerf schon sehr früh in sei­nem Entschluss be­stärkte, Deutschland mit sei­ner Fami­lie zu verlassen. Die Aus­wanderung wurde vorbereitet und die Fami­lie Cerf er­hielt alle nur denk­bare Unterstützung seitens der Kanz­lei, um ihr die Basis für den Neuaufbau einer Existenz in Palä­s­tina zu er­mögli­chen. So ging auch das eigentlich unent­behrliche Kanzleiauto mit auf die weite Reise. Erich Cerf und sein hochge­achteter Se­nior­part­ner Drucker blieben wei­ter in Briefverbindung. Doch der in deut­scher Kulturtradi­tion verhaf­tete frühere So­zius konnte in sei­ner neuen Hei­mat nie wieder rich­tig Fuß fassen. Erst nach dem Kriegs­ende war es ihm vergönnt, als engagierter Anwalt in Wie­dergutma­chungssa­chen wieder in seinem geliebten Beruf tä­tig werden zu kön­nen.[33] Aber auch anderen langjährigen jüdischen Mandan­ten, die Drucker in dieser Zeit fragten, wie sie sich verhal­ten sollten, nahm er jede Illusion von einem baldigen Ende der Hitlerherrschaft und riet dringlichst zur Aus­wanderung.
So schrieb der zuletzt in London lebende Jacob Sachs, dass Drucker über viele Jahre der Anwalt der namhaften Rauchwaren­firma J. B. Sachs & Co. war, die sein Vater zu Beginn dieses Jahr­hunderts am Brühl ge­gründet hatte. Als in der ersten Hälfte des Jahres 1935 die Nazis zu ihm ka­men, um seine Bibliothek zu kontrol­lieren, nah­men sie einige Bücher von jüdischen Schrift­stel­lern mit. Jacob Sachs wurde verhaftet. Weder seine Familie noch sein Büro wussten, wo er war. Nach fünfstün­digem Verhör wurde er nachts um 1 Uhr wie­der entlassen. Jacob Sachs wurde später telefo­nisch angekün­digt, dass die Gestapomänner wiederkom­men werden, da sie ihre Hand­schuhe in seiner Wohnung ver­gessen hätten. Er ging sehr nervös zu Rechts­anwalt Drucker und fragte ihn, was er tun solle. Er antwortete: „Ich rate Ihnen, Deutschland sofort zu ver­lassen.“ Auf den Ein­wand, dass er erst in einigen Wochen vor­berei­tet sein werde aus­zu­wandern, er­widerte der Justizrat sehr klar: „Sie müssen sofort ge­hen, denn alle Juden, die hier blei­ben, wer­den von den Nazis ge­tö­tet.“ Daraufhin ist Jacob Sachs mit dem Auto seines Schwagers, des stadtbekannten Arztes Dr. Abra­ham Adler, nach Prag geflohen.
Im Februar 1939 musste Martin Drucker seinem früheren Man­danten Ja­cob Sachs nach London mitteilen, dass er „durch neuere Gesetz­ge­bung“ verhindert sei, irgendwelche anwalt­liche Tätigkeit für ihn auszu­üben.
Im Jahr 1934 erschien ein „Verzeichnis nichtarischer Rechtsanwälte Deutschlands“. Diese Broschüre wurde auf Grund freiwilliger Anga­ben gedruckt. Es bezeugt die positive Grundhaltung Druckers zu seinen jüdischen Vorfahren, dass er sich obwohl schon sein Vater konvertiert war, in die Reihen der nunmehr geächteten Kollegen einordnete und seinen Namen in das Verzeichnis aufnehmen ließ.

7. Entzug des Notariats

Unter dem Datum vom 1. November 1933 erhielt Martin Druc­ker ein Schreiben vom Sächsischen Ministerium der Justiz, wie es andere seiner Notariatskollegen in dieser Zeit auch erhalten haben, mit folgendem Inhalt:

„Der Herr Reichsstatthalter hat durch Verfügung vom 11. August 1933 den Rechtsanwalt Justizrat Dr. Martin Druc­ker in Leipzig auf Grund von § 3 des Gesetzes zur Wie­derher­stellung des Berufsbeam­tentums vom 7. April 1933 (RGBl. I S. 175) in Ver­bindung mit Ziff. 2 zu § 1 des Gesetzes in der Dritten Durchfüh­rungsverordnung vom 6. Mai 1933 (RGBl. I S. 245) von dem Amte als Notar enthoben.“

Die Amtsenthebung jüdischer Notare war erst der Beginn der Ver­fol­gung. Sie traf diese – wie beabsichtigt – sehr empfindlich in ih­rer Exi­stenz.
Martin Drucker war aber von den zitierten Regelungen eigentlich nicht betroffen, da damals nur die sogenannten „Vollju­den“ aus al­len Beamtenstellungen ent­fernt werden soll­ten. In seinem Lebens­lauf berichtet Druc­ker nach 1945, dass man ein Bittgesuch von ihm erwartet habe, um die Rücknahme des Notari­ats­entzuges zu errei­chen. Zu einer sol­chen Demütigung war er jedoch nicht ehrvergessen genug.[34]
Der Wegfall des Notariats und der Weggang des Sozius Erich Cerf zeigten sehr schnell gravierende Folgen, da sich die Auf­trags- und Ertragslage erheblich ver­schlech­terte. Eine damals in der Kanzlei Drucker Eckstein Cerf ange­stellte Stenotypistin, Frl. Irmgard Leh­mann, erklärte sich, als die Re­duzierung des Per­sonals unausweich­lich wurde, als die Jüngste bereit, freiwillig zu gehen, ob­wohl sie sich in der Kanzlei in der Ritterstraße sehr wohl ge­fühlt hatte und die Arbeit sehr interessant war. Irmgard Lehmann war in der Zeit zwischen 1931 bis 1935, die er­sten drei Jahre als Lehr­ling, bei Justizrat Druc­ker tätig gewe­sen. Sie berich­tet, wie gerne sie für den vä­terlichen und für­sorglichen Chef gearbeitet habe. Martin Drucker gab sei­ner jungen An­gestell­ten ein hervorra­gen­des Zeugnis mit, wel­ches ihr helfen sollte, sehr schnell eine neue An­stellung zu fin­den.

