Kapitel
- Martin Drucker (1869-1947) – Lebenserinnerungen
Inhaltsverzeichnis
I. Vorwort
Martin Drucker war insbesondere in den ersten drei Dekaden des vorigen Jahrhunderts einer der namhaftesten Anwälte Deutschlands. Besonders als Präsident des Deutschen Anwaltvereins hat er sich bleibende Verdienste erworben.
Sein Leben und Wirken geriet trotzdem weitgehend in Vergessenheit.
Sein Nachlass ist durch den Totalverlust seiner Kanzlei und durch die ebenfalls kriegsbedingte Vernichtung seiner Wohnung nur in geringen Teilen überliefert.
Die Lebenserinnerungen und die weiteren autobiografischen Schriften, die hier erstmals veröffentlicht werden, sind durch glückliche Umstände im Original erhalten geblieben.
Die Erinnerungen Martin Druckers sind wertvolle Dokumente der Zeit- und Personengeschichte. Sie sind bedeutsam für die deutsche Anwaltsgeschichte, wie auch für die Leipziger Stadtgeschichte.
Die Texte werden unverändert und vollständig abgedruckt. Nur dort, wo offensichtlich Schreibfehler vorlagen, wurde stillschweigend eine Korrektur vorgenommen. Um den typischen Sprachduktus zu erhalten, wurde das Manuskript auch nicht den heute geltenden Rechtschreibregeln angepasst.
Die unvollendet gebliebenen Lebenserinnerungen werden durch ein Nachwort ergänzt. Erwähnte Personen werden, soweit heute noch ermittelbar, in Kurzbiogrammen im Anhang näher vorgestellt.
Die handschriftlichen Manuskripte wurden durch Renate Drucker aus dem Nachlass ihres Vaters zur Verfügung gestellt. Sie hat auch unermüdlich zur Entzifferung der Handschrift beigetragen.
Zu ihren Ehren erscheinen aus Anlass ihres 90. Geburtstages diese Lebenserinnerungen.
Leipzig, den 11. Juli 2007
Hubert Lang
II. Lebenserinnerungen
Geboren bin ich am 06. Oktober 1869 in Leipzig und zwar in einem, wie mir erzählt worden ist, damals recht „herrschaftlichen“ Miethause der langen Nürnberger Straße[1] nächst dem Bayerischen Bahnhofe, das allerdings im Laufe der Jahrzehnte an der durchgreifenden Verhäßlichung jener Stadtgegend kräftig teilgenommen hat.
Ich bin in meinen Mannesjahren oft vorbeigegangen, habe mich aber nie überwinden können, das Gebäude zu betreten oder gar die Stätte, da meine Wiege stand, aufzusuchen. Dazu besaß ich wohl zuwenig historischen Sinn und vielleicht zuviel Abscheu vor herabgewohnten Behausungen.
Nicht um widerlicher Rassenschnüfflerei ein paar Brocken hinzuwerfen, sondern lediglich als Beitrag zur Familiengeschichte will ich über meine Abstammung Einiges hier festhalten.
Mein Vater Martin war als Sohn eines in Deutschland lebenden jüdischen Ehepaares am 30.07.1834 in Magdeburg geboren. Sein Vater hatte früher Michael Siegmund Levy Holländer geheißen. Der Zuname war eine Herkunftsbezeichnung. Denn der Vater meines Urgroßvaters war aus den Niederlanden nach Deutschland eingewandert und Hofjude beim Kurfürsten von Hessen in Kassel geworden.
Bei welchem Anlasse und aus welchen Gründen der Name Drucker an die Stelle des früheren Zunamens getreten ist, habe ich nie erfahren können.[2] Aber eine besondere Beziehung zu Holland muß dabei im Spiele gewesen sein. Denn dort ist der Name Drucker nicht selten, scheint sich auch von Holland aus in das Rhein- und Maingebiet verbreitet zu haben.[3]
Die meisten holländischen Juden sind bekanntlich Einwanderer aus Spanien gewesen, wo man sie vertrieben hatte. Dorthin werden die Ursprünge meiner väterlichen Familie zu verlegen sein.
Meine Großmutter dagegen stammte aus Frankfurt a.d.O., demnach vielleicht aus einer von Osten eingewanderten Familie. Sie führte den alten Namen Fraenkel oder, nach einer Heiratsurkunde, früher Moses[4]. Die Ehe meiner Großeltern väterlicherseits war sonach die Verbindung von Angehörigen der beiden großen, geschichtlich, kulturell und auch rituell vielfältig unterschiedenen Gruppen, in die das abendländische Judentum zerfiel.
Der Vater meiner Mutter, Karl Klein, war in Altenburg zur Welt gekommen. Dorthin war sein Vater oder schon sein Großvater aus Stettin eingewandert. Deutschblütig war er zweifellos, höchstwahrscheinlich auch norddeutscher Herkunft, ob gerade aus Pommern, ist nicht aufgeklärt.
Meine Großmutter[5] gehörte einer schon seit mehreren Generationen in Altenburg nachweisbaren Familie an, deren Stammesnamen Dölitzsch auf slawischen Ursprung hinweist.
Es ist demnach nach „Rasse“ und Stamm verschiedenes Erbgut, das wir sieben Geschwister Drucker, von denen allerdings der älteste Bruder Emil[6] schon im Alter von drei Jahren gestorben war, mitbekommen haben. Inwieweit dadurch unser körperlicher Habitus und seine Leistungen beeinflußt sein mögen, läßt sich niemals ermitteln und ist auch völlig gleichgültig.
Für die geistigen Fähigkeiten und die Charakteranlagen kommt die Abstammung nicht in Betracht, denn sie vererben sich in aller Regel nicht. Das spreche ich mit aller Entschiedenheit aus. Wäre dem anders, so müßten die Nachkommen eines Poeten oder Komponisten dichterische oder musikalische Leistungen aufweisen, die Kinder und Enkel von Dieben und Betrügern zum Stehlen und Fälschen geneigt sein, Feiglinge Angstmeier erzeugen.
Es ist ebenso wenig richtig, daß die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volksstamm die geistige oder sittliche Konstitution des Einzelnen entscheidend beeinflußt. Ein friesisches Fischerkind, vom unbewußten Säuglingsalter an im abgelegenen Alpendorfe unter bayrischen Holzfällern erzogen und aufgewachsen, nimmt deren Weltbild mit seiner Begrenzung und seinen sittlichen Hintergründen in sich auf und würde, in die nicht erlebte eigentliche Heimat zurückgekehrt, dort fremd und gegensätzlich wirken und sich empfinden.
Welche angeblich „jüdische“ Mentalität weist der Abkömmling einer seit 100 Jahren in Deutschland heimischen, zur christlichen Religion übergetretenen Familie auf, der, durch Gymnasium und Universität hindurchgegangen, eine Professur für Literatur oder Mathematik bekleidet? Die geistige und sittliche Persönlichkeit des Menschen wird durch seine Umwelt und seine Schicksale geformt, nicht durch die Ahnen.
Ganz ohne Beziehung auf mich will ich Einiges von meinen Großeltern erzählen. Meines Vaters Mutter und meiner Mutter Vater habe ich nicht gekannt. Die erstere war gestorben, als mein Vater kaum acht Jahre alt war. Auf einem der Miniaturbilder, die einige meiner Voreltern darstellen, erscheint sie als eine Frau von großer Schönheit; auffällig ist die Fülle ihres schwarzen Haares. Es war, wie mein Vater es beschrieb, so lang und so dicht, daß sie sich darein wie in einen Mantel hüllen konnte. Über ihr Wesen habe ich nicht viel erfahren, weil mein Vater bei ihrem Tode noch zu sehr Kind war, um sich darüber Rechenschaft geben zu können. Aber eine bedeutsame Tatsache ist zuverlässig überliefert.
Weil in Folge andauernden schweren Leidens meine Großmutter ihre beiden kleinen Söhne nicht im Hause behalten konnte und sollte, wurden sie zur Erziehung in das Haus eines evangelischen Geistlichen in einem braunschweigischen Dorfe verbracht. Ein ebenso für diesen Pfarrer wie für meine Großeltern ehrenvolles Zeugnis vornehm freisinniger Denkweise im Anfang der 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Proselyten zu machen, war nicht das Ziel des trefflichen Mannes.
Mein Vater ist erst nach Jahren zur evangelisch-lutherischen Kirche übergetreten.[7]
Mein Großvater, Karl Klein, geboren am 28. Februar 1800 oder 1802[8] war Advokat und Notar in Leipzig und dort sehr angesehen, wie seine langjährige Stellung als Stadtverordnetenvorsteher[9] bezeugt. Sein Bild, besonders der Ausdruck der Augen und der Mund, verrät wohl jedem Physiognomiker den kühlen, überlegenen Juristen. Im Familienleben war er streng und hielt bei seinen Kindern auf tadellose Aufführung in und außer dem Hause. Politisch bekannte er sich zu einer konstitutionell gemäßigten Demokratie, achtete aber auch andere ehrliche Überzeugungen.
Meine Großmutter hat uns oft erzählt, wie er mit ihrem Bruder, dem alten 48er Arthur Dölitzsch[10], der ein Republikaner ohne Kompromiß geblieben war, lange politische Auseinandersetzungen führte, in denen niemals ein Mißton aufklang. Gestorben ist mein Großvater schon 1862[11].
Seine Witwe, meine am 17. November 1807 geborene Großmutter, Konstanze, ist die Begleiterin unserer Kinderjahre bis zu ihrem zu Pfingsten 1887 (31. Mai) erfolgten Tode gewesen. Sie hatte einige Zeit nach dem Hinscheiden ihres Mannes die eigene Wohnung aufgegeben und lebte abwechselnd in den Haushaltungen ihrer drei verheirateten Töchter in Altenburg[12], Leipzig und Minden[13] in Westfalen, am meisten und längsten bei uns. In Leipzig hatte sie nicht nur ihre Freundinnen, alte Damen von einer etwas wunderlichen Grandezza, sondern auch eine sechsköpfige Enkelschar, der sie sich mit herzlichem Behagen widmete. Ihren Stolz setzte sie darein, daß wir Geschwister möglichst nur solche Strümpfe tragen sollten, die sie selbst gestrickt hatte, nicht das gekaufte „neumodische Zeug“. Da sie im Stricken märchenhafte Leistungen vollbrachte, hat sie ihren Willen zum großen Teile durchgesetzt.
Aber mehr als unsere Kinderbeine haben unsere Kinderseelen von ihr empfangen. Sie war eine ausgezeichnete Erzählerin von ihr selbsterfundener Geschichten. Das waren nicht Märchen mit Zauberern oder Wundern, sondern Schilderungen aus dem täglichen Leben der Menschen, stets in eine bald ernste, bald lustige Pointe auslaufend, nicht aber in ein moralisierendes Quid haec fabula docet[14]. Wir Geschwister und manche unserer Spielgefährten haben diesen schmucklosen und doch stofflich so reichen Erzählungen stundenlang mit gleicher Spannung gelauscht wie in späteren Jahren der Erstaufführung eines bedeutenden Bühnenstücks.
Ich entsinne mich, daß im Deutschunterricht auf dem Gymnasium einmal die Aufgabe gestellt wurde, eine Erzählung niederzuschreiben, die wir gelesen oder gehört hätten. Da fiel mir eine der Großmuttergeschichten ein, die vor Jahren mich gefesselt hatte; ich gab sie aus der Erinnerung mit den Worten der Großmutter wieder. Der Lehrer sprach hohe Befriedigung darüber aus und erkundigte sich nach meiner Quelle. Ich nannte sie und mußte ihm allerlei über die aus dem Vollen schöpfende Erdichterin berichten.
An meinen Großvater väterlicherseits[15] bewahre ich die zuverlässige Erinnerung, daß ich bisweilen auf seinen Knien sitzend am Fenster seiner in der Nonnenmühlgasse gelegenen Wohnung auf die Straße heruntergeblickt habe und von ihm über die beobachteten Vorgänge belehrt worden bin. Einzelheiten sind in meinem Gedächtnisse nicht haften geblieben, bin ich doch damals erst drei bis vier Jahre alt gewesen. Aber ich muß diesen Großvater doch fest in mein Herz geschlossen haben. Denn ich weiß genau, daß ich im August 1874 mit meiner Mutter bei deren Bruder, Dr. August Klein[16], in Süchteln aufhältlich war und dort aus den Gesprächen der Erwachsenen erfuhr, daß mein Vater sich nach Leipzig begeben habe, weil der Großvater gestorben sei.
Da schlich ich mich aus dem Familienzimmer hinaus und wurde dann in einem dunklen Raum angetroffen, wo ich bitterlich weinte, weil mein guter Großvater nicht mehr lebe. Diese Vorgänge sind niemals wieder von irgend einer Seite mir gegenüber erwähnt, also nicht auf solchem Wege in meiner Erinnerung lebendig erhalten oder auch nur aufgefrischt worden, sondern haben sich durch die seitdem verstrichenen, mehr als sieben Jahrzehnte in meinem Bewußtsein als eigenes Erlebnis erhalten.
Was ich sonst noch von diesem Großvater weiß, verdanke ich fast ausschließlich Mitteilungen meines Vaters. Es mag dazu dienen, meinen Kindern und Enkeln ein skizzenhaftes Ahnenbild vor Augen zu stellen.