8. Diffamierung durch einen Kollegen

Martin Drucker hat sich keine Illusionen gemacht, dass sein energi­sches Eintreten für eine freie Advocatur und seine immer wieder öf­fentlich vertretene humanistisch-liberale Lebenshal­tung ihm auch ganz persönlich Feinde geschaffen hatte.
Diese fanden sich nach der Machtübernahme jedoch offen­kun­dig weni­ger in den Kreisen der Berliner Anwaltschaft, wo man sie hätte ver­muten können, sondern vielmehr unter sei­nen Leipziger ‚Kolle­gen‘. Einer von ihnen hat die Chance sofort genutzt, die ihm die Machter­greifung Hitlers gab, Justizrat Dr. Martin Dru­cker als ge­hassten Konkurrenten auszuschalten. Bei Sichtung des über diesen Kollegen erhalten gebliebenen Ar­chivmateri­als[35] ergibt sich eine ge­radezu faustische Konstella­tion von gut und böse. Die­ser Anwalt kann zu Recht als das ‚braune Gegenbild‘ des humanisti­schen und feinsinnigen Martin Drucker angesehen werden.[36]
Dieser Dr. Johannes Fritzsche erstattete am 9. Juli 1934 folgende An­zeige:
„Hier­mit erstatte ich gegen den Rechtsanwalt Ju­stizrat Dr. Martin Druc­ker in Leipzig Anzeige wegen Ver­fehlung nach § 28 ff. der Rechtsan­waltsordnung und bean­trage, die Akten zur Einlei­tung des Ehrenge­richtsverfah­rens an die Staats­anwaltschaft beim Oberlan­des­gericht ab­zugeben.“[37]
Mit dieser Anzeige setzte Fritzsche eine bereits ge­genüber Dru­ckers Sozius Eckstein klar ausgesprochene Dro­hung um. Ihm ge­gen­über hatte er erklärt, dass er „Druc­ker nach dem Konzentra­ti­ons­la­ger in Colditz schaf­fen las­sen“ und „er werde Dr. Druc­ker au­ßer­dem bei der Anwalts­kammer anzeigen, damit er aus der Anwalt­schaft aus­ge­schlossen würde.“[38]
Nach den Erklärungen des Hamburger Rechtsanwalts Dr. Dar­boven, wel­cher den Mut hatte, die Vertretung Dr. Druckers in dem dar­auf­hin eingeleiteten ehrengerichtli­chen Verfah­ren zu überneh­men, hatte diese Anzeige ihre Motivation darin, dass sich Ju­stizrat Drucker aus sachli­chen Gründen geweigert hatte, zu ei­ner Verhand­lung vor dem Gauwirt­schaftsleiter zu erscheinen. Darüber hinaus soll sich Dr. Drucker geweigert haben, sich in einem ge­richt­lichen Ver­handlungs­termin mit Nationalsozialisten an einen Tisch zu set­zen.
Das Engagement Druckers in Strafverfahren vor 1933, de­ren Ge­gens­tand nicht mehr feststellbar war, in denen Fritz­sche selbst je­doch keine Rolle spielte, hatte eben­falls den Zorn des Nazian­walts erregt.
Das daraufhin eingeleitete ehrengerichtliche Verfahren gegen Mar­tin Drucker ist durch erhalten ge­bliebene Dokumente gut nachvoll­ziehbar. Hierzu gehören insbesondere das Urteil des Ehrenge­richts der Sächsischen Anwaltskam­mer vom 26. Januar 1935 und die Beru­fungsbegründung hiergegen von Dr. Darboven vom 13. Mai 1935.[39]
Zum Vorwand für dieses Verfahren musste ein kollegialer Rat her­hal­ten, welchen Justizrat Drucker bereits im Jahr 1930 dem Kol­le­gen Curt Goldstein erteilt hatte. Der Kollege hat sich an den da­maligen DAV-Präsidenten ge­wandt, da dieser auch als langjähriger Rechtsberater des franzö­si­schen Konsulates in Leipzig bekannt war und die Sache deutsch-fran­zösi­sche Verhält­nisse betraf. Hieraus konstruierte der Sächsi­sche Ehrenge­richtshof vier Jahre später den unge­heuerlichen Vorwurf des Landesverrats.

„Lasciate ogni speranza voi ch’entrate!“[40]

Mit diesem italienischen Zitat Dantes wandte sich Dr. Darboven an seinen Mandanten Drucker, als sie den Ge­richtssaal zur Ver­handlung in dem ehrengerichtlichen Verfahren betraten, denn er hatte gerade festgestellt, dass ausgerechnet der persönliche Erzfeind und Anzei­ge­nerstatter Dr. Fritzsche zu den beisitzen­den Richtern ge­hörte.[41] Zwangsläufig wurde die Verhandlung mit einem Befangenheitsan­trag seitens Dr. Darbovens gegen Fritz­sche eröff­net, welcher je­doch prompt abgelehnt wurde. Folgerichtig befasst sich auch die Beru­fungsschrift gegen das Urteil eingehend mit die­ser Pro­ble­matik. Ohne auf diese rechtlichen Erörterungen einzuge­hen, stellt der an­gerufene Ehrengerichtshof später lapidar fest, „dass das Ehrenge­richt das Ablehnungsgesuch, das der Ange­klagte gegen den Beisitzer Rechtsanwalt Dr. Fritzsche angebracht hatte, nicht nach denjenigen rechtlichen Ge­sichtspunkten beur­teilt hat, die nach der ständigen Rechtsprechung des Reichsge­richts wie des Ehrengerichts­hofs dabei zu beachten sind.“ Und weiter heißt es: „Dar­auf braucht indes nicht näher eingegangen zu werden.“[42]
Der Ehrenpräsident des Deutschen Anwaltvereins wurde durch das Sächsische Ehrengericht für schuldig befunden und mit Ur­teil vom 26. Januar 1935 aus der Anwaltschaft ausgeschlossen.[43] Aus der Beru­fungsbegründung Dr. Darbovens ergibt sich, dass das Urteil von Fritzsche persönlich verfasst wurde, obwohl dieser nicht Be­richter­statter war. Auch hierdurch wird der Ver­dacht bestätigt, dass dieser Nazianwalt einen ganz persönlichen Rachefeld­zug gegen Ju­stizrat Druc­ker führte. Zum Schluss des Ur­teils soll Fritzsche nach den Erinnerungen Friedländers hand­schriftlich geschrieben ha­ben: „Er ist ein Schandfleck der deut­schen Anwaltschaft.“[44]
Max Friedländer gibt über den Verlauf der Berufungsver­handlung vor dem Ehrengerichtshof folgende Dar­stellung:
„Der Schandfleck legte Berufung zum Ehrengerichtshof ein, der jetzt nach Berlin verlegt war und aus 4 Nazi­anwälten und 3 Reichs­ge­richtsräten bestand. Die letzte­ren waren na­türlich unabhängige Richter. Die Verhandlung verlief so, dass an einer Freisprechung, die von den Reichsgerichtsrä­ten allein herbeigeführt werden konnte (da zu einer Verur­teilung qualifizierte Majorität erfor­derlich war), kaum zu zweifeln war. Rätselhaft wurde die Sache erst, als der Oberreichsanwalt als Ankläger das Wort ergriff und eine Lob­rede auf Drucker hielt (er selbst erzählte mir, dass selbst bei offiziel­len Fest­lichkeiten noch niemand ihn so in den Himmel geho­ben habe). Dann aber wurde der Ankläger plötzlich unruhig, lief vor seinem Pult hin und her und erklärte unvermit­telt: Eine Strafe müsse na­türlich sein und er stelle das Strafmaß in das Ermessen des Ge­richts.“[45]
Die Entscheidung des Ehrengerichtshofes änderte das Ur­teil der Sächsischen Anwaltskam­mer dahingehend ab, dass ge­gen Martin Dru­cker die Strafe des Verweises und eine Geldstrafe von 1.000,00 RM ver­hängt wurde. Für das merk­würdige Verhalten des Staatsanwaltes gibt Friedländer im Weiteren folgende Erklärung ab:
„Drucker freute sich nicht über dieses Urteil und als ihm ein Kol­lege zu seinem Erfolg gratulierte, lehnte er dies wütend ab. Dar­auf sagte der Kollege, der über die Interna der Sache gut Bescheid wusste: ‚Seien Sie froh, Drucker, dass Sie nicht freigesprochen wur­den. Die Gestapo war im Hause. Der Oberreichsanwalt wusste es und die Reichsge­richtsräte werden es auch gewusst haben. Wären Sie frei­ge­sprochen worden, so würden Sie jetzt nicht mehr hier sit­zen und schmollen!'“
Nach ungesicherten Informationen soll Mutschmann persönlich be­foh­len haben, Justizrat Drucker sofort durch die Gestapo zu ver­haf­ten, falls dieser freigesprochen werden sollte.
Der Hamburger Rechtsanwalt Dr. Darboven, den Martin Drucker aus seiner Tätigkeit im Vorstand des Deutschen Anwaltvereins gut kannte, verdient für sein entschlossenes und furcht­loses Auftreten in dieser Sa­che be­sonderen Respekt. Ob­wohl er wusste, dass er sich hierdurch selbst ge­fährdete, hatte er anlässlich eines Besuches in Leipzig spontan die Vertretung seines hochgeschätzten Kollegen Drucker über­nommen. Der Berliner Anwalt Carl Horn hatte zuvor Dru­ckers Bitte um Vertretung in dieser Sache abgelehnt.[46]
Der Anzeigenerstatter Fritzsche hatte sein Ziel, Martin Drucker auszuschalten, vorerst nicht erreicht. Es steht jedoch zu ver­mu­ten, dass er auch an anderen, späteren Re­pressionen gegen Drucker unmit­telbar und aktiv beteiligt war. Es ist nur schwer nachvoll­ziehbar, wie der schmächtige, nicht mehr junge Martin Druc­ker diese permanente physi­sche und psychische An­spannung ertragen hat.
Obwohl Justizrat Drucker die stetige Bedrohung zu diesem Zeitpunkt bereits bewusst gewesen sein muss, wollte er im Frühjahr 1934 die Vertre­tung von Ri­chard Hofmann, der wegen Hoch­verrats vor dem be­rüch­tigten Volksge­richtshof angeklagt war, über­nehmen. Der Präsi­dent des Landesge­richts Leipzig Lo­renz warnte den Vorsitzenden des I. Senats des Volksgerichtsho­fes in einem Schrei­ben vom 27. April 1934 deshalb nachdrücklich vor diesem „talmu­di­stischen Genie“: „Persönlich halte ich den Justizrat Dr. Drucker für einen anstän­digen Mann, er ist aber einer der überaus klugen, geistreichen und gewandten Juden, die aus ihrer spitzfin­digen und eben talmudisti­schen Geistesart nicht herauskön­nen.“[47]
Die Tatsache, dass Martin Drucker allen Verfolgungen zum Trotz das Ende des Hitlerregimes erleben konnte, lässt die Vermutung zu, dass ein­flussreiche Personen ver­suchten, den Justizrat zu schützen und vor der Deporta­tion ins Konzentrati­onslager und der Ermordung zu bewah­ren. Hierfür gibt es je­doch keine konkreteren An­halts­punkte.

9. Der 65. Geburtstag

In dem bereits erwähnten Ostwald’schen Haus „Glück auf!“ in Großbo­then empfing die Familie am 6. Oktober 1934 eine Gruppe der damals namhaftesten Juristen Deutsch­lands, an ihrer Spitze den hochbetag­ten ehrwürdigen Ge­heimrat Adolf Heilberg.[48] Der für den Ju­bilar vollkommen überraschende Besuch in Großbo­then, ein Ver­dienst des ältesten Sohnes Heinrich und des treuen Assisten­ten Fritz Grübel, war deshalb für Drucker eine mensch­liche Wohltat, da er zu dieser Zeit durch das bereits ge­schil­derte eh­rengerichtli­che Verfah­ren des Zuspruches der verehrten Kollegen besonders be­durfte.
Heilberg überreichte dem von der unerwarteten Ehrung tief be­rühr­ten Martin Drucker eine anlässlich des 65. Ge­burtstages von Ju­lius Ma­gnus herausgegebene Festschrift. Die in aller Heimlichkeit, fast konspirativ, entstandene Fest­schrift vereinte die Koryphäen der deutschen Anwalt­schaft. Ganz besondere Bedeutung hatte für den Ju­bilar der in die Fest­schrift aufgenommene Beitrag des bereits mehr­fach genannten Strafverteidigers Max Alsberg „Das Plaidoyer“.  Er wurde da­durch an diesem Tag an die vergangenen Zei­ten erin­nert, als Alsberg und er sich brillante, scharfsin­nige und von der Presse beju­belte Rededuelle geliefert hat­ten. Der Beitrag wurde von der Witwe postum zur Veröffentli­chung in der Festschrift über­geben, denn Alsberg hatte sich, um weiteren Demütigungen und Re­pressalien zu ent­gehen, am 11. September 1933 das Leben genom­men.
Die Versuche der neuen Machthaber, auch den standhaften und mu­ti­gen Leipziger Rechts­anwalt Martin Drucker auszu­schalten, gin­gen immer weiter. Die Nazis gingen nun dazu über, die Klienten zu zwingen, ihre Mandate bei Ju­stizrat Drucker zu kündigen. So musste ein kosme­tischer Konzern gegen seinen Willen jegliche geschäftli­che Ver­bin­dung abbrechen, da andernfalls mit einem totalen Boy­kott sämtlicher Produkte in allen Parfümgeschäften und durch alle Fri­seure ge­droht worden war.
Martin Drucker schreibt später, dass er die durch diese Machen­schaften zugefügten wirtschaftli­chen Schädi­gungen nur mit größten Schwierig­keiten ertragen konnte: „… ich sah das Ende meiner Wi­derstandsfähigkeit her­an­nahen.“ Das ist einer der wenigen Belege dafür, dass die ste­tige Be­drohung nicht spurlos an dem Leipziger Rechtsanwalt vor­überging. Er ließ sich ansonsten kaum jemals an­merken, dass ihn die Atta­cken im In­nersten trafen.

10. Verteidigung von Verfolgten des Naziregimes

Umso erstaunlicher ist es, dass Justizrat Drucker sogar noch nach dem Beginn des Krieges 1942 vor dem Amtsge­richt Leip­zig den Frei­spruch des wegen Diebstahls ange­klagten litauischen Zwangsarbei­ters Galeckas durch­setzte. Als er dann auch noch die volle Auszah­lung des Lohnes für den Arbeitseinsatz des Angeklagten während der Un­tersuchungshaft forderte, ereiferte sich der OLG-Präsident über die „typisch liberalistische Denkweise“ Druckers wie folgt:
„Dr. Druc­ker, dessen Berufsausübung schon früher Anlass zur Beanstan­dung ge­geben hat, hätte als Mischling besondere Veranlassung zur Zurück­haltung gehabt. Sein völlig ver­fehltes Eintreten für einen Li­tauer ist aber eines Anwalts unwürdig.“[49]
Häufig war nach dem Beginn des barbarischen Krieges und der De­por­tationen der jüdischen Bürger Leipzigs der Rechtsanwalt Mar­tin Drucker die letzte und einzige Möglichkeit auf Hilfe und Rettung. Nur wenige dieser Fälle sind überliefert. Ein ganz beson­ders dra­matischer Fall betraf Susanne Aizen,[50] die am 4. März 1924 in Leip­zig geboren war. Seit Januar 1942 war sie Kassiererin im Lichtspieltheater „Filmeck“ im Barfuß­gäßchen, bis sie am 12. Sep­tember 1942 exakt um 12.10 Uhr mittags auf Grund einer Denun­zia­tion vorläufig festgenommen wurde. Ihr Vater war ein jüdischer Kaufmann, von dem die „deutschblü­tige“ Mutter geschieden war. Der Vater war nach Po­len abge­schoben worden. Eine Berufsschule konnte Susanne nach Abschluss der Volks­schule wegen ihrer Ab­stammung nicht besuchen. Sie lernte ein paar Mo­nate in der bekannten jüdi­schen Firma Max Held Kontoristin. Susanne Aizen war nach Auffas­sung der Gestapo Geltungsjüdin und hatte demzufolge den Judenstern zu tragen und den Zusatznamen „Sara“ zu führen. Beides hatte sie jedoch nicht getan. Ein weiterer Vorwurf entstand dem 18-jährigen Mädchen daraus, dass sie im November 1941 einen Sohn geboren hatte, dessen Vater ein „deutschblütiger“ Wehrmachtsan­gehöriger war. Das war nach Auffas­sung des anklagenden Oberstaatsanwaltes Rassenschande. Die verzweifelte Mutter des minderjährigen Mädchens wandte sich an Martin Drucker, der das Mandat übernahm und bereits mit Schrift­satz vom 23. September zu den Vorwürfen Stellung nahm. Die Ausfüh­rungen bestätigen ein weiteres Mal, dass es der Leipzi­ger Rechtsan­walt ver­stand, die Nazijuristen mit ihren eigenen Waf­fen zu schla­gen. Die Rassengesetze waren nicht nur in ihrem In­halt barbarisch, sie waren auch so unprofessionell for­mu­liert, dass sie nicht in je­dem Einzelfall die ge­wünschte Ziel­stellung erreichen konnten. Mar­tin Drucker brachte die Staatsanwaltschaft in der mündlichen Ver­handlung am 28. September 1942 so in Bedrängnis, dass der Staatsan­walt Dr. Gläsemer die Vertagung der Hauptverhand­lung zur wei­teren Vor­bereitung beantragen musste. Nach dem Proto­koll der münd­lichen Ver­handlung folgt in der er­halten gebliebenen Akte ein la­pidares Schreiben der Geheimen Staatspolizei, Staatspo­lizeistelle Leipzig an den Herrn Ober­staatsanwalt beim Landgericht vom 20. Ja­nuar 1943 folgenden In­halts:

„Betr.: Susanne Sara Aizen
Die Obengenannte ist am 11.1.1943 im Konzentrationslager Auschwitz verstorben. Ich bitte um Kenntnisnahme.“

Immer wenn der Leipziger Rechtsanwalt in dieser Zeit in das Ge­richtsgebäude in der Elisenstraße 64 (heute Bern­hard-Göring-Straße) ging, fürchtete die Familie, dass der Vater noch im Ge­richtssaal von der Gestapo verhaftet werden könnte. Auch die ver­bliebenen Ange­stellten der Kanzlei in der Ritter­straße waren sich bewusst, dass sich ihr beliebter Chef in stän­diger Gefahr befand, verhaftet und in ein Konzentrationslager geschafft zu werden.