Mein Großvater hatte etwa um 1843 in Leipzig mit einem Juden französischer Abstammung eine Seidenhandlung unter der Firma Leppoc & Drucker gegründet. Dieses Unternehmen in der damals vornehmsten Handelsverkehrsstraße, der Katharinenstraße[17], gewann rasch Ansehen und Bedeutung. Ein Zeichen des fortschrittlichen Kaufmannsgeistes, der meinen Großvater beseelte, ist sein Entschluß gewesen, sich zum Einkauf selbst nach der Türkei zu begeben. Solche Reisen waren in jener Zeit ebenso beschwerlich wie gefährlich. Sie konnten auf langen Strecken, so in den Balkangebieten nur zu Pferde ausgeführt werden.
Das hat mein Großvater mehrere Male getan. Wunderbarerweise ist ihm nie Ernstliches zugestoßen. Aber ehe er mit den Sitten jener östlichen Landstriche genügend vertraut war, hat ihm seine Unkenntnis des dortigen zivilisatorischen Brauchtums manchen Streich gespielt. Auf dem ersten Ritt durch Nordgriechenland wurde in einer Herberge ihm ein Huhn als Mahlzeit angeboten. Solcher Unterbrechung des landesüblichen Schaffleisches froh, ließ er sich den Vogel braten. Als aber sein Messer die knusprig aussehende Speise zerteilte, verging dem Hungrigen der Appetit. Im Inneren des Hühnchens fanden sich alle Eingeweide vor. Daran stieß sich die griechische Gourmandise nicht.
Bei der Rückkehr von einer dieser Orientreisen traf der Großvater die Stadt Leipzig in heller Aufregung an. Das altberühmte Hotel de Pologne in der Hainstraße stand in Flammen und gefährdete infolge seiner Größe die Innenstadt beträchtlich[18]. Aber man wurde des Feuers Herr. Als der Druck der Angst von der Einwohnerschaft gewichen war, schlug die Stimmung um, wie es bei solchen Ereignissen gewöhnlich zu geschehen pflegt. Man erzählte sich allerlei Anekdoten von der Brandstätte.
Ein Mann, der aus einem oberen Stockwerke an einem Blitzableiter oder am Fallrohr herabgeklettert war, soll auf die Frage, welche Gedanken er auf diesem halsbrecherischen Wege gehabt habe, erwidert haben: „Als ich an der zweiten Etage herunterrutschte, dachte ich: „Sieh da, die Müllern hat auch noch Licht!“
Dieses Histörchen trägt den Stempel der Erfindung an sich. Nicht so ein anderes, das die Entdeckung des Feuers zum Gegenstand hat. Ein Hotellehrling hatte bemerkt, vielleicht fahrlässig verursacht, daß im Keller ein Spiritus enthaltendes Gefäß in Brand geraten war, und rannte nach oben, um das Unheil zu melden. Da er aber mit einem Sprachfehler behaftet war, vermochte er vor Aufregung kein verständliches Wort herauszubringen. Mehrmals setzte er an, kam aber ein paar gestammelte Silben nicht hinaus. Da herrschte ihn ein anwesender Polizeidiener, der vermutlich berufliche Erfahrungen mit Stotterern gemacht hatte, energisch an: „Wenn Du’s nicht sagen kannst, so sing es doch!“ Und nun erklang nach der geläufigen fröhlichen Weise des Liedes vom Jungfernkranz die Meldung:
„Der Spiritus im Keller brennt
und alles steht in Flammen …“ –
Die Reisen meines Großvaters trugen goldene Früchte und verschafften der Firma auch außerhalb ihres Sitzes viele Kunden. Darunter mischten sich auch zahlreiche polnische und russische Juden, die ihre Fahrten zur Leipziger Messe benutzen, um bei „Leppoc & Drucker“ seidene Tücher und andere Manufakturwaren einzuhandeln, die sonst nur schwer und zu höheren Preisen, als der direkte Import zuließ, erhältlich waren.
Erwünscht waren dies Aufkäufer wegen ihrer allzu östlichen Gewohnheiten gerade nicht. Aber sie wurden nicht minder gewissenhaft bedient, als die gewichtigen Kaufleute, die sich bei Leppoc & Drucker um Orientware bemühten. Die Denk- und Ausdrucksweise jener kleinen Leute wurde bisweilen durch komische Szenen bloßgelegt.
So trat einmal einer der polnischen Juden in den Verkaufsladen und verlangte seidene Schals zu sehen. Da diese Ware auf dem obersten, vom Fußboden aus nicht erreichbaren Regalbrett lag, wendete mein Großvater sich an einen Lehrling mit der Anweisung: „Geben Sie ihm eine Tritt!“ Das verstand der Kaufliebhaber falsch. „Wie heißt Herr Drucker, hab ich doch noch gar nicht geboten!“ Er glaubte sich durchschaut.
Ein andermal erschien ein besonders unerfreuliches Exemplar jenes Menschenschlags, schmierig, verwahrlost und eine widerliche Atmosphäre um sich verbreitend. Das war meinem Großvater zuviel. Er schreckte vor der üblen Erscheinung zurück und sagte verächtlich: „Pfui, Jeiteles, wie riecht Ihr!“ Darauf die spitzfindige Antwort: „Sie irren, Herr Drucker, Sie riechen, ich stink!“
Das Wachstum des Seidenhauses Leppoc & Drucker vergrößerte sich in solchem Umfange, daß die Inhaber den großen Schritt wagten, eine Einkaufsfiliale in Hongkong zu errichten. Von dort aus importierten sie unter Echtheitsgarantie chinesische Seidenstoffe und andere asiatische Textilien. Aber der Leiter dieses Zweiggeschäfts, meines Vaters einziger Bruder Heinrich[19], war vielleicht doch als Kaufmann den Schlichen und Kniffen der fernöstlichen Geschäftspartner nicht gewachsen.
Nach mehreren erfolgreichen Jahren erlitt die Hongkongfiliale gewaltige Verluste. Aus alten Geschäftsbriefen meines Onkels, die ich vor Jahrzehnten selbst gelesen habe, die aber inzwischen durch Brand zugrunde gegangen sind, ist zu entnehmen, daß er das Opfer eines groß angelegten Betrugs geworden war. Die englischen Behörden in Hongkong sorgten nicht für Wiedergutmachung, waren dazu vielleicht auch nicht imstande oder nicht geneigt, denn die Erschütterung des deutschen Eindringlings auf den östlichen Markt kam ihnen wohl nicht unerwünscht. Deshalb wurde das Hongkonggeschäft liquidiert.
Den Ersatz des Schadens übernahm mein Großvater gegenüber seinem Sozius allein, ohne rechtliche und nicht einmal mit moralischer Verpflichtung, sondern lediglich in übervornehmer Bewertung der Tatsache, daß sein Sohn der Geschäftsführer gewesen war. So dachte und handelte mein Großvater, der Handelsjude! Die Summe, mit der er den Sozius schadlos hielt, betrug nicht weniger als 100.000 Taler. Es war der größte Teil seines Vermögens. Deshalb war nach seinem Tode der Erbteil meines Großvaters unbeträchtlich, zumal der Großvater eine Witwe[20] und aus einer zweiten Ehe zwei Kinder[21] hinterließ.
Ich bin nicht darüber unterrichtet, wie lange die Firma Leppoc & Drucker bestanden hat. Vermutlich ist sie, nachdem auch Leppoc ohne Hinterlassung eines Sohnes verstorben war, liquidiert worden, weil keine der beiden beteiligten Familien einen Nachfolger stellen konnte, denn auch mein Onkel Heinrich hatte sich anderen Aufgaben zugewendet und starb zu San Franzisko im besten Mannesalter.
Aber auf den Nimbus, der die Firma umgeben hatte, bin ich noch in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts aus berufenem Munde hingewiesen worden. Bei irgendwelchem gesellschaftlichen Zusammentreffen kam Kommerzienrat Georg Becker, Chef des bedeutenden Leinenhauses, Carl Aug. Becker, der etwa 10 Jahre älter als ich war, mit Stolz auf die frühere Kaufmannschaft unserer gemeinsamen Heimatstadt zu sprechen. „Ja, rief er aus, wenn ich nur an die Katharinenstraße denke, was wohnten dort nebeneinander für Firmen. Da las man Leppoc & Drucker, Hermann Samson, Carl Aug. Becker.“ Er nannte noch einige andere. Aber in mir ließen seine Worte noch einmal das Bild des kühnen und gerechten Handelsherrn entstehen, meines Großvaters Siegmund Drucker. Sein Grab auf dem jüdischen Friedhof in Leipzig habe zuletzt ich pflegen lassen, bis diese Kultstätte von der Nazimeute 1938 verwüstet wurde.[22]
Wenn nun der Rückblick auf meine Vorfahren sich bis zu meinen Eltern herangeschoben hat, so steigen Hemmungen in mir auf und Zweifel, ob es sich einerseits mit den Erfordernissen der Unbefangenheit, zum anderen mit dem Imperativ der Pietät in Einklang bringen läßt, das Lebens- und Charakterbild der eigenen Eltern aus dem Schrein des Herzens herauszuholen und zur Schau zu stellen. Ich entscheide mich dafür, dem Wunsche meiner Kinder und meiner Schwiegertochter mich zu fügen. Maßgebend ist die Einsicht, daß ohne meine Niederschrift meinen Enkeln die Urgroßeltern fast so fremd bleiben würden, wie zu meinem Leidwesen die meinigen mir. Und da ich fest entschlossen bin, die zu berichtenden Tatsachen nicht durch Sentiments überwuchern zu lassen, wird sich irreführendes Verzeichnen vermeiden lassen.
Meine Mutter Marie, am 19. Dezember 1841 in Leipzig geboren, hat im Kreise von fünf oder sechs Geschwistern[23] die Jugend eines Stadtkindes aus einer in geordneten und auskömmlichen Verhältnissen lebenden höheren Bürgerfamilie verbracht, ohne daß bemerkenswerte Ereignisse überliefert wären. Es hat damals in Leipzig unter der Bezeichnung Ratsfreischule[24] – das Gebäude steht heute noch am Fleischerplatz – eine Schule gegeben, die nicht etwa, wie der Name anzudeuten scheint, für Bedürftige bestimmt war, sondern in der die Kinder der städtischen Beamten und Angestellten kostenlos unterrichtet wurden. Vermutlich genossen die Kinder meines Großvaters dieses Benefizium infolge seiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Vorsteher der Stadtverordneten. Diese Ratsfreischule ist unter Leitung eines hervorragenden Direktors, mit dessen Tochter meine Mutter und ihre Schwestern eine bis zum Tode gepflegte, herzliche Freundschaft verbunden hat, offenbar eine ausgezeichnete Unterrichtsanstalt gewesen, die weit über den gewöhnlichen Schulbetrieb hinaus Kenntnisse vermittelte und wohl mindestens das Bildungsziel der späteren Höheren Bürgerschule erstrebte.
Noch in meinen Gymnasialjahren habe ich wahrgenommen, wie gut meine Mutter in deutscher Literatur beschlagen war und wie mühelos ihre Allgemeinbildung ihr ermöglichte, mir sogar meine lateinischen Lernaufgaben abzuhören. Neben dem Schulunterricht war meine Mutter auch im Klavierspiel ausgebildet worden. Mit meinen Geschwistern und mir hat sie viel vierhändig gespielt, später aber das Spiel liegen lassen müssen, weil ihr die Mühen des großen Haushalts, der in der Regel aus 11 Personen bestand, keine Zeit ließen.
Als meine Mutter etwa 14 Jahre alt geworden war, errichtete der durch die Gründung der Schrebergärten in Deutschland unsterblich gewordene Pädagoge Dr. Schreber eine Privatturnanstalt, die namentlich auch das damals erst aufkeimende Mädchenturnen pflegen sollte. Mein Großvater ließ seine Töchter dort eintreten. Diese Turnerei meiner Mutter halte ich beileibe nicht für einen wichtigen Vorgang in ihrem Leben, sondern erwähne sie, weil der Besuch jener Turnkurse sich in einer für die gesellschaftlichen Auffassungen meiner Großeltern bezeichnenden Weise abwickelte.
Die Familienwohnung lag mit der „Expedition“ (so hieß man damals die Geschäftsräume der Advokatur, ehe mit der 1879 sich mehr und mehr durchsetzenden Verpreußung der Ausdruck Rechtsanwaltsbureau sich einbürgerte) vereinigt, in der Katharinenstraße[25], die Schreber’sche Anstalt in der Zeitzer an der Ecke der Hohen Straße, etwa eine Viertelstunde entfernt. Aber – außerhalb der Stadt, vor dem Peterstor, das sich am Ausgang der Petersstraße dort, wo nach Niederlegung der alten Peterskirche (in der ich 1885 konfirmiert worden bin) das Gebäude der Reichsbankhauptstelle errichtet worden ist. Von diesem Orte bis zur damaligen Schreberschen „Orthopädischen Schule“ geht man jetzt etwa fünf Minuten. Aber allein durften die Mädchen aus anständiger Bürgerfamilie die Stadt nicht verlassen. Ihnen mußte ein Advokatenschreiber meines Großvaters in angemessenem Abstand folgen und sie ebenso wieder heimwärts geleiten. So wollten es die Gebote der Schicklichkeit selbst noch in den Jahren nach 1848.