11. Restriktionen gegen die Kinder

Martin Drucker hatte in der Zeit des Nationalsozialismus nicht nur die geschilderten Verfolgungsmaßnahmen und Re­pressionen zu er­leiden. Er verlor während der Bombenan­griffe seine Kanzlei in der Ritterstraße mit der bereits vom Vater aufgebau­ten kostbaren ju­ristischen Bibliothek. Auch die Druckersche Wohnung in der Schwägrichenstraße wurde mit fast al­lem Hab und Gut während der Bom­benangriffe vernich­tet.
Die Nationalsozialisten ver­suchten nicht nur Martin Drucker selbst auszu­schal­ten, sondern sie verfügten auch immer wieder neue re­pressive Maßnahmen gegen seine Kinder, die über das für sie als sogenannte 1/4 Juden selbst nach den Rassegeset­zen zulässige Maß hinaus gingen. Seine beiden Söhne Heinrich und Peter teilten das ent­setzliche Schicksal vieler hoffnungsvoller junger Männer: Sie starben in dem sinnlosen barbarischen Krieg. Die beiden Töchter wurden in ihrer Ausbildung und ihrer Berufsausübung gehindert. Der 1905 geborene Sohn Heinrich hatte wie sein Vater be­reits an der Thomasschule zu den größten Hoffnungen Anlass gegeben. Ihn drängte es später zum Studium der Philosophie, besonders bei Theo­dor Litt. Sein Wissens­drang führte ihn auf Abwege zur Soziologie, so dass er schließlich am Leipziger Institut bei Hans Freyer lan­dete. Dieser ließ ihm bereits 1933 den Zutritt zum Institut ver­wehren. Im No­vember 1942 heira­tete er, da das Gerücht umging, dass auch den „25%igen Ju­den“ künftig die Ehe per Gesetz untersagt wer­den sollte, kurz entschlossen die katholische Postangestellte Ursula Quinte. Aus dieser Ehe sind zwei Söhne hervorge­gan­gen. Die bei­den Enkelkinder waren für Martin Drucker in seinen letzten Le­bensjah­ren Trost, Freude und Hoffnung. Obwohl die akade­mische Karriere des Sohnes Heinrich wegen sei­ner Abstammung been­det war, war er doch ‚geeignet‘, als Landesschütze an die Ostfront ein­gezo­gen zu werden. Tagtäglich schrieb Heinrich an seine junge Frau düstere Briefe. Als diese ausblieben, war die ganze Familie beunruhigt.
Schließlich erreichte Ur­sula Drucker im Februar 1945 in Aue, wohin sie mit ih­ren beiden Kleinkindern geflüchtet war, der Brief eines ihr unbe­kannten Stabsgefreiten Kosub. Der Un­bekannte teilte ihr mit, dass er Heinrich auf der Haupt­straße nach Ber­lin-Breslau im Graben an einem Ort namens Oberau in der Nähe von Lüben in Nieder­schlesien tot ge­funden habe. Er schickte von ihr stammende Briefe, die er in der Hose des Toten gefunden hatte. Heinrich wurde in Oberau beer­digt. Nach den geschilderten Umständen musste die Fami­lie annehmen, dass Heinrich seiner Uniform be­raubt und er­mordet worden war.
Ebenso tragisch endete das Leben des wesentlich jünge­ren, 1914 ge­borenen, hochbegabten Sohnes Peter. Er fiel am 12.07.1942 in Af­rika bei El Alamain. Am Morgen noch hatte er der Familie in Leip­zig eine Karte von Kreta ge­schrieben. Wenige Stunden später wurde er mit seiner Kompanie per Flugzeug zum Kriegseinsatz geflogen, wo er am gleichen Tag umkam. Peter war der Naturwissenschaft­ler der Familie und stand so in der Tradition seines On­kels Carl. Er stu­dierte zunächst 1932 in Göttingen, aber schon ab 1933 in Leip­zig, insbesondere bei Hei­senberg. 1936 brach er sein Studium ab, da er keine Chance sah, dieses unter der nationalsozialistischen Herr­schaft noch been­den zu können. Er kam durch die Vermittlung seines Hamburger Onkels Conrad als Stift in eine Firma für Im­port-Export. Peter hoffte dadurch später nach Südamerika auswandern zu können. Diese Hoffnungen zerschlugen sich jedoch mit dem Kriegsbe­ginn.
Der 1903 geborenen Tochter Martina wurde nach dem er­folgrei­chen Abschluss ihres Medizinstudiums in Leipzig untersagt, ihren ge­liebten Beruf als Kin­derärztin auszu­üben. Auch für diese Schi­kane gab es natürlich keine ge­setzli­che Grundlage. Sie arbeitete des­halb einige Zeit bei dem namhaften jüdischen Arzt Dr. Abraham Ad­ler in dessen Praxis in der Bose­straße. Spä­ter wurde sie nach Schlawe in Hinterpommern dienst­ver­pflich­tet. Nach dem Einmarsch der Russischen Armee musste sie als Ärztin in einem Kriegsgefange­nenlager arbeiten. Ihre Rückkehr nach Leipzig war eine schreckli­che Odyssee, wie sie viele andere Flücht­linge und Vertriebene zu dieser Zeit er­leben mussten. Obwohl ihr allgemeiner Zustand bei ihrer Ankunft in Leipzig er­schreckend war, wie sich die jüngere Schwester Re­nate noch heute erinnert, war ihr sehnlichster Wunsch, endlich als Kinderärztin ar­beiten zu dürfen. Als solche ist sie sogar heute noch manchen Leip­zigern aus Kindheitstagen in Erinne­rung. Die spätere Sanitätsrätin arbeitete aufopfe­rungsvoll für ihre kleinen Pati­enten, denn auch sie ver­stand ihren Beruf, wie ihr Va­ter, als le­benslange Beru­fung. Die nach schwerer Krank­heit im Jahr 1992 in Leipzig ver­storbene Toch­ter Martina hat dem Namen ihres Va­ters im besten Sinne des Wor­tes Ehre gemacht.[51]
Renate, die wesent­lich jüngere zweite Toch­ter Martin Druckers, be­suchte, wie ihr Bruder Peter, das angesehene Gymnasium in Salem am Bodensee. Sie fühlte sich dazu berufen, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten und wollte Rechtsanwältin werden. Für diese be­rufliche Lauf­bahn gab es für sie jedoch nach 1933 keinerlei Chance mehr. Sie stu­dierte daher Geschichte und Germanistik und hatte da­mit, wie heute mit Gewissheit gesagt werden kann, ihre wahre Beru­fung ge­funden. Zwischen 1938 und 1941 war auch sie aus rassischen Gründen vom Stu­dium an deutschen Universitäten ausgeschlossen. Selbstredend gab es auch für diesen Ausschluss in den „Rassegeset­zen“ keine Basis. 1942 setzte sie ihr Studium bei ihrem besonderen Förderer Walter Stach in Straß­burg fort, wo sie Ende 1944 zum Thema „Die althochdeutschen Glos­sen in der lex sa­lica“ promovierte.
Als Hi­sto­rikerin hat sie sich bleibende Verdienste um den Auf­bau und die Bewah­rung des Uni­versi­tätsarchivs erworben, welches sie zwischen 1950 und 1977 bis zu ihrer Pensio­nie­rung engagiert leitete. Ganze Generationen von Stu­denten erinnern sich bis heute leb­haft an ihre Lehrver­anstaltun­gen auf dem Gebiet der histori­schen Hilfswis­senschaften an der Leipzi­ger Universität. Anlässlich ihres 80. Geburtstages[52] ver­lieh ihr die Leipziger Univer­sität in Würdigung ihrer besonde­ren Ver­dienste für die Frei­heit des Gedankens die Ehrenbürger­schaft. Am 23. Okto­ber 1997 wurde Renate Drucker für ihr Le­benswerk mit dem Verdienst­orden des Freistaates Sachsen geehrt. Martin Drucker wäre mit Be­stimmtheit sehr stolz auf seine Jüng­ste gewesen.