Kennen gelernt hatten meine Eltern sich im Hause meines Großvaters, bei dem mein Vater nach dem juristischen Staatsexamen als Hilfsarbeiter, wie man heute sagen würde, Referendar, oder damals wohl sagte Auskultator[26], beschäftigt war. Aber erst, nachdem diese Tätigkeit längst beendet, mein Großvater auch 1862 gestorben war, ist am 28. Februar 1865 die Ehe geschlossen worden. Sie ist ein reiner Neigungsbund gewesen, und das soll hier aus meiner und aller meine Geschwister fest gegründeten Überzeugung froh und stolz ausgesprochen werden, geblieben, bis sie nach nahezu 50jähriger Dauer durch den Tod meines Vaters am 15. November 1913 gelöst wurde. Wohl uns, daß unsere Eltern uns eine solche Ehe vorgelebt haben!
Freilich hatten wir nicht immer eitel Sonnenschein gestrahlt. Auch Leid und Sorge hat sich eingestellt, schon in den ersten Jahren. Am 25.[27] März 1866 war das erste Kind geboren worden; nach meines Vaters Mutter wurde ihm der Vorname Emil gegeben. Dieser mein Bruder, dessen Bilder in einem überaus schönen Gesicht ein großes ausdrucksvolles Augenpaar zeigen, erkrankte im April 1869 an Diphtherie, die ihn nach wenigen Tagen (11. April 1869) hinwegraffte. Unter diesem Schicksalsschlage hat meine Mutter unbeschreiblich schwer gelitten. Das haben meine am 23. Februar 1868 geborene Schwester Johanna und ich in unseren Kinderjahren deutlichst bemerkt. Wir selbst hätten in unserer frühsten Jugend sicherlich keine echte Trauer über den Tod des Bruders empfunden, zumal ich erst geraume Zeit später geboren war. Aber aus der ersten Zeit erwachenden Verständnisses weiß ich noch ganz deutlich, daß um jenes Ereignis der dunkle Schleier ärgsten Herzeleids sich unzerreißbar webte. Wenn die Mutter bei besonderen Gelegenheiten, etwa an Emils Geburts- oder Todestag oder als sie für uns das Weihnachtsfest rüstete, uns von dem dahingegangenen Bruder Liebes und Gutes erzählte, so vermochte sie die sie ergreifende Erschütterung unseren scharfen Kinderaugen nicht zu verbergen und in unserer Gemüter trat Trostlosigkeit. Wir haben uns immer gescheut, den Vornamen Emil, auch wenn er einem fremden Kind eignete, auszusprechen, als ob wir schon dadurch an den Schmerz unserer Mutter rührten, der zu unserem eigenen Schmerz geworden war. Vielleicht hat meine Mutter den Heimgang ihres Kindes deshalb nicht zu verwinden vermocht, weil er durch seltsame Geschehnisse in übersinnliche Unheimlichkeit verflochten zu sein schien.
Adelheid, die älteste Schwester meiner Mutter, war an den Arzt Dr. Gustav Rothe in Altenburg verheiratet, der, nachdem er im Jahre 1848 als Pfarramtskandidat wegen angeblich hochverräterischer Umtriebe Deutschland hatte verlassen müssen, in Nordamerika den ärztlichen Beruf ergriffen und mehrere Jahre ausgeübt, dann aber nach seiner Rückkehr auch in Deutschland Medizin studiert und die Approbation sowie den Doktortitel erlangt hatte. Diese doppelte Ausbildung hatte ihm ungewöhnlich weitgespannte Kenntnisse verschafft, die ihn in Verbindung mit vorzüglichen Charaktereigenschaften recht bald zu bestem Ruf und ausgedehnter Praxis kommen ließen. Ende der 60er Jahre und noch lange danach war in Deutschland die Diphtherie wohl der gefürchtetste, weil erntereichste Würgeengel der Kinder.
Rothe, mit der damaligen Therapie unzufrieden, grübelte nach einer neuen, wirksameren Behandlungsweise, meines Wissens in Anlehnung an Gedanken, die er aus Amerika mitgebracht hatte. Aber, ehe seine Forschungen und Versuche sich zum Erfolge verdichteten, wurde sein einziges Kind, Lissy, kurz vor Vollendung des 3. Lebensjahres von der furchtbaren Krankheit befallen und erlag ihr alsbald.
Deshalb war meine Mutter, als bei Emil nach dem dritten Geburtstage die Diphtherie auftrat, von Anfang an in nur zu berechtigter banger Sorge gewesen. Und auch ihr Kind vermochte Gustav Rothe, der den Leipziger Ärzten zur Seite trat, nicht zu retten. Die Parallelität mit dem Schicksal der älteren Schwester wendete den eigenen Kummer in hintergründiges Grübeln. Diese Seelenqualen teilten sich auch anderen Familienmitgliedern mit. Die jüngere Schwester meiner Mutter, Elise, seit 1870 mit dem Fabrikbesitzer Hermann Rocholl in Minden (Westfalen) verheiratet, schrieb, als ihre erstgeborene Tochter Charlotte das dritte Jahr vollendet hatte, an meine bei uns in Leipzig wohnende Großmutter, daß sie mit Furcht und Zittern in ihres Kindes viertes Lebensjahr eingetreten sei und Gott danken wolle, wenn es ohne Verwirklichung ihrer Ängste vorübergehe. Aber ihre Hoffnung war eitel: auch Lotte Rocholl fiel im vierten Lebensjahr, wie Lissy Rothe und Emil Drucker, der Diphtherie zum Opfer. In diesem grausigen Gleichtritt des Verhängnisses fehlt für rationelle Erkenntnis jeder Zusammenhang. Aber nach einem solchen suchen und rätseln unwillkürlich die schweifenden Gedanken.
Wenige Jahre nach diesen Geschehnissen war unserem Onkel Gustav Rothe vergönnt, seine Studien über Diphtheriebehandlung mit durchschlagendem Erfolge belohnt zu sehen. Er hatte eine Serumbehandlung geschaffen, die zwar später von anderen erheblich weiter ausgebaut und verbessert worden ist, aber ihn in den Stand setzte, zahllose Kinder, fremde Kinder!, zu retten. Als bald danach ein medizinischer Kongreß nach London einberufen wurde, war Dr. Gustav Rothe aus der kleinen deutschen Stadt Altenburg unter den Geladenen und wurde der Versammlung von dem berühmten Arzt Lord Lister als der Mann präsentiert, der sich um die Bekämpfung der Diphtherie unvergängliche Verdienste erworben habe.
Das Leid meiner Mutter um Emils Hinscheiden brach noch einmal in erschütternder Schreckhaftigkeit durch. Das kleine Grab befand sich am Hauptwege der vierten Abteilung des Neuen Johannesfriedhofs, schräg gegenüber der Grabstätte des Großvaters Klein, die später auch die Großmutter aufgenommen hat. Meine Mutter nahm häufig meine Schwester Hanna und mich zum Besuche des liebevoll gepflegten Hügels mit. Einmal aber, als sie allein hinausging, es wird um 1880 gewesen sein, fand sie das Grab nicht mehr vor! Zunächst glaubte sie wohl, versehentlich in eine andere Abteilung des langgestreckten Friedhofs geraten zu sein. Aber die Nachbarschaft der väterlichen Ruhestätte behob diesen Irrtum. Die Augen der völlig verstörten Frau suchten erneut die wohlbekannte Stätte auf: da fand sie die ihr geläufig gewordenen Namen auf den Tafeln der benachbarten Gräber, aber dort, wo Emil zur Ruhe gebettet worden war, zeigte sich ein fast frischer Hügel mit dem Namen eines anderen Kindes! Meine entsetzte Mutter brachte die grausige Wahrnehmung zu meinem Vater. Als er sich von der Richtigkeit der zunächst kaum glaublichen Mitteilung überzeugt hatte, verlangte er Rechenschaft von der Friedhofsverwaltung. Die Erörterungen ergaben ein geradezu beispielloses Versehen, eine gröbste Leichtfertigkeit untergeordneter Friedhofsangestellter. Ein in der Nähe befindliches älteres Grab hatte nach Ablauf der Belegungszeit, da Erneuerung nicht verlangt worden war, den Bestimmungen gemäß aufgelassen werden sollen. Mit ihm war Emils Hügel verwechselt worden! Die Friedhofsbehörde selbst war über diese Liederlichkeit empört. Sie versuchte die Eltern des neu bestatteten Kindes zu Aufgabe des Grabes zu veranlassen – sie lehnten ab; Zwang kam nicht in Frage, weil ihnen die Stelle auf zwanzig Jahre verbrieft war. Auch meinen Eltern ging die Inbesitznahme des entweihten Grabes oder die Einrichtung eines neuen an einer anderen Stelle gegen alles Gefühl. So blieb es bei der amtlichen Grabschändung und bei der brennenden Wunde, die namentlich meiner Mutter zugefügt worden war.
Soll ich nun vom Leben, Wesen und Wirken meines Vaters in diesen Blättern aufzeichnen, was ich darüber erfahren und selbst wahrgenommen habe, so muß ich besorgen, daß die Fülle der Erinnerungen den Rahmen dieser Niederschrift sprengen werde, deren Zweck doch nur sein kann, den Enkeln und Urenkeln ein Abriß der Familienüberlieferung und Umrißzeichnungen von Ahnenbildern zu hinterlassen. Es ist auch mißlich, daß meinem Berichte, dem kein systematisches Quellenstudium zugrunde liegt, die historische Geschlossenheit und Einheitlichkeit fehlen muß und er nur aus Miszellen bestehen kann, die wegen ihrer spontanen und regellosen Herkunft aus meinem Gedächtnisse nicht im zutreffenden Wertverhältnisse zu einander und zum Ganzen der berührten Lebensläufe stehen. Wer dies disiecta membra[28] aneinanderzufügen unternimmt, wird nur einen Torso erzielen, und wohl jeder Versuch einen anderen. Die Ergänzung zur Statue bleibt, wie in der Skulptur, im Nachdenken und der Phantasie anheimgestellt.
Mein Vater hat in Leipzig die Thomasschule besucht, auch in jener Zeit ein Kleinod unter den Gymnasien. Er war Abiturient von Michaelis 1851. Sein Wunsch war Musiker zu werden. Dazu war er ungewöhnlich gut veranlagt. Er besaß das absolute Gehör, sang sehr schön und spielte so ausgezeichnet Geige, das er trotz seiner Jugend auf Veranlassung seines Lehrers Rietz, der als Mendelssohns Nachfolger in der Leitung des berühmten Leipziger Konservatoriums in die Musikgeschichte eingegangen ist, bisweilen aushilfsweise im Theaterorchester mitwirkte. Aber der Beruf eines Künstlers entsprach nicht den von meinem Großvater vertretenen Grundsätzen bürgerlicher Solidität. Sie haben damals noch sehr weite Verbreitung gehabt. Mein Vater erzählte uns schmunzelnd ein allerliebstes Histörchen, daß er auf der Thomasschule erlebt hatte. Als dort ein Schüler vorzeitig abging, wurde er von einem alten Professor in fast verächtlichem Tone gefragt: „Was will denn D.[29] nun werden?“ Auf die Antwort: „Ich will mich der Musik widmen“ wurde er mit den Worten verabschiedet: „So, so. Aber das sage ich D.: in meinen Hof kommt er mir nicht!“ Wenige Jahre danach zählte D. zu den bekanntesten Pianisten Deutschlands.
Derart amusisch wie seine dünkelhaften Pauker, empfand mein Großvater nicht. Seine ablehnende Haltung gegenüber den Wünschen seines Sohnes entsprang der Sorge um dessen wirtschaftliche Zukunft. Der Sohn verschloß sich den Mahnungen des Vaters, dessen Lebensklugheit er vertraute, nicht; entsagte der Künstlerlaufbahn und ging nach Heidelberg, um Rechtswissenschaft zu studieren. Die Wahl gerade dieser Fakultät war ein Gebot seiner Geistesanlage. Ihm zu eigen war ein überaus kritischer Verstand, der die Grenzen der Begriffe und ihre Inhalte mit aller Schärfe zu erkennen und in Wort wie Schrift zu wahren wußte. Aber in ihm wurzelte auch ein sicheres Gefühl für Recht und Gerechtigkeit, daß ihm bis ans Ende seiner Tage treu geblieben ist. Nie hat er eine Sache vertreten, wenn nach seiner Überzeugung dem Klienten zwar das formelle Gesetz, aber nicht die Moral des Rechts zur Seite stand. Utilitätszugeständnisse auf diesem Gebiete der Entschlüsse hat er sich niemals gestattet.
In Heidelberg sprang er in das Corps Rhenania[30] ein, dasselbe, dem von der Wende des Jahrhunderts an sein und mein späterer Sozius Eckstein angehört hat. Aber er scheint dem Zwange des Verbindungserlebens keinen rechten Geschmack abgewonnen zu haben, denn er hat sich nach nicht langer Zeit von dem Corps getrennt. Das ist in aller Freundschaft geschehen; Eckstein hat den Namen meines Vaters in den Listen der damaligen Corpsangehörigen gefunden. Ich glaube, daß die Abkehr vom Verbindungswesen unter dem starken Einflusse eines anderen Studenten erfolgt ist, den mein Vater in Heidelberg kennengelernt hatte, des rechtsbeflissenen Conrad Rieger aus Cöthen in Anhalt, der ihm einige Semester voraus war. Aus dieser Begegnung ist ein Freundschaftsbündnis von seltenster Innigkeit und Tiefe erwachsen, das bis zu Riegers erst in diesem Jahrhundert eingetretenen Ableben gedauert und auf die beiden Familien sich erstreckt hat. Damals in Heidelberg traten die beiden Studenten sich aber nicht infolge der übereinstimmenden Berufswahl näher, sondern weil sie weitgehende Übereinstimmung in fast allen ihren Anschauungen entdeckt hatten und dabei auch auf die gleiche Liebe zur Musik gestoßen waren.
Ich will hier einschalten, daß der spätere Justizrat Conrad Rieger jahrzehntelang an der Spitze des Musiklebens seiner Vaterstadt Cöthen gestanden hat und daß es ihm zuzuschreiben ist, wenn es die ersten Künstler nicht verschmähten, in diesem kleinen Orte mit denselben Programmen aufzutreten wie in Leipzig, Köln, Berlin und auf Reisen im Auslande. Ich selbst habe in Cöthen manchem ausgezeichneten Konzert beigewohnt und bei den sich daran anschließenden geselligen Zusammenkünften einige Künstler von Weltruf in persönlichem Gespräche kennen gelernt.
Conrad Rieger wurde Jurist nicht aus innerer Berufung, sondern wohl deshalb, weil unter allen akademischen Laufbahnen die des Advokaten ihm als diejenige erschien, in der er die Freiheit seines Wesens am leichtesten werde behaupten können. In einem des Freundes Lebensgeschichte witzig glossierenden Hochzeitscarmen hat mein Vater Conrads Berufswahl als Zufall erscheinen lassen. Das ist eine Übertreibung, aber so hübsch dargestellt, daß ein paar Verse hier wiedergegeben sein mögen. Rieger sei, so schildert der Dichter, noch bis zur Stunde der Immatrikulation in größter Verlegenheit hinsichtlich der zu wählenden Fakultät gewesen und habe unschlüssig in der Reihe der Angemeldeten geharrt. Aber:
Da wird ein anderer inskribiert
der sich als ictus prädiziert.
Riegerus denket: „I für mich!
da werde auch ein ictus ich.“
(Ictus = heute vergessene Abkürzung von iuris consultus.)
Die Heidelberger Semester meines Vaters sind, wie seine Kolleghefte beweisen, dem Studium in erster Linie gewidmet gewesen, aber auch mancher übermütige Studentenstreich herkömmlicher Art ist im Freundeskreise ausgeheckt worden. Wir Kinder haben an den Erzählungen darüber viel Belustigung gehabt. Aber ich muß darauf verzichten, hier diesen Ulk zu registrieren. Wohl aber sei ein besonders hübsches Abenteuer berichtet, das meines Vaters Charakterhaltung gut beleuchtet.
Er hatte von den in einigen Badeorten errichteten Spielbanken gehört und fuhr eines Tages nach Bad Homburg, um sich den Betrieb anzusehen. Obwohl er nie in seinem Leben sich an einem Glücksspiel beteiligt hat, auch nicht an einem unschuldigsten Skat, denn er kannte kaum die Karten, oder etwa einer staatlichen Lotterie, setzte er doch einen mäßigen Betrag am Roulettetische. Und nun ging’s, wie in Spielerromanen so oft gelogen wird: der blutige Neuling gewann und gewann, bis schließlich mehr als sechshundert Goldgulden aus seinem bescheidenen Ersteinsatz geworden waren. Aber der Rausch des Gewinnens bekam keine Macht über ihn. Kaltblütig strich er die große Summe ein und begab sich zu einem Bankier, dem er den runden Betrag von sechshundert Gulden mit dem Auftrage übergab, ihm dieses Geld unter keinen Umständen zurückzugeben, auch wenn er es noch so dringlich verlangen sollte, sondern ihm nächsten Tags nach Heidelberg zu schicken. Der Bankier versprach das, mein Vater begab sich noch einmal ins Casino, das Spielglück wiederholte sich aber nicht und er reiste zurück. Nach zwei Tagen erschienen auf seiner Bude ein paar Freunde, an der Spitze Conrad Rieger, genannt „Der Große“. Sie hatten ihn vermißt. „Wo bist du gewesen, Nabob?“, so inquirierte streng der Große. „Ich habe einen Ausflug gemacht.“ „Wohin ?“ „Muß ich das sagen?“ „Du warst doch nicht etwa in Homburg?“ „Ja, dort war ich!“ „Und hast natürlich gespielt und dein Geld verloren!“ Der Inkulpat schwieg und beschwor damit eine ernste Philippika herauf, die er sich von dem älteren Freunde gefallen lassen mußte wie der Fuchs vom Corpsburschen. Aber noch waren die Vorwürfe und Ermahnungen des Großen nicht beendet, als zum grenzenlosen Erstaunen der Besucher der Geldbriefträger nach Herrn Martin Drucker fragte, und nachdem der Quartiergeber ihn rekognosziert hatte, ihm einen schwer mit Siegeln belasteten Wertbrief aushändigte. Wortlos überreichte „Naböbchen“ ihn dem Großen, der starr vor Staunen das Übersendungsschreiben des Homburger Bankiers und die 600 Goldgulden betrachtete. Trotz der betonten Verwerflichkeit des Glücksspiels hatte der Große und die Freunde nichts gegen die Verwendung eines Teils des Sündengeldes zu einem solennen Mahl einzuwenden. Aber tiefsten Eindruck hatte, wie „Onkel Rieger“ uns später erzählt hat, die kühle Überlegung gemacht, mit der das Naböbchen den Glückszufall des Kasinos gemeistert hatte.
In Heidelberg sind wohl auch die „Blüten aus dem Treibhause der Lyrik“, wenigstens zum Teil, entstanden, jene in ihrer Art einzig dastehende Sammlung parodistischer Gedichte, die mein Vater erstmalig, als er noch nicht 20 Jahre war, im Verlage von Johann Ambrosius Barth in Leipzig anonym veröffentlichte. Die Eleganz der Verse und die Grazie des bei aller Treffsicherheit niemals verletzenden Spottes haben das kleine Buch zu einer Delikatesse für literarische Feinschmecker gemacht. Nach dem Verfasser, den streng geheimzuhalten der mit ihm befreundete Verleger[31] sich verpflichtet hatte, ist vielfach geforscht worden; aber sein Name ist immer nur von Mund zu Mund in einem engen Kreise Eingeweihter umgegangen. Vor Jahrzehnten erschien einmal aus der Feder von Richard M. Meyer, wenn ich mich nicht irre, ein Aufsatz über die Satire in der deutschen Dichtung, der unter Heraushebung der „Blüten“ als einer vollendeten Leistung bedauerte, daß der Verfasser sich nicht nenne. Ich bat meinen Vater um die Erlaubnis, den Professor aufzuklären, erhielt sie aber nicht. Umsomehr erstaunte ich, als 30 Jahre nach meines Vaters Tode in einer Parodiensammlung von Dr. Ernst Heimeran, München, eins der Gedichte mit Angabe des Autors abgedruckt war. Dr. Heimeran hatte, wie er mir auf Anfrage mitteilte, ein Exemplar der zweiten Auflage in der Bayrischen Staatsbibliothek gefunden, wo auch der Dichter registriert war. Bei einer späteren Auflage, wohl der dritten, schlug der Verleger zeichnerische Ausschmückung vor, indem er hinzufügte, er habe einen jungen Künstler kennengelernt, der das rechte Verständnis für den Charakter der Gedichte besitze und ihn festzuhalten wisse. Zögernd stimmte mein Vater zu. Der Versuch gelang über Erwarten gut. Die kleinen Zeichnungen, in der Regel nur figürliche Einschiebungen in den Anfangsbuchstaben eines Gedichts, sind selbst zu Meisterstücken der Ironie geworden. Der damals noch unbekannte Zeichner war – Max Klinger! [32] Auf einer Ausstellung seiner Werke, die im 20. Jahrhundert im Leipziger Museum stattfand, wurden die „Blüten“ gezeigt. Der Name des Dichters wurde auch bei dieser Gelegenheit nicht preisgegeben.
Von Heidelberg siedelte mein Vater auf die Universität Leipzig über, deren juristische Fakultät auch damals in hohem Rufe stand. Freilich konnte nicht jeder der Dozenten als begeisternder Lehrer gelten. Unter ihnen war beispielsweise ein früherer Advokat Osterloh – mit seinem Enkel bin ich einige Jahre zur Schule gegangen – der die großen Kenntnisse, die er sicherlich besaß, seinen Zuhörern in einer derart langweiligen Weise vortrug, daß sie sein Auditorium flohen. Dieser Abwehr konnten sie sich allerdings in dem Prozeßpraktikum, das Osterloh abhielt, nicht bedienen, denn hier mußten schriftliche Arbeiten angefertigt werden. Dabei ereigneten sich bisweilen infolge der eigenartigen Eingesponnenheit des Gelehrten lustige Vorfälle. Als er eines Tages den Praktikanten ihre Arbeiten über die von ihm gestellte Aufgabe, im Prozesse über einen gegebenen Tatbestand einen anwaltlichen Schriftsatz zu fertigen, zurückgab, bemerkte er bei der Kritik, er fühle sich peinlich dadurch berührt, daß einer der Herren durch die Wahl des dem fingierten Anwalt beigelegten Namens den ehrenwerten Stand, aus dem doch er, Osterloh, hervorgegangen sei, verhöhnt habe; der Schriftsatz sei unterzeichnet: Preller, Advokat. Worauf sich einer der Kursusteilnehmer erhob und erklärte: „Verzeihen Sie, Herr Professor, eine Verhöhnung war wirklich nicht beabsichtigt. Ich heiße Preller und will selbst Advokat werden.“
Im Leben der Universität und der Musikstadt Leipzig traten in jenen Zeiten die Pauliner hervor, der Universitätssängerverein zu St. Pauli. Das war keine sich von anderen Studentenverbindungen abschließende Korporation, sondern eine nur den Männergesang pflegende Vereinigung, der jeder musikalisch befähigte Student beitreten konnte, auch wenn er anderswo aktiv war. Vielleicht hat gerade die Vernachlässigung des Komments zugunsten der musikalischen Ziele die Leistungsfähigkeit der Sänger auf beachtliche Höhe gesteigert. Zur Zeit meines Vaters genossen sie den Ruf des tüchtigsten Männerchors in Leipzig und weit und breit. Weil aber das Erhabene vom Lächerlichen nur durch einen Schritt getrennt ist, blieben dem künstlerischen Empfinden meines Vaters die Geschmacksverirrungen nicht verborgen, die beim mehrstimmigen Männergesang sowohl die Komposition wie den Vortrag nur zu häufig ergreifen und ihn ins Lächerliche verschieben. Solchen Unfug stellen die von meinem Vater gedichteten und in Musik gesetzten Quartette bloß, die er unter dem Spotttitel erscheinen ließ. „Lieder der vereinigten Bürgergesangsvereine zu Schnarrtanne“[33]. Von einem scharfblickenden Verleger, Constantin Sander in Firma FEC Leuckart, in recht gefälliger Ausstattung herausgebracht, bei der ironisierende Zeichnungen auf dem Titelblatt dem parodistischen Gehalt jeder der Kompositionen witzig andeuten, hat das wiederum, wie die „Blüten“ ohne Nennung des Dichterkomponisten erschienene Werkchen überall, wo es in einsichtigen Musikerkreisen bekannt wurde, freudige Anerkennung und Zustimmung gefunden. Selbstverständlich können diese Lieder nicht auf das Programm eines öffentlichen Gesangskonzertes gestellt werden: der vortragende Chor würde sich und das ganze Männerquartettsingen selbst verspotten. Für die Darbietung im geschlossenen Kreise werden sie nie veralten können; sie sind die eleganteste und liebenswürdigste, zugleich aber einleuchtendste Kritik an der Verballhornung des Männerchorwesens, in Berechtigung und Wirkung an keine Zeit gebunden. Es gibt wohl selten einen Menschen, der so virtuos das ridendo dicere verum[33] zu handhaben weiß wie mein Vater.