12. Versetzung in den „Ruhestand“

Unter dem Datum vom 22. April 1943 teilte der Oberlan­desge­richts­präsident dem Landgerichtspräsidenten mit, dass er zu prü­fen habe, „ob der jetzt 73 Jahre alte Rechtsanwalt Justizrat Dr. Drucker ge­mäß § 3 der VO vom 01.03.1943 in den Ruhestand zu versetzen ist.“[53] Gleich­zeitig merkte er an, dass gegen Dr. Drucker wieder einmal ein strafrechtliches Verfahren bei der Dienststrafkammer anhängig sei und abschließend heißt es dann: „Ich beab­sichtige, dem Verfah­ren auf Versetzung in den Ru­hestand den Vorzug vor dem ehrenge­richtli­chen Verfahren zu geben und bitte deshalb um besonders be­schleu­nigte Durch­führung der Erörterungen.“
In dem daraufhin angefertigten „Vorschlag wegen Verset­zung in den Ruhestand“ stellt der Landgerichtspräsident Lorenz u. a. fest:
„Ob das anhängige ehrenstrafrechtliche Verfahren ein Grund für seine Versetzung in den Ruhe­stand ist, kann von hier aus nicht beurteilt werden. Ob lediglich die Tatsache, dass Dr. Drucker Mischling 1. Grades ist, einen Grund zur Verset­zung in den Ruhestand gibt, muss der höheren Entschließung überlassen werden. Das Verhalten Dr. Druckers seit 1933, insbesondere die Art seiner Berufsausübung und Be­rufsauf­fassung seit die­sem Zeitpunkt geben zu Beanstandungen kei­nen Anlass.“
Die beabsichtige Versetzung in den Ruhestand war auch Anlass, Erör­terungen über die Vermögensverhältnisse Mar­tin Druckers an­zu­stel­len, denn es war zu klären, ob der Rechtsanwalt einer Versor­gung aus Mitteln der Reichsrechtsanwaltskammer „bedürftig und wür­dig“ sei. Drucker gab hierzu an, dass die Versorgung seines 38-jährigen Sohnes Heinrich und seiner 26-jährigen Tochter Renate noch auf seinen Schultern ruhe, da sie als Misch­linge 2. Grades bis­lang kein eigenes Einkommen finden konnten. Auch seine ge­rade schwangere Schwiegertochter sei vollkommen vermögenslos. Die von der Sozietät abgeschlossene Lebensversicherung trete für den Fall des Ausscheidens auch nicht ein, so dass auch hier­aus kei­nerlei Versorgung zu erwarten sei, sondern nur weitere Prämien­zah­lungen erfolgen müssten. Martin Drucker war trotz seiner le­benslangen er­folgreichen anwaltlichen Tätigkeit in seinen letzten Lebensjahren prak­tisch ohne Existenzgrundlage. Sein Vorkriegsver­mögen (gemeint war hier natür­lich der Erste Weltkrieg) hatte er wie andere pflicht­schuldigst in Kriegs­anleihen angelegt und durch den Verfall der Währung verloren. Es entsprach jedoch unabhängig davon auch nicht dem We­sen Mar­tin Druckers, und auch nicht dem seiner Frau Mar­gare­the, Vermö­gen anzu­häufen. Die vor 1933 sehr gut laufende Kanzlei musste auch viele Köpfe ernähren und ansonsten wurde Geld insbe­sondere dann sehr großzügig ausgegeben, wenn es um die um­fas­sende Ausbil­dung seiner Kinder ging. Die Domizile in Niedergräfen­hain und später in Großbothen konnte sich die Familie nur wegen der au­ßerordentlich günstigen Mietver­hältnisse leisten. Aber auch das war ein „Luxus“, den der Justizrat sich und sei­ner Familie gerne gönnte. Die Anschaffung von Grund­be­sitz jedoch war ihm voll­kommen we­sensfremd.
Trotz festgestellter Vermögenslosigkeit wurde Martin Drucker ohne Versorgung auf Grund der genannten Verordnung, welche als „lex Drucker“ bekannt wurde, per 01.01.1944 in den Ruhe­stand als Rechtsanwalt versetzt. Ein einmaliger Vorgang, da ein freiberuf­lich tätiger Anwalt, der eben nicht Staatsbeamter ist, natur­gemäß auch nicht durch den Staat per Dekret in den Ruhe­stand versetzt werden kann. Der Termin für die Versetzung in den Ruhestand musste nochmals verschoben werden, da die Kanzlei in der Rit­ter­straße 1-3 während des Bombenangriffes am 4. Dezember 1943 in Flam­men auf­ging. Niemand wurde da­mals in die Innenstadt ge­lassen, um zu lö­schen oder noch irgendetwas zu retten. Das Haus selbst war gar nicht getroffen worden. Es war durch das Feuer des gegenüber­liegen­den Hauses schließlich abgebrannt. Als Martin Drucker in Aue und Jena seine Erinnerungen auf­schrieb, wurde ihm oft bewusst, welche wichtigen Doku­mente und lieb geworde­nen Erinnerungen damals unwieder­bringlich verloren gegangen sind. Die Kanzlei wurde dar­aufhin in die Wohnung in der Schwägri­chen­straße verlegt, da auch die Wohnung des treuen Sozius Eckstein ausgebombt war. Am 29.12.1943 teilte der Oberlandesgerichtspräsident mit, dass die Versetzung in den Ruhestand auf den 1. April 1944 ver­schoben worden sei. Nur der Tatsa­che, dass Eck­stein seinen langjährigen Seniorpartner Drucker trotzdem weiter im Rahmen des Möglichen et­was verdienen ließ, ist es zu verdanken, dass die Fa­milie nicht vollständig ohne Einkommen war, zumal sämtliche Rückla­gen längst verbraucht waren. Als Ende Mai 1944 bei Martin Drucker eine Aufforderung einging, ei­nen Personalbogen auszufül­len, kam es erneut zu einem uner­freuli­chen Briefwechsel mit dem Landge­richtspräsidenten, da sich der „Rechtsanwalt im Ruhe­stand“ beharrlich weigerte, die­ser Forde­rung nachzukom­men. Da ihm eine aufsichtsrechtliche Ahndung ange­droht wurde, bat der Justizrat um Angabe der ge­setzlichen Be­stim­mungen, nach welchen er weiterhin unter der Aufsicht des Reichs­justizmini­sters stehe.