Bei den Paulinern und für sie hat mein Vater noch einige andere literarische Gelegenheitsdichtungen[34] geschaffen, die bedauerlicherweise nicht mehr vorhanden sind. Das eine war ein dramatisches Spiel entweder zu einer Weihnachtsfeier oder zu dem alljährlichen Stiftungsfest. Weil in jenen Zeitläuften die Bekämpfung der Trichinengefahr die öffentliche Meinung beschäftigte, wandelte der Dichter den Titel des berühmten äschyleischen Schauspiels „Die Trachinierinnen“ in „Die Trichinierinnen“[35] ab und führte im Stile der klassischen Tragödie, namentlich auch in ihrer pomphaften Sprache, eine ungemein lustige Liebesgeschichte vor. Beileibe keine Travestie des Äschylus, dem nur der abgewandelte Titel und das Gewand entlehnt wurde. Leider habe ich niemals eine vollständige Niederschrift vor Augen gehabt. Das Manuskript hatte, wie bei den meisten der gelegentlichen Dichtungen meines Vaters, sein Freund Konrad Rieger an sich genommen, der in seinen letzten Jahren bisweilen von geistigen Abweichungen befallen wurde und in solchem Zustande mit anderen Papieren auch jene Niederschriften vernichtet haben soll. Beim „Paulus“, an den ich mich wendete, war das Archiv in Unordnung geraten und daher das Stück nicht aufzufinden. Von einer späteren Aufführung her besaß aber ein anderer wesentlich jüngerer Pauliner, der von uns Kindern Onkel genannt wurde, eine freilich recht lückenhafte Abschrift. Von ihm, dem Rektor Buschkiel am Gymnasium zu Chemnitz, erlangte meine Schwester Hanna diese Blätter. Sie gaben uns zwar kein vollständiges Bild, zeigten uns aber, daß auch in diesem Bühnenwerke unserem Vater seine Sprachkunst, seine Darstellungsgabe, sein in jeder Situation schlagfertiger Witz treu geblieben waren. Was ich von den vollendeten Jamben und von den antiken Rhythmen der Chöre im Gedächtnis behalten habe, ist zu geringen Umfangs, um einen Eindruck des Ganzen hervorrufen zu können. Die Abschriften, die Hanna von den an den Onkel Buschkiel zurückgegebenen Blättern gefertigt hatte, sind am 4. Dezember 1943 und am 27. Februar 1945 bei der Vernichtung von Sickerts und dann meiner Wohnung verbrannt. (Ob sich bei meinem Bruder Carl in Uppsala etwa eine Abschrift erhalten hat, kann ich jetzt nicht feststellen.)
Den Brandbomben ist auch der „Baedeker des Paulus“ zum Opfer gefallen, den mein Vater anläßlich eines hervorgehobenen Stiftungsfestes, wohl des 50. verfaßt hat.[36] In einem Buchdeckel der bekannten roten Farbe jener Reiseführer wird nach einer ein beliebiges Städtebild mit der Unterschrift: „Leipzig von Portorico aus gesehen“ zeigenden Vignette des Titelblatts zunächst in flüssigen gereimten Versen ein Führer durch Leipzig gegeben, dann folgt, ebenfalls in gebundener Rede, das Festprogramm, ebenso wie der Führer durchsetzt und überstrahlt von blendendem Witz, und den Schluß bildet ein „Wörterbuch“ zum Gebrauche für die auswärtigen Festteilnehmer. Jede Vokabel in ihrer Übertragung ein Spottblitz.
Die Dankbarkeit und Verehrung, die meinem Vater im Paulus entgegengebracht und doch auch geschuldet wurde, hatte ihren Ausdruck in der Hingabe und Widmung eines kostbaren Ringes gefunden. Nachdem aber der Berliner Hofprediger Stöcker mit seinen antisemitischen Tiraden nicht nur den Verein Deutscher Studenten hervorgerufen, sondern im viel weiterem Umfange das Universitätsleben verseucht hatte, faßte auch ein Konvent des Paulus, der schon längst aus dem freien Sängerverein eine geschlossene Verbindung geworden war, den Beschluß, Juden nicht weiter aufzunehmen. Auf meinen Vater, der übrigens seit Jahrzehnten der evangelisch-lutherischen Kirche angehörte, bezog der Beschluß sich schon deshalb nicht, weil er nur künftige Eintritte betraf. Möglicherweise ist den meisten Paulinern die Abstammung des hochangesehenen Alten Herrn nicht einmal bekannt gewesen, denn der Rassenantisemitismus war damals gerade in Leipzig unbekannt, wo die aus Deutschen und Ausländern, darunter vielen Hugenotten, aus Protestanten, Katholiken und Juden sich zusammensetzende durchaus paritätisch und tolerant eingestellte vornehme Kaufmannschaft mehr noch als die Universität den Ton des gesellschaftlichen Verkehrs bestimmte. Aber jener üble Vereinsbeschluß empörte meinen Vater dermaßen, daß er sofort auf seine Alte-Herrenschaft verzichtete, alle Brücken zum Paulus abbrach und ihm den Siegelring zurückschickte.
Mit dem juristischen Doktordiplom seit dem 21.12.1857[37] ausgerüstet (1907 ist es in Goldschrift erneuert worden) ließ nach Absolvierung des Vorbereitungsdienstes und aller Prüfungen mein Vater sich in der Goethestraße in Leipzig als Advokat nieder und zwar zunächst in Gemeinschaft mit seinem Freunde Heinrich Roßbach. Einige Tage danach betrat, mit Spannung erwartet und mit Freuden begrüßt, der erste Klient die Expedition. Er gehörte dem Freundeskreise an, betonte aber, daß er diesmal in Rechtsangelegenheiten vorspreche. „Höre, Drucker, könntest Du nicht mal hundert Thaler für mich einklagen?“ Entzückt über ein so fettes Mandat bekannte der Herr Advokat seine selbstverständliche Bereitwilligkeit: „Natürlich; von wem hast Du das Geld zu bekommen?“ „Von wem ich’s zu kriegen habe? Ich habe Dich doch gefragt, ob Du nicht 100 Thaler für mich einklagen könntest. Du sagst Ja. Wie Du das machst, mußt Du als Advokat wissen. Wenn ich jemanden wüßte, von dem ich 100 Thaler kriegen könnte, brauchte ich doch Dich nicht zu bemühen!“ Damit ging er, scheinbar entrüstet und enttäuscht. – Dieses Luftmandat blieb vereinzelt; die Praxis entwickelte sich befriedigend.
An Beschäftigung fehlte es meinem Vater schon deshalb nicht, weil er auch Patrimonialrichter und Notar war.
In Sachsen besaßen viele adlige Rittergutsbesitzer das Privileg eigener selbständiger Gerichtsbarkeit für ihren Sprengel, mußten aber die Rechtsprechung durch einen zum staatlichen Richteramt befähigten Juristen ausüben lassen. Dazu wählten sie wohl ausnahmslos tüchtige Advokaten aus benachbarter größerer Stadt. Auch mein Vater war mehrere Jahre Patrimonialrichter für einen bei Wurzen gelegenen Rittergutsbezirk, dessen Name mir entfallen ist. In gleicher Eigenschaft waren in der Nachbarschaft andere Leipziger Advokaten tätig. So nahmen denn in der Regel mehrere dieser juristischen Doppelwesen einen Wagen gemeinsam, mit dem sie sich zuerst nach Rittergut X begaben, wo der Reisegenosse A als Patrimonialrichter Gerichtstag abhielt, während seine Begleiter B und C als Vertreter der Parteien auftraten, und fuhren dann weiter zum Gerichtstag in Y, wo vor B als Richter nun A und C als Advokaten tätig wurden, und so weiter. Nirgends und niemals hat wohl ein so unbegrenztes Einvernehmen zwischen Richtern und Rechtsanwälten bestanden. Ob daran in jedem Falle auch die Gerichtsuntertanen freudig teilgenommen haben, ist rechtsgeschichtlich nicht zu belegen.
Bedeutsamer als dieser vorübergehende Nebenberuf meines Vaters war seine Tätigkeit als Notar. Das sächsische Recht unterschied damals zwischen beschränktem und unbeschränktem Notariat, letzteres auch Vollnotariat genannt. Das beschränkte Notariat bestand im Wesentlichen nur in der Befugnis zur Aufnahme von Wechselprotesten und zu Unterschriftsbeglaubigungen. Nach einer uns heute schwer verständlichen Kompetenzverteilung stand der Universität Leipzig das Recht zu[38], aus den Reihen der promovierten Juristen solche „Protestnotare“ zu kreieren und diese Rechtsstellung brachte mein Vater in seine Advokatenpraxis schon mit. Das Vollnotariat aber, das die höchst wichtige und finanziell einträgliche Befugnis zur Aufnahme von Urkunden, also beispielsweise von Testamenten, Verträgen, Generalversammlungsprotokollen in sich schloß, wurde nur vom Justizministerium und auch nur in einer geringen Anzahl von Fällen verliehen, bisweilen, wie böse Zungen oder Mißvergnügte behaupteten, als Belohnung für politisches Wohlverhalten. Nur auf einem einzigen Wege konnte ein Advokat die Ernennung zum Vollnotar gewissermaßen erzwingen: wenn er nämlich seine Fähigkeit zur Aufnahme notarieller Urkunden in einer modernen Fremdsprache durch eine Prüfung nachwies. Von dieser höchst seltenen Voraussetzung Gebrauch zu machen, war mein Vater in der Lage. Ohne (bis in jene Zeit) Gelegenheit zu Auslandreisen besessen zu haben, sprach er vorzüglich französisch, italienisch, englisch; las auch spanisch und portugiesisch geläufig. Als ihm als Rekonvaleszenten nach einem Nervenfieber der Arzt leichte Lektüre gestattete, ließ er sich von seinem Schreiberlehrling aus einer Buchhandlung eine holländische Grammatik und ein Übungsbuch holen; als er genesen war, sprach er auch diese Sprache.
Auf solche Kenntnisse gestützt, meldete er sich beim Justizministerium zur Ablegung der Notariatsprüfung, und zwar gleich in zwei Sprachen, französisch und italienisch. Englisch vermied er aus kollegialer Rücksicht auf einen Kollegen (Bärwinkel), der für diese Sprache kurz vorher die Zulassung erwirkt hat. Nach einiger Zeit wurde mein Vater zum Landgerichtspräsidenten gebeten, der ihm die Prüfungsaufgaben für Französisch vorlegte. In Klausur waren einige Urkunden zu entwerfen, wohl auch Übersetzungen zu fertigen. Als mein Vater diese Arbeiten nach kürzester Zeit abliefert, wollte der Präsident mit ihm einen späteren Termin zur Ablegung der Prüfung für Italienisch vereinbaren, ging aber auf den ihn verblüffenden Wunsch meines Vaters ein, ihm sofort die Aufgaben zu übergeben. Sie wurden ebenso rasch an demselben Vormittage bearbeitet. Nachdem noch vom Ministerium bestellte Dolmetscher die Fehlerlosigkeit und Zuverlässigkeit der Sprachanwendung geprüft und bestätigt hatten, wurde meinem Vater die Berechtigung zur Aufnahme von Notariatsurkunden in französischer und italienischer Sprache zuerkannt. Damit war er in jungen Jahren Vollnotar geworden. Die dadurch erlangten Amtsbefugnisse haben sich mit weitgreifendem Erfolg besonders hinsichtlich der Protokollierung in Generalversammlungen von Aktiengesellschaften ausgewirkt. Mein Vater verstand es, anhand der Tagesordnungen diese Niederschriften so geschickt vorzubereiten, daß sie sofort bei Schluß der Versammlung verlesungsfähig waren. Wegen dieser zeitsparenden Technik wurde er als Notar insbesondere auch von Bankleitungen geschätzt, die auf ein und denselben Tag in ihre Geschäfträume die Versammlungen mehrerer Gesellschaften mit kürzesten Zwischenräumen ansetzten und doch auf schnellste Abwicklung sich verlassen konnten.
Die Aufnahme solcher Protokolle war eine Fernwirkung der fremdsprachlichen Leistungen meines Vaters. Das er von Amts wegen als Dolmetscher für französisch und italienisch verpflichtet wurde, war ihm wenig erwünscht, denn er konnte deshalb seine Zuziehung in Strafsachen gegen Ausländer nicht ablehnen, und diese übrigens miserabel bezahlte Tätigkeit lag ihm durchaus nicht.
Aber auch bessere unmittelbare Folgen seiner Berechtigung zu Beurkundungen in französischer und italienischer Sprache stellten sich ein. Nicht nur in Leipzig, wo namentlich zu Meßzeiten viele Ausländer eintrafen, sondern auch in anderen Orten und außersächsischen Bundesstaaten trat gar nicht selten das Bedürfnis auf, notarielle Urkunden mit Personen, die der deutschen Sprache nicht mächtig waren, aufzunehmen. Die Konsulate, die über die Amtsbefugnisse meines Vaters unterrichtet waren, wiesen solche Klienten an ihn. Das gab ihm zugleich die erwünschte Gelegenheit zur Pflege ausländischer Konversation.
Als einträglichster Teil der notariellen Beschäftigung erwies sich indessen namentlich seit Anfang der 90er Jahre das Wechselprotestieren, also gerade diejenige Tätigkeit, die nicht vom Vollnotariat abhängig war, ohne solches mein Vater aber kaum im nennenswerten Umfange zugefallen sein würde. Die Banken in Leipzig, allen voran die Reichsbankhauptstelle, betrieben in der Zeit vor dem Ersten Weltkriege das Wechselankaufgeschäft in einem in späterer Zeit weder erwünschten noch möglichen Maße, und da sie beim Vorhandensein guter Indossamente auf die Bonität des Acceptanten wenig Gewicht legten, so gab es naturgemäß zahllose Proteste mangels Zahlung oder Deckung. Die Reichsbankhauptstelle beschäftigte damit sechs mit großer Umsicht ausgewählte Vollnotare, die gerade auch für schleunigste Erledigung der Proteste Gewähr zu bieten schienen. Jeder dieser sechs Notare war zweimal im Jahre je einen Monat lang zur täglichen Übernahme der Protestaufträge, fast nur zum Medio- und Ultimotermin dazu verpflichtet. Die Arbeit in jenen zwei Monaten war so schwierig zu bewältigen, daß der Notar zu anderer Tätigkeit nur ganz ausnahmsweise Zeit fand. Das Protestgeschäft wickelte sich folgendermaßen ab. Vor neun Uhr morgens holte ein Bureauangestellter das erste Paket zu protestierender Wechsel am Schalter der Reichsbank ab. Sie wurden rasch nach den Stadtgegenden, in denen sie vorzulegen waren, sortiert, worauf mein Vater sich in einer Droschke, später in ein Taxi setzte, von Straße zu Straße die Wechsel vorlegte und die Erklärungen der Angegangenen entgegennahm. Nach Ablieferung dieser protestierten Wechsel auf dem Bureau begab er sich mit dem nächsten Päckchen auf die Reise; ebenso geschah es innerhalb der mit 6 Uhr ablaufenden Protestfrist mit denjenigen Wechseln, die um 12 Uhr und um 4 Uhr bei der Reichsbank abgeholt worden waren. Der weitaus zeitraubendste Teil des Protestgeschäftes war die Ausfertigung der Protesturkunde. Noch nach meines Vaters Tode ging die gesetzliche Vorschrift dahin, daß über die Vorlegung des Wechsels und die daraufhin abgegebene Erklärung eine selbständige Urkunde aufzunehmen und von ihr eine Abschrift in das Protestregister einzutragen sei. In der Urkunde mußte eine vollständige Abschrift der Vorder- und der Rückseite des Wechsels enthalten sein. Diese umständliche Schreibarbeit mußte am Tage der Protestaufnahme erledigt werden. Erst die spätere Gesetzgebung hat an die Stelle der selbständigen Protesturkunde eine kurze, auf dem Wechsel selbst oder einem angeklebten Zettel zu setzende ganz kurze Erklärung treten lassen und die Abschrift ins Protestregister beseitigt. Zu Lebzeiten meines Vaters half man sich dadurch, daß man als Urkunde einen in möglichst allen Fällen verwendbaren kopierfähigen Vordruck ausfüllte und ihn in einem Kopierbuch abklatschte. Aber obwohl das von meinem Vater ausgearbeitete Formular ein unübertreffliches Muster zur Vereinfachung des Textes darstellte, ging die Protestarbeit an manchen Tagen fast über die Kräfte des Notars und aller seiner Angestellten. Das wird jeder Sachkundige bestätigen, der erfährt, daß an einem einzigen Tage mitunter weit über 100 Proteste allein für die Reichsbank aufzunehmen waren, zu denen weitere von der Allgemeinen Deutschen Credit-Anstalt[39] und anderen Klienten des Notariats kamen. An solchen Tagen blieben die Angestellten bis in die Nachtzeit im Bureau; auch ich, damals Student und Referendar, beteiligte mich an der Schreiberei, bisweilen wohl auch mein Bruder Carl.
Das Wechselprotestieren hat meinen Vater auch für die Autodroschke gewonnen. Im Jahre 1905 oder 1906 schickte eines Nachmittags nach 5 Uhr die Reichsbank ein über einen recht hohen Betrag lautenden Wechsel, der versehentlich liegen geblieben war und nun an diesem als den letzten Protesttage vor 6 Uhr protestiert werden mußte, wenn das Regreßrecht nicht verloren gehen sollte. Das Geschäftslokal des Bezogenen, wo der Wechsel vorgelegt werden mußte, lag weit draußen im Norden der Stadt. Ich bewog meinen Vater, der bis dahin von den Autos, die nur zu oft Unfälle verursachten, nichts wissen wollte, eine solche Droschke mit mir zu besteigen. Auf diese Weise, und nur so, weil nämlich der Bezogene sein Geschäftslokal gewechselt hatte und sich deshalb eine Polizeinachfrage nötig machte, gelang die fristgemäße Protestaufnahme. Von diesem Tage ab bediente mein Vater sich regelmäßig der Autodroschke, durch deren Benutzung er viel Zeit ersparte.
Bei den Gängen und Fahrten als Protestnotar drängte meinem Vater sich ein besonderes Unterscheidungsmerkmal der einzelnen Stadtviertel und Straßen auf, nämlich der in ihnen herrschende spezifische Geruch. Daß in den Häusern des Brühl das Naphtalin als Mottenschutzmittel sich aufdringlichst bemerkbar machte, empfand und wußte jedermann. Aber es gab auch andere lokalisierte Düfte. Im vorderen Teil der Grimmaischen Straße wurden die Passanten durch aus den Souterrainräumen der Konditorei Felsches[40] strömende süßliche Gerüche entzückt oder angewidert; in der Kurprinzstraße[41] roch es nach Markthallenwaren, in der Kramerstraße[42] aus der Sackschen Reitbahn nach Pferden und ihren Ausscheidungen, in der Schreberstraße nach den köstlichen Essenzen einer Fabrik für ätherische Oele. Das sind einige Beispiele der durch die empfindliche Nase meines Vaters getroffenen Feststellungen, gegen die auch sie „protestierte“. Er selbst aber sammelte, registrierte, ordnete diese Wahrnehmungen und machte sie Wissbegierigen in weniger zu Nutz und Frommen, als zur Belustigung anschaulich dadurch, daß er eines Tages im Anwaltszimmer des Landgerichts ein Stadtplan mit der Überschrift aushängte: „Die Stadt Leipzig, nach Gerüchen gegliedert“. Auf diesem Plan war in der Art, in der man auf einer Landkarte die Verbreitung der verschiedenen Tier- und Pflanzenarten innerhalb eines Erdteils oder Landes ersichtlich macht, für jeden Geruch eine bestimmte Farbe zur Kolorierung des von ihm beherrschten Bezirks verwendet worden, so daß ein recht buntes Bild entstand. Dieser wissenschaftlich getarnte Scherz meines Vaters hat Anfang der 90er Jahre viel fröhlichen Beifall gefunden, ist ihm auch von engstirnigen Köpfen als eine Verhöhnung der Stadtverwaltung verdacht worden, aber auch jetzt noch nicht ganz vergessen. Meine Tochter Ina lernte 1944 in Schlawe die dorthin aus dem bedrohten Berlin übergesiedelte Tochter des im Ruhestand lebenden bekannten Berliner Staatsrechtslehrers Heinrich Triepel kennen, der, aus Leipzig gebürtig, mir seit der Gymnasialzeit bekannt und der Bruder meines intimen Jugendfreundes Herrmann Triepel ist. Als Frau von Gebhardt ihrem Vater die Begegnung mit meiner Tochter berichtet hatte, gab Geheimrat Triepel in seinem Antwortschreiben seiner Freude darüber Ausdruck, daß seine Tochter mit einem Mitglied unserer Familie zusammengetroffen sei, sprach von gemeinsamen Leipziger Erlebnissen und erkundigte sich nach der „Karte der Gerüche Leipzigs“, die er als Referendar im Anwaltszimmer gesehen hatte. Sie muß diesem Gelehrten doch einen tiefen Eindruck gemacht haben.
Nach dieser langatmigen Abschweifung ins Notariat kehre ich zur advokatorischen Praxis des Vaters zurück. Sie hat einmal eine etwa einjährige Unterbrechung unter besonderen Umständen erfahren. Der Oheim meiner Mutter, der schon in anderem Zusammenhang erwähnte Advokat Arthur Ottomar Olympius Dölitzsch in Altenburg, hatte sich finanziell erheblich an der Gründung einer Privateisenbahngesellschaft am Unterrhein beteiligt. Es lag ihm deshalb daran, in deren Leitung durch ihm persönlich nahestehende Vertrauensmänner vertreten zu sein. Einen solchen fand er in der Person des Bruders meiner Mutter, des Advokaten Dr. August Klein, der als Direktor der Gesellschaft nach Süchteln übersiedelte. Aber der Onkel bestürmte auch meinen Vater, einen gleichartigen Posten zu übernehmen. Die Neuheit der Aufgabe und die mit ihrer erfolgreichen Erfüllung verbundenen Aussichten reizten meinen Vater. Da ihm die Rückkehr zur advokatorischen Tätigkeit offenblieb, gab er dem Drängen des Onkels nach und verlegte seinen Wohnsitz nach Düsseldorf. Meine Mutter mit Hanna und mir folgte ihm nach, nachdem er dort eine passende Familienwohnung gefunden und eingerichtet hatte. Ich weiß noch genau des späten Abends im Anfang des Jahres 1874 mich zu erinnern, als wir nach einer sehr langwierigen und anstrengenden Bahnfahrt ein behaglich durchwärmtes Zimmer einer Parterrewohnung in der Kaiserallee[43] in Düsseldorf betraten und dort auf reich bedecktem Eßtisch zum ersten Male einen ganzen großen Holländer Käse der uns als solcher erst vorgestellt wurde, erblickten. Gleich die erste Scheibe, die wir kosten durften, mundete uns nicht minder als das uns bis dahin gleichfalls unbekannte Rheinische Apfelkraut, ein Brotaufstrich, dessen Schmackhaftigkeit es mich immer hat verwundern lassen, warum er bei uns in Leipzig nur ganz ausnahmsweise feilgehalten wird. Ein dritter uns Kindern neuer Genuß war das köstliche Gebäck Spekulatius. Der erste Eindruck, den wir von Düsseldorf empfingen, war also durchaus freundlich. Er ist auch niemals verwischt worden. Denn wir verlebten dort eine fröhliche Kinderzeit. Da war namentlich ein achtjähriges Mädchen, das mich in sein Herz geschlossen hatte, mit uns die herrlichsten Spiele spielte und mit uns im Kaiserpark spazieren ging. Ich glaube, dieses Kind ist meine erste Liebe gewesen. Seinen Namen habe ich vergessen, aber die Erinnerung an diese Freundin ist erhalten worden durch eine von ihr mir zu meinem fünften Geburtstage geschenkte Kaffee- oder richtiger Milchtasse, auf der die mein Selbstbewußtsein mächtig steigernde Widmung zu lesen war: „Dem artigen Knaben“. Diese Kindheitsreliquie ist im Haushalte meiner Eltern und dann meinem eigenen allzeit sorglichst behütet worden; ich durfte sie nur an Festtagen benutzen. Einmals hörte ich munkeln, ein unachtsames Dienstmädchen habe den Henkel zerbrochen. Aber am nächsten Feiertage trank ich wieder aus dem unbeschädigten artigen Knaben. Meine gute Mutter hatte wohl durch Beschaffung einer Ersatztasse einen frommen Betrug begangen, um mein kindliches Gemüt vor Erschütterung zu bewahren.
Unfroh wirkte der Rheinstrom auf uns Kinder. Auch wenn die Uferlandschaft der Düsseldorfer Gegend hübscher gewesen wäre als sie ist und wenn wir schon Sinn für Naturschönheit besessen hätten, würden wir in dem breiten Strombett nur eine häßliche Wasseransammlung erblickt haben, in die man hineinfallen und in der man ertrinken könne. Es wird an einem Frühjahrssonntage gewesen sein, als die Eltern mit uns einen Ausflug auf einem Rhein-Dampfer unternahmen. Wir Kinder standen dicht an unsere Mutter gedrängt, weniger aus anerzogener Artigkeit, als aus Angst wegen des schwankenden Schiffleins und der bedrohlichen Wellen des schmutzig-gelblichen Wassers. Der Dampfer passierte einen Brückendurchlaß. Ich sehe noch heute vor mir, wie das Mittelstück der Brücke ausgeschwenkt wurde, um die Fahrbahn freizumachen. In diesem Augenblicke riß ein plötzlicher Windstoß mir meinen Strohhut vom Kopfe und entführte ihn in die Flut. Mein Schreck hätte kaum heftiger gewesen sein können, wenn ich selbst ins Wasser gestürzt wäre. Auch Hanna war von Entsetzen gepackt. Wir sahen zwar unter Zittern und Zagen zu, wie einige Bootsleute mit langen Hakenstangen den Hut herausfischten, fanden aber keine Ruhe. Von diesem Erlebnisse ist in mir ein bei jeder Stromfahrt sich geltend machendes unbehagliches Angstgefühl zurückgeblieben. Ich vermag nicht von Dresden nach Pillnitz auf dem Deck zu fahren, ohne auf den Augenblick zu spannen, in dem meine Kopfbedeckung in die Elbe fliegen wird.
Trotz meines dürftigen Orientierungsvermögens und meiner Unempfindlichkeit gegen örtliche Situationen hat sich das von uns in Düsseldorf bewohnte Haus meinem Gedächtnisse tief eingeprägt. Ungeachtet meiner häufigen Reisen war ich später nur einmal für einige Stunden in Düsseldorf gewesen; erst im Herbst 1933 hielt ich mich als Verteidiger in einer Ehrengerichtssache dort mehrere Tage auf. Ich benutzte diese Gelegenheit, um einem Kollegen das Haus zu beschreiben, daß ich seit 1874 nicht wieder gesehen hatte. Ich schilderte die große Toreinfahrt von der seitlich der Zugang der elterlichen Wohnung genommen wurde, und die Nachbarschaft des die gegenüberliegende Straßenseite bildenden Parkstückes. Der Düsseldorfer erklärte mir sofort, er kenne das Haus genau, es stehe noch, und führte mich hin. Ich fand meine Erinnerung deutlichst bestätigt.