Seinen 75. Geburtstag am 06. Oktober 1944 verbrachte Martin Dru­c­ker bei der Arztfamilie Duseberg in Aue, wohin seine Schwieger­tochter mit ihren beiden Kindern gegangen war. Auch wenn Heilberg 10 Jahre zuvor zu Drucker in Großbothen ge­sagt hatte, dass nie­mand wissen könne, was die nächsten Jahre bringen werden, hatte sicher keiner der da­mals Anwesenden auch nur eine vage Vorstellung von dem, was dann tatsächlich kam.
Martin Drucker hatte allzu früh seine einzigartige Frau Mar­garethe ver­loren, der jüngste Sohn Peter war 1942 gefal­len, der Älteste war an der Ostfront, die altehrwürdige Kanzlei war zerstört, die berufliche Existenz schien für immer ver­nichtet. Ein trauriger 75. Geburtstag. Doch die Dusebergs, die Tochter Re­nate und Ursula Dru­cker, die ihren Schwieger­vater abgöttisch ver­ehrte, versuchten, den Tag so würdig wie unter den Kriegsbe­dingun­gen nur irgend mög­lich zu gestalten.
Trotzdem war auch zu diesem Zeitpunkt für Martin Drucker noch nicht alles ausgestanden. Im Februar kam die Nach­richt vom Tod des Sohnes Heinrich und die Schwiegertoch­ter Ursula kam mit ih­ren bei­den klei­nen Söhnen zurück nach Leipzig. Hier erfuhren sie kurze Zeit spä­ter, dass ihre Ängste um die in Dresden lebenden Manns­felds nicht unbegründet waren. Nach dem verheerenden Bombenangriff am 13. Fe­bruar 1945 war die geliebte Schwester Betty schwer ver­letzt mit zertrümmerter Hüfte, ohne Papiere und ohne Schuhe auf der Straße gefunden worden. Der ne­ben ihr liegende Carl Mannsfeld war tot. Sie wurde in die Klinik ‚Sonnenstein‘ gebracht, wo sie darum bat, die Druckers in Leipzig zu informieren, denn der Rest der Familie war durch den Bombenangriff auf Dresden eben­falls zer­streut und obdach­los. Der Tod seines Schwagers, des früheren säch­sischen Justizministers, war für Ju­stizrat Drucker noch immer nicht die letzte Todesnach­richt. Nach Kriegsende gingen bei Dru­ckers, wie in vielen anderen Familien, noch sehr lange derartige traurige Briefe von langjährigen Freunden und Kollegen ein. Umso glücklicher war Martin Drucker, wenn ihn eine Nachricht von ehema­ligen Kollegen aus dem Ausland erreichte, die vor dem nationalso­zialistischen Rassenwahn aus Deutschland geflohen waren.
Sicher war es für Martin Drucker in dieser Situation ein großer Trost, dass die Schwester, die liebevolle ‚Bettchentante‘, über­lebt hatte. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1957 blieben ihre beiden Nichten auf das Engste mit ihr verbunden.
Am 23. Februar 1945 ging schließlich auch die Wohnung in der Schwä­grichenstraße in Flammen auf. Die Situation an diesem Tag, wie sie Renate Drucker sehr anschaulich be­schreibt, mu­tet geradezu kafkaesk an, denn kaum jemand war dieser Situation noch gewachsen. Nur we­nige Erinne­rungsstücke wurden in letzter Minute wahllos aus der Woh­nung im Erdgeschoss gerettet. Kurz bevor die Balken herab brachen, wurde auch der zerlegte Flügel, auf dem Marga­rethe Dru­cker so gern gespielt hatte, noch auf die Straße ge­bracht. Die Fa­mi­lie kam zunächst ge­trennt provisorisch bei Freunden und Bekann­ten unter. Ein früherer Mandant war bereit, der Familie Drucker eine freie Wohnung in ei­nem seiner Häuser zu vermieten. Deswegen musste er in dem berüchtigten Amt zur Förderung des Woh­nungsbaus in der Harkortstraße 1 vorsprechen, um die hier­für erfor­derliche Genehmigung zu erhal­ten. Im Nachbarzim­mer hielt sich der Rechtsan­walt Zuber­bier, der Leiter dieses Am­tes, der über viele Jahre di­rekt über Druckers gewohnt hatte, auf. Als er mit an­hörte, worum es ging, drohte er dem früheren Klien­ten Martin Druc­kers mit „Maßnahmen der Partei“. Drucker selbst wolle er nun um­gehend ins Konzentra­tionslager schaffen lassen. Sofort gewarnt, entzog sich die Familie dem Zugriff der Leip­zi­ger Verfolger und floh zu Freun­den nach Jena. Dort wartete Mar­tin Drucker das nahe Ende des Krie­ges ab. In dieser Zeit der relativen Ruhe und Besinnung gab er endlich dem Drängen seiner Schwieger­tochter nach und begann, seine Erinne­rungen aufzu­schreiben. Das Leben ohne Geld, Lebensmittel­karten und Verdienstmöglich­keiten war in Jena für die ganze Fami­lie au­ßeror­dentlich schwierig. Als die Amerikaner nach Jena kamen, bot Drucker dem neuen Oberbürgermeister sofort seine Arbeitskraft für den Wiederaufbau an. Dieser Brief blieb im Nachlass erhalten.
Ein Angebot der einmarschierten Amerikaner, nach dem We­sten zu ge­hen und in Frankfurt am Main eine neue Kanzlei aufzubauen, war si­cher sowohl lukrativ, als auch verlockend. Trotz­dem widerstand der 75-jährige Jurist diesen Angebo­ten. Es ent­sprach seiner innersten Überzeugung, dass er dort für den Wie­der­auf­bau sorgen musste, wo er hingehörte: in Leipzig.