Meinen Eltern hat der Düsseldorfer Aufenthalt weniger Annehmlichkeiten als Enttäuschungen bereitet. Wir Kinder haben nur unscharf selbst wahrgenommen, später aber deutlicher erfahren, daß meiner Mutter die Haushaltführung recht schwer gemacht worden ist, und zwar durch Einflüsse, mit denen eben so wenig gerechnet werden wie auseinanderzukommen war. Düsseldorf war eine streng katholische Stadt; die Gegend, in der wir als einzige protestantische Familie wohnten, von einer bis zur betätigten Unduldsamkeit orthodoxen Bevölkerung besiedelt, die von einem oder mehreren besonders starrgläubigen Geistlichen beherrscht wurde. Dem Dienstmädchen meiner Mutter wurde strengstens verboten, an den zahlreichen katholischen Feiertagen auch nur die geringste häusliche Arbeit bei den „Ketzern“ zu verrichten. Mindestens zweimal sind Mädchen heimlich aus dem Dienst entlaufen, weil ihnen zeitliche und ewige Strafen angedroht worden waren, wenn sie bei uns blieben. In einem Falle versuchten nach einer Prozession einige fanatisierte Burschen in das Haus einzudringen unter Drohungen gegen unsere Familie. Den Grund haben wir Kinder damals nicht begriffen; aber wir waren doch Zeugen, als der Hauswirt, der mit meinen Eltern im besten Einvernehmen stand, die Eindringlinge von unserer Wohnungstür weg strich und aus seinem Hausflur hinaus auf die Straße trieb und das Tor schloß. Wir hatten uns sehr gefürchtet und waren erst beruhigt, als der Vater nach Hause zurückkehrte.
Unter solchen Umständen schien meine Mutter froh darüber zu sein, daß sie kurz vor Jahresschluß uns die unmittelbare bevorstehende Rückkehr in die Heimat ankündigen konnte. Der Anlaß, dessen Tragweite ihr zunächst von meinem Vater aus Schonung nicht gezeigt worden war, ist recht bedenklich gewesen. Ein Mitglied des Vorstandes oder Aufsichtsrats der Aktiengesellschaft, dasselbe, durch das Onkel Arthur zur Beteiligung bewogen worden war, hatte allerlei unsaubere Handlungen, insbesondere auch grobe Verstöße gegen das Aktienrecht begangen, gewissermaßen als eine Vorfrucht der späteren berüchtigten Gründerzeit, so daß ein Strafverfahren eingeleitet werden mußte und, was nicht zu befremden braucht, auch auf meinen Vater und Onkel August erstreckt wurde. Sie schieden sofort aus ihren Stellungen aus. Das Verfahren gegen sie endete zwar mit Einstellung oder sogar mit Freisprechung, aber die Rheinische Eisenbahngesellschaft war ihnen verleidet.
Aus der Düsseldorfer Zeit hat mein seelischer Organismus ein intermittierend auftretendes Phänomen mitgenommen, dessen Würdigung wohl eine dankbare Aufgabe für Psychologen und Sprachforscher diente. Obwohl der dortige Aufenthalt nur etwa ein Jahr gedauert hat und mein Leben danach sich im Herrschaftsgebiete des Leipziger Jargons allerdings seit 1913 neben meinem eine reines dialektfreies hochdeutsch sprechenden Vater abgespielt hat, brechen Anklänge an den rheinländischen Tonfall bei mir nicht selten mit solcher Deutlichkeit durch, daß ich immer wieder sogar von Rheinländern für einen nach Sachsen verschlagenen Landsleute gehalten worden bin.
Hielt ich mich gelegentlich ein paar Tage in Köln auf, so bemächtigte sich die rheinische Sprechmelodie meiner in solchem Maße, daß nach meiner Rückkehr die Heimgebliebenen sich darüber amüsierten: „Was in den Geist gelegt ist, bleibt ewig.“
Bei Wiederaufnahme der Advokatur in Leipzig bot sich meinem Vater sofort eine neue Aufgabe, für die er wie kaum ein anderer Berufsgenosse sich eignete. 1874 hatte Deutschland endlich ein Markenschutzgesetz[44] geschaffen, daß nicht nur der innerdeutschen, sondern namentlich auch der Freibeuterei mit Warenzeichen gegenüber ausländischen Firmen ein Ende machen sollte. Es konnten nunmehr auch Ausländer für ihre Zeichen Schutz in Deutschland erlangen, indessen nur unter der Bedingung, daß sie die Zeichen beim Handelsgericht in Leipzig registrieren ließen und zur Vertretung aller durch die Registrierung entstehenden Rechte und Verpflichtungen einen inländischen Bevollmächtigten bestellten. Die Wahl gerade des Leipziger Gerichts als einzige Registerbehörde findet eine interessante rechtsgeschichtliche Parallele in der Stellung Leipzigs als Sitz des Bundesoberhandelsgerichts und in dem einige Jahre später gegen Bismarcks Autorität gefaßten Reichstagsbeschluß, der den Sitz des Reichsgerichts nicht nach Berlin, sondern nach Leipzig verlegte. Den tieferen politischen und in der parlamentarischen Psychologie wurzelnden Gründen, die ich hinter allen diesen Maßnahmen zu erkennen glaube, können meinen familiengeschichtlichen Plaudereien fernbleiben. Bei dem Faktum aber, der Bindung des Markenschutzes für Ausländer an die Registrierung beim Leipziger Handelsgericht, muß ich noch auf einigen Zeilen verweilen.
Es lag überaus nahe, daß die ausländischen Markenbesitzer zum Erwerb und zur Wahrung des deutschen Schutzes sich eines Juristen bedienen wollten, und zwar eines solchen, mit dem sie in ihrer Landessprache verkehren konnten. Wahrscheinlich durch Anfrage bei ihren Konsulaten wurden sie auf meinen Vater hingewiesen. Darauf gingen gleich von Anfang 1875 an Aufträge in größerer Fülle ein, die allermeisten aus Frankreich, dessen Leipziger Generalkonsul von Tollhausen[45], ein bedeutender Gelehrter und späterer Verfasser eines dickleibigen französisch-spanischen Lexikons, mit meinem Vater wegen gemeinsamer literarischer Neigungen im persönlichen Verkehr stand und schätzenswerterweise nie verabsäumte, uns Kindern feinste Erzeugnisse der französischen Schokoladenindustrie zu spenden. Aber auch Engländer drängten sich zum Leipziger Register, in besonders dichter Schar die Firmen der Sheffielder Stahlindustrie, deren weltbekannte Marken nur zu häufig von im Trüben fischenden Solingern nachgeahmt wurden, und auch manche Italiener. Mit dieser sich auf mehrere Hundert belaufenden Anzahl von Ausländern wechselte mein Vater je in ihrer Sprache Briefe, ohne bei dieser Arbeit durch einen Fremdsprachen-Korrespondenten unterstützt zu werden. Er hatte selbst eine überaus klare, schöne Handschrift, die ihn in den Stand setzte, diese Schriftstücke in Reinschrift mit Kopiertinte abzufassen, so daß sie nur mittels der Kopierpresse abgezogen zu werden brauchten.
Mein Vater gelangte mit Recht in den Ruf eines ausgezeichneten Spezialisten des damals erst entstehenden Markenrechts, das noch an keiner Universität gelesen wurde. Daß er die ausländischen Deponenten in gegen deutsche Nachahmer notwendig werdenden Rechtsstreitigkeiten, die nach gesetzlicher Vorschrift vor dem Leipziger Gericht anhängig zu machen waren, als Prozeßbevollmächtigter vertrat, ergab sich ohne weiteres aus dem schon durch die Anmeldung begründeten Klientelverhältnisse. So wurde er für die Abbaye de Fécamp, die Herstellerin des Bénédictine-Liquieurs, für die Champagnerfirma Louis Röderer, für die größte aller Messerschmiedefirmen, Jos. Rodgers & Sons in Sheffield, für Girolamo Luardo in Zara, den Erzeuger des echten Mareschino und manchen anderen Träger eines weltberühmten Handelsnamens tätig. Aber ebenso lieh er seine umfassenden Kenntnisse anderen ausländischen Firmen, die den Leipziger Eintrag nicht durch ihn erlangt hatten, im Kampfe gegen die Nachahmer. Ich erinnere mich an die amerikanische Gesellschaft Duryea, die mit dem Maizena-Mehl auftrat, an den Holländer Boonekamp, an die schwedische Zündholzfabrik in Jönköping. Naturgemäß wurde mein Vater aber auch von vielen deutschen Firmen gesucht, die inner- oder außerhalb gerichtlicher Verfahren sich von einem wirklichen Kenner des Markenrechts beraten lassen wollten. An alledem hat sich wenig geändert, nachdem das Markenschutzgesetz von 1874 durch das Gesetz zum Schutze der Warenbezeichnungen von 1892 abgelöst worden war.
Das Markenrecht ist ein Teil eines größeren Rechtsgebiets, über dessen Abgrenzung man sich zwar nicht im Unklaren befindet, für das aber eine präzise Gesamtbezeichnung noch immer nicht gefunden worden ist. Man hat von „Immaterialgüterrecht“ gesprochen, ohne darunter den Schutz der Ehre, die doch sicherlich ein immaterielles Gut ist, begreifen zu wollen; von „geistigem Eigentum“, obwohl der Besitz eines Warenzeichens eine sehr reale, an das Vorhandensein eines gewerblichen Betriebes geknüpfte Angelegenheit darstellt. Der Ausdruck „Gewerblicher Rechtsschutz“ ist sprachlich verunglückt. Der Schutz ist nicht gewerblich. Aber hier ist nicht der Ort, der Nomenklatur aufzuhelfen. Es genügt die Hervorhebung, daß jenes große Rechtsgebiet außer dem Warenzeichenrecht alle Erfinder- und alle Urheberrechte, zu denen unsystematisch auch das Verlagsrecht gerechnet werden mag, umfasst.
Allen diesen Rechtsgebieten widmete mein Vater sein Studium. Er hat mir eine vortrefflich ausgewählte Spezialbibliothek hinterlassen, die freilich als Teil meiner groß gewordenen Bücherbestände am 4. Dezember 1943 im Bombenbrande vernichtet worden ist, bis dahin mir aber nicht nur wertvollste Dienste geleistet, sondern hohe wissenschaftliche Befriedigung gewährt hat. Durch meines Vaters Bücher und seine mündliche Unterrichtung habe ich schon in den ersten Studiensemestern auf diesem damals fernab von den gewohnten Geleisen liegenden Gebieten Kenntnisse erlangt, mit denen ich nicht nur unter meinen Altersgenossen, sondern auch im Kreise der gereiften praktizierenden Juristen fast allein stand. Die Werke von Josef Kohler, diesem kühnsten Bahnbrecher für die neuen Rechtsdisziplinen den mein Vater auch im persönlichen Verkehr schätzen gelernt hatte, kannte ich recht gründlich schon vor dem Referendarexamen. Mein Vater hat mich auch tief in seine Spezialpraxis hineinblicken lassen. Wenn einer der ganz großen Prozesse seine Gedankenarbeit absorbierte, so war es ihm vielleicht Bedürfnis, sich darüber auszusprechen, und da er einerseits dazu im Bureau keine Gelegenheit, andrerseits mein starkes Interesse wahrgenommen hatte, so ließ er mich teilnehmen an dem, was ihn bewegte. Seine Darlegungen enthielten für mich über ihren eigentlichen Zweck hinaus tiefgehende Unterweisung über die immanenten Gebote der Prozeßführung. Erst nachdem der gründlichst zusammengetragene Sachverhalt an allen gesetzlichen Bestimmungen, gerade auch im Hinblick auf mögliche Einwendungen, gemessen worden war, durfte zum Aufbau der Schriftsätze geschritten werden. Die von meinem Vater verfaßten, der niemals diktiert hat, waren in Anlage und Aufbau Meisterstücke. Er ließ sich nicht die Mühe verdrießen, sie mehrmals umzuarbeiten, wenn er den Eindruck gewann, daß die erste Fassung nicht die allerstrengste Zielstrebigkeit verkörperte. Vornehm überlegener Stil und außerordentlich schöne Sprache verliehen diesen Schriftsätzen einen nie versagenden Reiz: Auch bei Behandlung eines trockenen Stoffes konnten sie nie langweilig wirken; also wurden sie auch von den Richtern ohne Ermüdungserscheinungen gelesen. Während ich diese Erinnerungen niederschreibe, fallen mir Beispiele solcher Prozesse ein; ein weniges mag erwähnt werden.