13. Die letzten Jahre

Nach der Befreiung Leipzigs durch die Amerikaner war, wie Martin Drucker nach seiner Rückkehr erfuhr, ein Jeep vor dem völlig zer­bombten Wohnhaus Schwägrichenstraße 5 vorgefahren. Die Amerikaner suchten Drucker, um ihn zum ersten Bürgermeister Leipzigs zu ernen­nen. Wegen seiner Abwesenheit fiel die Wahl auf Rechtsanwalt Dr. Vierling, welcher kurze Zeit später durch Erich Zeigner abge­löst wurde.
Die Rückkehr von Jena nach Leipzig gestaltete sich unter den kata­strophalen Bedingungen nach dem totalen Zusam­menbruch außerordent­lich schwierig. Die Familie wartete in Jena auf ein Zeichen aus Leipzig, dass sie wiederkom­men könne. Martin Drucker erhielt dann tatsächlich Nach­richt, dass er zurückkehren müsse, ‚um in den Wie­deraufbau ein­geschaltet zu werden.‘ Es war jedoch schließlich erst Anfang Juni möglich, Mar­tin Drucker mit einem Auto aus Leipzig von Jena abzuho­len und in seine Heimat- und Geburtsstadt zurückzubrin­gen. Hier bezog die ganze Fa­milie eine Wohnung in der Brand­vor­werkstraße 80. Diese war nur spärlich, mit zum Teil geborgten Mö­beln eingerichtet, denn die aus der Wohnung in der Schwägri­chen- straße geretteten und unterge­stell­ten Möbelstücke waren später durch eine Luftmine vernichtet worden. Die Schwiegertochter Ur­sula, die ihre beiden Kleinkinder zu versor­gen hatte, führte auch den Haushalt. Die Toch­ter Renate hatte einen Lehrauftrag an der Leipziger Uni­versität erhalten. Sie konnte je­doch noch nicht le­sen, da die geschichtlichen Fächer zu diesem Zeitpunkt noch ‚ge­sperrt‘ waren.
Nachdem auch die Tochter Martina im Dezember 1945 aus der russi­schen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, wurde sie als Assi­s­tenzärztin im Universitätskinderkran­kenhaus angestellt. Als Martin Drucker zurückkam, war er bereits wieder in die Liste der beim Amtsgericht zugelassenen Rechts­anwälte eingetragen. So kam es auch, dass hier als Kanz­leisitz die Schwägrichenstraße 5 angegeben war, obwohl dieses Gebäude nicht mehr bestand. Die von seinem So­zius Eckstein mühevoll wieder eingerichtete gemeinsame Kanzlei be­fand sich vielmehr nun im Europahaus am Karl-Marx-Platz 7.
In seiner Abwesenheit hatten die Amerikaner in einer ge­heimen Wahl durch alle nicht faschistischen Rechts­anwälte einen Bezirksaus­schuss für Rechtsanwälte und No­tare in Leipzig wählen lassen, zu dessen Präsidenten Martin Drucker bestimmt worden war. Er enga­gierte sich sofort in der Kommission zur Überprü­fung und Wie­derzu­lassung von Rechtsanwälten in Sachsen. Martin Drucker wurde dar­über hinaus zum Vizepräsidenten der Sächsischen Rechtsanwalts- und Notarkammer gewählt und musste deshalb alle zwei Wochen nach Dres­den reisen. Offenkundig in dieser Funktion wurde er etwa im Herbst 1946 gebeten, einen Vortrag zum Thema „Der Anwalt in der neuen Zeit“ vor sächsischen Rechtsanwälten zu hal­ten.[54]
Drucker schreibt in dieser Zeit, dass er in sei­ner ganzen Anwaltspraxis noch niemals dermaßen mit Arbeit in An­spruch genommen worden war, die er nicht einmal in siebzig Wo­chen­stunden bewältigen könne. In den vielen überlieferten Briefen aus dieser Zeit wird das ganze entsetzliche Elend deutlich, das die 12-jährige Naziherrschaft hinterlassen hatte. Immer wieder muss Martin Drucker an Freunde, Bekannte und Kollegen schreiben, wie es ihm und seiner Familie ergangen ist. Eingehende Briefe enthalten Todesnachrichten oder bringen überraschend Lebenszeichen von lange verschwundenen Kollegen oder gar tot geglaubten engen Freunden.
In diesen traurigen Briefwechsel fällt dann für Martin Drucker doch ganz unerwartet ein Lichtblick, als er ein Lebenszeichen von Gertrud Landsberg aus England erhält. Die wenigen erhaltenen Briefe von der „liebsten Freundin“ legen ein berührendes Zeugnis darüber ab, welch ganz unerwartetes spätes Glück Martin Drucker mit diesem Wiederfinden erlebte. Drucker hatte die zum Dr. phil. promovierte Lehrerin als Mandantin im Jahr 1924 kennen gelernt. Die junge Frau ließ sich damals in einem sehr unerfreulichen und belastenden Verfahren von ihrem Ehemann Prof. Ernst Bergmann scheiden. In den weiteren Jahren war eine enge Freundschaft entstanden, die auch die Kinder von Gertrud Landsberg mit einschloss. Auch wenn sich die beiden durch die Verfolgung Getrennten nicht mehr wiedersahen, war es einer der letzten großen Glücksmomente Druckers, mit dieser guten Freundin zumindest brieflich alte gemeinsame Erinnerungen austauschen zu können.
Der Wiederaufbau des Deutschen Anwaltver­eins und die Herausgabe der Juristischen Wochenschrift beschäfti­gen Martin Drucker bereits wieder in zahlreichen Briefen an ehema­lige Vorstandskollegen. Er schätzt die Möglichkeiten hierfür ge­rade in der russisch besetzten Zone aber sehr schnell und realis­tisch als gering ein.
Am 28. März 1946 feierte die Leipziger Juristenfakultät Drucker aus An­lass seines Goldenen Doktorjubiläums. Er war sehr über­rascht dar­über, dass so viele Kollegen dieses Jubiläum zum Anlass nahmen, ihm zu gratulieren. Besonders berührt hat ihn das Glück­wunsch­schreiben des nunmehrigen Landgerichtspräsidenten Neu, mit dem er sich durch gemeinsame leidvolle Erfahrungen sehr eng verbunden fühlte.
Auf Drängen seiner Schwiegertochter bemühte sich Martin Drucker um die Anerkennung als „Opfer des Faschismus“ bei der Stadt Leipzig. Das hatte zumindest zwei Beweg­gründe: Einerseits wollte Ursula Drucker sicher, dass die Verfolgung und der mutige Widerstand ih­res verehrten Schwiegervaters auch ganz offiziell anerkannt würde, an­dererseits war mit einer solchen Anerkennung auch eine bessere Ver­sorgung verbunden, die der schwer arbeitende Drucker dring­lichst benötigte, da im Ergebnis des Krieges das gesamte Hab und Gut verloren gegangen war. In diesem Zusammenhang bekam Justizrat Drucker einen er­sten Ein­druck von dem, was später kommen sollte, er aber nicht mehr erle­ben musste. Der bald 77-jährige Justizrat sprach in dieser Angele­genheit in der zuständigen Kommunalabtei­lung vor. Am 6. September 1946 teilte ihm der Rat der Stadt Leip­zig lapidar mit, dass seine Aner­kennung als Opfer des Faschismus nicht möglich sei, weil die ge­setz­lichen Bestimmungen dies nicht zuließen.
Nach 1945 hat sich Martin Drucker auch bemüht, die Ju­ristische Wo­chenschrift, die für seine persönliche Ar­beit über Jahrzehnte so bedeutungsvoll gewesen war, wieder zu beleben. Hierzu trat er in da­mals natürlich sehr langwierigen und schwierigen Schriftver­kehr un­ter ande­rem auch mit Dittenberger, der zu dieser Zeit Rich­ter am Amtsgericht in Kitzingen war. In einem Schreiben vom 16. Juni 1946 teilt Martin Druc­ker dem frü­heren Senatspräsidenten Delbrück resigniert mit:
„Meine von Ihnen erwähnten Bestrebungen, den DAV wieder aufzurichten, kommen leider nicht von der Stelle, haupt­sächlich deshalb nicht, weil die Geneh­migung der Besatzungsmächte zur Gründung von Vereinen und insbeson­dere solchen, die sich über die Zonengrenze weg erstrecken sollen, nicht zu erlangen ist. Un­sere Bemühungen werden fortge­setzt.“
Gleichermaßen erfolglos blieben Druckers Bemühungen um die Wieder­begründung des Leipziger Anwaltvereins. Be­reits im August 1945 hatte der Leipziger Anwaltsausschuss, dem er vorstand, die Satzung zur Genehmigung ein­gereicht. Diese wurde jedoch durch die Besat­zungsbehörde ohne Gründe nicht erteilt.
Der erhaltene private Briefwechsel aus den letzten Lebensjahren zeigt erschütternd die hoffnungs- und trostlose Lage nach dem Zu­sammenbruch des Hitlerregimes. Drucker sieht die Zukunft in seinen Antwortbriefen wohl sehr realistisch. Trotzdem versucht er immer seinen Briefpartnern Hoffnung zu geben. Es bleibt bis heute unver­ständlich, wie der nun bereits über 77 Jahre alte Justizrat Dru­cker die enorme Arbeits­belastung unter den schwierigsten Arbeits- und Lebensbe­dingungen bewältigt hat. Die Korres­pondenz der letzten beiden Jahre behandelt immer wieder Erkrankungen. Eine ver­schleppte Lungenentzündung zwang Martin Drucker ins Krankenbett. Dieser Erkrankung erlag der große Leipziger Rechtsanwalt schließlich am 23. Februar 1947.
Nach Druckers Tod schreibt Max Friedländer an Erich List, welcher ei­nen warmherzigen Nachruf für seinen früheren Chef geschrieben hatte:
„Nicht mit Unrecht fragt der Engländer gern, wenn von einer Per­sönlichkeit die Rede ist; hat er Humor? Druckers Größe ist ohne seinen Humor nicht voll zu verstehen, ich meine dieser ist von seiner Gesamtpersönlichkeit nicht wegzudenken. Sein Gedan­kenflug ging so schnell und präzis, dass er in der unerwarteten Situation sofort alle Möglichkeiten der Gedankenverbindung ent­deckte oder spürte, keine Vieldeutigkeit übersah und so den Witz schon auf der Zunge hatte, wenn der andere noch kaum dass Stich­wort ausgespro­chen hatte.“[55]
Mit diesen Worten ist Friedländer sei­nem verehrten Kollegen wohl am nächsten gekommen.
Das Grab Martin Druckers und seiner Frau Margarethe auf dem Johannisfriedhof wurde, wie die vieler weite­rer bedeutender Leipzi­ger Persönlichkeiten, später bei der Umgestaltung zum Frie­denspark beseitigt. Im Unter­schied zu dem erwähnten NSDAP-Anwalt Fritzsche, der in Lindenthal als ‚Widerstandskämpfer‘ geehrt wird, erin­nert deshalb in Leipzig nichts an diesen außerordentlich muti­gen Anwalt. Dem Engagement von Dr. Fred Grubel ist es zu verdanken, dass im Okto­ber 1989 anlässlich des 120. Geburtstages erstma­lig Vertreter des Deut­schen Anwaltvereins und des Kolle­giums der Rechtsanwälte der damals noch existierenden DDR zu einer Gedenkveranstaltung in Leipzig zu­sammen ka­men. Sowohl Manfred Unger als auch der eigens aus New York angereiste Fred Grubel würdigten sehr einfühlsam das Lebenswerk Martin Druckers. In den nachfolgen­den Wirren der Wie­dervereinigung verfiel je­doch die gerade wieder aufgefrischte Er­innerung an die­sen mutigen Leipziger Juristen sehr schnell wieder dem Vergessen.

[1] Vergleiche hierzu insbesondere: Erika von Bose: Carl Emil Mannsfeld (1865-1945) Sächsischer Justizminister vom Juli 1929 bis März 1933 – eine biographische Skizze. In: Sächsische Justizgeschichte, Band 7, Von Weimar bis zur Gegenwart, Dresden 1998
[2] In: Europäisches Markenrecht, Dritter Teil: Vergleichende Dar­stellung der Markenrechte von den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Spanien, Portugal mit dem Deutschen Recht; Dr. Walter Rothschild, Berlin und Leipzig 1912/13
[3] Dieser Tag ist als „schwarzer Dienstag“ in die Bankengeschichte eingegangen
[4] Vergleiche: Vorwort von Dr. Fred Grubel zum Faksimiledruck der Festschrift Martin Drucker 1934; Scientia Verlag Aalen 1983.
[5] Vergleiche hierzu: Rosa Luxemburg im Gefängnis, Fischer Ta­schenbuch Verlag Frankfurt am Main 1987, S. 73
[6] Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Bestand: GSA 72/BW 5043
[7] Vergleiche hierzu: Volker Ebersbach, Noch Gräber können lügen, in: Leipziger Blätter 18, S. 16 f.
[8] Fred Grubel, Jüdisches Leben und Leiden in Leipzig, Erinnerun­gen 1908 bis 1939, Vorabdruck Leipzig 1997, S. 54 ff.
[9] Dr. Werner Arendt: Abrechnung mit den Petscheks, in: Das kleine Journal, Berlin vom 11.11.1932. Der Verfasser schrieb 1933 über diesen Prozess auch in der Weltbühne
[10] so gleichlautend in: Dresdner Neuste Nachrichten, Bochumer Anzeiger, Kasseler Neuesten Nachrichten, Forster Tageblatt vom 07.11.1932
[11] so berichtet das Acht Uhr Abendblatt Berlin vom 13.08.1932 wie folgt über eine Verhandlungspause: … eine Reihe von Nationalsozialisten, teils in Uniform, ergreifen bezeichnenderweise für Caro Partei und erklären, man müsste den Petscheks infolge ihrer unerhörten Provokation doch endlich den Mund stopfen. Es kommt zu bedrohlichen Szenen und mehrere Wachtmeister müssen eingreifen, um eine eventuelle „Attacke“ gegen die Petscheks und ihre Vertreter zu verhindern.
[12] Dr. Ignatz Jastrow, Der angeklagte Staatsanwalt, Dr. Walther Roth­schild, Berlin 1930
[13] Tempel rollt weiter! in: „Der Freiheitskampf“ vom 16.12.1930, S. 3. Siehe auch: Ein Disziplinarprozess gegen den Präsidenten der Sächsischen Landesversicherungsanstalt Richard Tempel, in: Kölnische Zeitung vom 09.12.1930, Nr. 671
[14] Festschrift der Juristischen Gesellschaft in Leipzig, Verlag von Veit & Comp. Leipzig 1909
[15] Vergleiche hierzu u.a.: Martin Drucker; Neuester und allerneue­ster Strafprozess; in: Juristische Wochenschrift 1924, S. 241 ff.
[16] Georg Witkowski, Von Menschen und Büchern. Erinnerungen 1863-1933, Leipzig 2003, S. 263 f.
[17] Juristische Wochenschrift 1922, S. 418
[18] Vergleiche hierzu auch: Ernst Mamroth, Aus den Erinnerungen eines alten Verteidigers. In: Festschrift für Martin Drucker, Leipzig 1934, S. 69
[19] 50 Jahre Leipziger Anwalt-Verein, Leipzig 1929
[20] in Max Friedländer, Erinnerungen (bislang nur veröffentlicht auf der Internetseite der Bundesrechtsanwaltskammer: www.brak.de)
[21] Vergleiche hierzu insbesondere: Gerhard Jungfer, Martin Drucker als Strafverteidiger, Anwaltsblatt 2003, S. 209
[22] Das Grab Julius Habers befin­det sich noch heute auf dem Leip­zi­ger Südfriedhof
[23] Hachenburg, Erinnerungen; a.a.O. S. 276
[24] Der Beitrag Martin Druckers „Auf dem Wege zum An­waltstande“ wurde auch in der Zeitschrift der Anwalts­kam­mer im Oberlandesgerichts-Bezirk Breslau Nr. 1/1928 veröf­fentlicht.
[25] Vergleiche hierzu insbesondere: Eberhard Haas/Eugen Ewig: Max O. Friedländer (1873-1956) Wegbereiter und Vordenker des Anwalts­rechts; in: Heinrichs/Franzki/ Schmalz/Stolleis, Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993
[26] in: Hubert Lang: Martin Drucker – Das Ideal eines Rechtsanwalts, Leipzig 1997, S. 91 ff. (im folgenden kurz: Lang; Drucker)
[27] Juristische Wochenschrift H. 41, S. 357
[28] Berliner Anwaltsblatt 1929, S. 191
[29] Akten zu Justizrat Johannes Schatz: HSTAD, Bestand SAK Nr. 556, 1901
[30] Max Hachenburg, Lebenserinnerungen eines Rechtsan­walts, Düsseldorf 1927
[31] Vergleiche hierzu: Fred Grubel, Erinnerungen a.a.O., S. 56
[32] „So geht die Sache nicht!“ in: Leipziger Tageszeitung für nationalsozialistische Politik, Kultur und Wirtschaft vom 19.08.1933
[33] Vergleiche hierzu: Ju­daica Lipsiensia, Leipzig 1994, S. 295 ff.
[34] So beschreibt Martin Drucker die Situation in einem nach 1945 niedergeschriebenen Lebenslauf, Nachlass Martin Drucker.
[35] Vergleiche hierzu insbesondere: Personalakte, Staatsar­chiv Leipzig, Landgericht Nr. 1424
[36] Vergleiche hierzu: Ohne Beispiel: Der Leipziger Rechtsanwalt Dr. Johannes F. – Mit­glied des NS-Rechtswahrerbundes Nr. 95; in: Juristische Zeitgeschichte 5, Baden-Baden 1999, S. 200 ff.
[37] Zitiert nach der Berufungsbegrün­dung des Rechtsanwalts Darboven vom 13.05.1935, S. 2; Institute of Contemporary History and Wiener Library Limi­ted London, Index Number: P.II.b. 138
[38] Zitiert nach Darboven; a.o.O., S. 4
[39] Die Entscheidung des Ehrengerichtshofes über die Beru­fung Mar­tin Druckers vom 01. Oktober 1935 befindet sich im Bundesarchiv, Abt. Potsdam, Sign. EGH dt. RA, Nr. 3181
[40] „Lasst jede Hoffnung hinter Euch, ihr, die ihr ein­tre­tet!“ (Dante, Göttliche Komödie; Hölle 3, 9; Letzter Vers der Inschrift über der Höllenpforte)
[41] Vergleiche hierzu: Interview mit Dr. Friedländer im November 1954, Institute of Contemporary History and Wie­ner Library Limited London, Number: P.II.b. 5
[42] Urteil des EGH vom 01.10.1935; a.o.O.; Seite 2
[43] Das Urteil ist vollständig abgedruckt in: Lang; Drucker, S. 96 ff.
[44] Über den Ausschluss aus der Rechtsanwaltschaft berichtete auch das Pariser Tageblatt vom 30.01.1935 (Justizrat Drucker aus dem Anwaltsstand ausgeschlossen) und vom 01.02.1935 (Das „Verbrechen“ des Justizrats Drucker)
[45] Reichsanwalt Dr. Karl Schneidewin vertrat ausweislich des vorlie­genden Urteils die Staatsanwaltschaft
[46] In einem Schreiben vom 22.01.1946 äußert Horn gegenüber Drucker Gewissenbisse wegen seiner damaligen Entscheidung.
[47] Zitiert nach der Personalakte Mar­tin Druckers; Staatsarchiv Leipzig, Landge­richt Leipzig Nr. 1387
[48] Der Nach­folger Druckers im Amt des DAV-Präsidenten Rudolf Dix hatte Heilberg noch anlässlich dessen 75. Geburtsta­ges am 14. Januar 1933 den Titel „Nathan der Weise der deut­schen Rechtsanwalt­schaft“ verliehen. Der Präsident der Schlesi­schen An­waltskammer und der Breslauer Stadt­verordne­ten war nur zwei Monate später von den NS-Horden aus Bres­lau ver­trieben wor­den.
[49] Vergleiche hierzu: Perso­nal­akte Martin Druc­kers; a.o.O.
[50] Staatsarchiv Leip­zig, Amtsgericht Leip­zig Nr. 1265
[51] Vergleiche hierzu: Gerald Wiemers, Martina Drucker zum 100. Geburtstag; in: Universität Leipzig, Heft ?/2003, S. ?
[52] Vergleiche hierzu: Gerald Wiemers, Re­nate Drucker zum 80. Geburtstag; in: Uni­versität Leipzig, Heft 4/97, S. 11
[53] Personalakte a.o.O. Blatt 24
[54] Dieser Vortrag ist vollständig abgedruckt in: Lang; Drucker, S. 105 ff.
[55] Brief ohne Datum von Max Friedländer an Erich List, zitiert nach einer Abschrift aus dem Nachlass Martin Druckers