Nach einer Bestimmung des Nachdruckgesetzes galt nicht als Nachdruck die Herübernahme von Stücken eines Werkes in ein anderes, das zum Schulgebrauch eingerichtet war. Diese Bestimmung machte ein Dresdner Verleger sich zu nutze, indem er eine ganze Kollektion solcher „Schulausgaben“ erscheinen ließ, die im Grunde genommen nichts anderes waren als wenig gekürzte Abdrucke viel gelesener französischer Romane. Dagegen ging mein Vater als Anwalt mehrerer bedeutender Pariser Verleger z. B. Calmann-Lévy und Hachette, mit Klage vor. Er wies nach, daß die Bearbeitung für den Schulgebrauch in weiter nichts bestehe als in ein paar mehr oder weniger überflüssigen Anmerkungen, die auch außerhalb der Schule den Leser nicht stören würden, und in der Beifügung eines dürftigen Vokabulars, dessen man sich ja nicht zu bedienen brauchte. In Wahrheit handelte es sich also um einen schlecht maskierten Nachdruck der französischen Originalausgaben. Die Sache kam leider vor einer nicht gut besetzten Zivilkammer zur Verhandlung. Der Vorsitzende und der Berichterstatter waren nicht fähig, hinter dem Wort Schulausgabe den Begriff einer solchen zu fixieren. Die Dresdener Ausgaben konnten als Schulausgaben, wie sie bezeichnet waren, verwendet werden: also genossen sie, so lautete die simple Schlußfolgerung, das Privileg des Nachdrucks! Die Klage wurde in erster Instanz abgewiesen. Selten hat mein Vater so scharfe Worte über ein richterliches Urteil gefunden. Er erblickte in ihm eine Bloßstellung der deutschen Rechtspflege gegenüber den Franzosen, denen diese Entscheidung als übelster Ausfluß einer skrupellosen Vorteilssuche für den deutschen Staatsangehörigen erscheinen mußte und auch erschien. Darin hatten sie wohl Unrecht. Nicht Befangenheit, sondern Borniertheit war der Nährboden des Urteils. Die von meinem Vater bearbeitete Berufung hatte beim Oberlandesgericht Dresden vollen Erfolg und das dort ergangene Urteil wurde vom Reichsgericht bestätigt. Bald nach diesem Prozeßsiege erkannte die französische Regierung die Verdienste, die mein Vater sich um den Schutz lebenswichtigster Interessen französischer Staatsangehöriger so vielfach erworben hatte, durch seine Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion an[46].
In unserer Familie wurde die Erinnerung an jenen sensationellen Prozeß immer lebendig erhalten durch die vielen Originalausgaben der mißbrauchten französischen Bücher, die aus den Akten zurückkehrten und von den Verlegern meinem Vater überlassen wurden. Mindestens ein Dutzend davon hatte mir mein Vater geschenkt. Sie sind sämtlich am 27. Februar 1945 verbrannt.
Aus der Reihe der wichtigen Patentprozesse will ich hier eines einzigen gedenken, weil in ihm der Scharfsinn, mit dem mein Vater in die Bereiche fremder Wissenschaftsgebiete einzudringen verstand, zu einem ganz außerordentlichem Erfolge geführt hat.
Dieser Rechtsstreit hieß der „Moschusprozeß“. Der tierische Moschus ist bekanntlich eins der seltensten und kostbarsten Ingredienzien für die Herstellung von Parfüms verschiedener Art und wird auch in der Pharmakologie verwendet. Im letzten Jahrzehnt des 19. Säculums machte ein junger Student der Chemie, Namens Baur, beim Experimentieren die zufällige Entdeckung, daß im Ablauf eines bestimmten chemischen Prozesses ein überaus stark nach Moschus riechender Rückstand entstehe. Offnen Auges, man kann auch hinzufügen mit empfangsbereiter Nase, ging er nun planmäßig der Entdeckung nach, kontrollierte und emendierte den Entstehungsprozeß und wurde am Schlusse der Inhaber eines deutschen Reichspatents auf ein „Verfahren zur Herstellung von künstlichem Moschus“. Die erforderliche finanzielle Anlehnung hatte ihm ein großes elsässisches Industriewerk bereitgestellt, die Fabrik Fabriques Chimiques des Thann et Mulhouse, deren technischer Direktor die den Markt umwälzende Wucht der Baurschen Erfindung erkannte. Seine Fabrik nahm die Herstellung auf. Da der Handelspreis für ein Kilo tierischen Moschus 6000 Mark betrug, wurde mit 1500 Mark für den künstlichen bei etwa 30 Mark Entstehungskosten ein gewaltiger Gewinn erzielt. Nachgewiesenermaßen stand der Baursche Moschus an Güte und Verwendbarkeit dem natürlichen in keiner Weise nach. Es konnte nicht fehlen, daß die fetten Erträgnisse einen Anreiz für skrupellose Konkurrenten bildeten, durch Umgehung des Baurschen Patents ihre eigenen Taschen zu füllen. Zuerst trat die Leipziger Firma V & S (Valentiner & Schwarz) mit Angeboten und Lieferungen von selbst erzeugtem künstlichen Moschus auf den Markt. Ihr Fabrikat stimmte mit dem der Fabriques chimiques chemisch überein. Da das Patentgesetz die Vermutung aufstellt, daß ein Erzeugnis, auf dessen Herstellung ein Verfahrenspatent erteilt ist, als nach diesem Verfahren gewonnen bis zum Beweise des Gegenteils gilt, so wurde die genannte Firma, die sich weigerte über ihre Herstellungsweise Auskunft zu geben, aber leugnete, sich des Baurschen Verfahrens zu bedienen, vor dem Landgericht Leipzig auf Unterlassung der Patentverletzung und Schadensersatz verklagt. Nachdem mehrere Kapazitäten der chemischen Wissenschaft und Industrie die völlige Identität des Baurschen und des Leipziger Moschusprodukts nachgewiesen hatten, blieb der beklagten Firma allerdings nichts übrig, als den von ihr angeblich gewählten Erzeugungsprozeß offenzulegen. Sie zierte und sträubte sich freilich, weil sie damit ein unersätzliches Betriebsgeheimnis preisgebe, konnte aber um die erwähnte gesetzliche Vermutung sich doch nicht herumdrücken. Sie legte deshalb dem Gericht eine ganz eingehende Darstellung ihres Verfahrens vor. Aus ihr ergab sich, daß dieselben Materialien wie von Baur, daneben aber noch andere, verwendet und daß sie nicht nur den von Baur benutzten, sondern auch anderen Behandlungsmethoden unterworfen wurden. Der Leipziger Moschus, so besagten mehrere Parteigutachten, sei also nicht nach dem durch das Baursche Patent geschützte Verfahren hergestellt.
Damit war der Klageanspruch aufs höchste gefährdet. Aber meinen Vater verließ das Vertrauen auf die gerechte Sache nicht. Er sagte sich, daß es doch ein allzu seltsamer Zufall sein würde, wenn alsbald nach der epochalen Baurschen Entdeckung an anderer Stelle ein völlig selbständiges Verfahren zur Herstellung des gleichen Endprodukts ersonnen worden sei, und mißtraute den verzögerten Auskünften der Prozeßgegner auch in der Erwägung, daß sie, wenn ihr Verhalten wirklich so einwandfrei gewesen wäre wie sie vorgaben, doch wahrscheinlich selbst ein Patent nachgesucht hätten. Mit solcher Einstellung vertiefte er sich in das Studium der gegnerischen Darlegungen. Sie bewegten sich in weitab der besten Allgemeinbildung liegenden Fachausdrücken und bereiteten auch durch einen recht komplizierten Gedankenaufbau dem Verständnisse große Schwierigkeiten. Nach und nach aber drang mein Vater doch zum Wesentlichen vor. Es fiel ihm beispielsweise auf, daß dem von Baur benutzten Rohmaterial anfänglich ein neuer Stoff, sagen wir Jod, beigemischt worden war, daß aber gerade das Jod, nachdem das Material verschiedene Behandlungen durchgemacht hatte, durch eine abermalige Beimischung gebunden und schließlich ausgefällt wurde. Weiter machte ihn die Beobachtung stutzig, daß unter markanter Abweichung vom patentierten Verfahren auf das Destillat eine gewisse Behandlungsweise angewendet, in einem späteren Stadium des Prozesses aber wieder rückgängig gemacht wurde. Als mein Vater alle derartigen Wahrnehmungen seines Laienverstandes schriftlich vor sich liegen hatte und sie gewissermaßen wie ein Rechenexempel behandelte, kam er zu der überraschenden Überzeugung, daß alle positiven und negativen Abweichungen vom Baurschen Verfahren sich gegeneinander aufhöben und zuletzt nichts anderes übrig bliebe als der patentierte Hergang! Weil zweifelhaft sein konnte, ob diese rein rationelle Betrachtungsweise sich mit den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Chemie vertrage, wurden neue fachmännische Gutachten beigezogen. Sie lauteten übereinstimmend dahin, daß das Leipziger Verfahren nichts anderes sei, als das durch Zwischenprozesse der oben geschilderten Art künstlich verdeckte Baursche Verfahren. Auf diesen Standpunkt stellte sich nunmehr mit aller Entschiedenheit auch ein vom Gericht als Obergutachter bestellter Professor der Dresdner Technischen Hochschule, der bis dahin in seiner Meinung geschwankt hatte. Der Prozeß wurde gewonnen. So hatte der Jurist mit den Mitteln des rein logischen Denkens den Fachgelehrten den Weg zum rechten Ziel gebahnt und gewiesen. Solange mein Vater mit den Fabriques und Chimiques korrespondierte, merkten wir es bei seinem Heimkommen vom Büro in die Wohnung stets sofort, wenn er an einem Brief aus Thann empfangen hatte: seinen Kleidern und sogar seinem Backenbart hatte sich der Moschusgeruch mitgeteilt. Aber sogar im Landgerichtsgebäude wußte alle Welt, wann bei der zuständigen Zivilkammer ein Termin im Moschusprozeß anstand: Bei der Beförderung von der Gerichtsschreiberei bis zum Verhandlungssaal hatten die Akten die süßlichen Düfte in die forensischen Lüfte entsendet und damit nicht einmal die Dienstkleidung der königlich-sächsischen Gerichtsdiener verschont.
Nach Jahrzehnten wurde der Wichtigkeit und Eigenart dieses Moschusprozesses mir gegenüber gesprächsweise von meinem Kollegen Dr. Kraemer aus Berlin nach dessen Zulassung beim Reichsgericht gedacht. Sein Vater war einer der Sachverständigen gewesen, durch deren Gutachten die von meinem Vater entdeckten Verschleierungsmaßnahmen wissenschaftlich bestätigt worden waren. Auch Dr. Kraemer hatte seinerzeit durch seinen Vater von dem Schalksstreich der Leipziger Firma erfahren, der lustig genannt werden könnte, wenn er im Grunde genommen nicht auf einen besonders verwerflichen Betrug hinausgelaufen wäre.
Meine Reminiszenzen an die Berufstätigkeit meines Vaters sind vielleicht für Leser und Hörer viel zu breit ausgefallen. Für mich aber sind sie ein ganz wesentlicher Bestandteil seines in mir haftenden Charakterbildes. Von Haus aus eine keineswegs in Rezeption sich erschöpfende, sondern schöpferisch veranlagte Künstlernatur, ist er an der Preisgabe des ihm durch innere Berufung gewiesenen Lebenszieles nicht zerschellt, sondern hat in der ihm nur als Surrogat verbleibenden juristischen Tätigkeit seine geistigen Fähigkeiten so hingebungsvoll zur Wirkung gebracht, als sei er in den Anwaltsberuf hineingeboren und finde nur in ihm die Existenzbedingungen seiner Individualität.
In Wirklichkeit trat solche Absorption der Zeit und der Neigungen meines Vaters durch seine Berufsarbeit jedoch keineswegs ein. Beschäftigung mit Lektüre und Musik schufen einen glücklichen Ausgleich. Die weitgespannten Kenntnisse, die mein Vater in der Jugend schon sich erworben hatte – sie leuchten durch seine „Blüten aus dem Treibhause der Lyrik“ überall hindurch – erweiterten sich ununterbrochen, ich kann kühnlich behaupten bis in sein allerletztes Lebensjahr. Von ausländischen Schriftstellern bevorzugte er die Engländer, Franzosen, Italiener, während er zu den Skandinaviern nie eine engere Fühlung zu gewinnen vermochte. Er bezeichnete sie mit einem präzis gar nicht auszudeutenden und doch so signifikanten Ausdrucke als „Anchovisliteratur“. Aus seiner Bibliothek sind zahlreiche alte Ausgaben der besten Schriftsteller, ebenso modernste Werke auf seine Erben übergegangen. Bei der bekannten Buchhandlung A. Twietmeyer, die in Leipzig vorzüglich das ausländische Sortiment und Antiquariat pflegt, war er ein viel beanspruchender Kunde. Denn was er las, mußte er besitzen. Niemals ist ein Leihbibliotheksbuch in seine Hand genommen worden. Gegenüber der zeitgenössischen deutschen Belletristik beobachtete er eine temperierte Zurückhaltung. Hatte er doch einmal ein Erzeugnis der Literatur nach 1870 gelesen, so warf er wohl die rhetorische Frage auf: „Mußte das denn sein?“ Seine Meinung ging dahin, daß die frühere Literatur so reichhaltig und so umfassend sei, daß spätere Autoren nichts wesentlich Neues oder Förderliches sagen könnten. Von dieser Beurteilung nahm er allerdings die Schweizer Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer aus, die er durchaus als „voll“ zählte. Uns, seinen Kindern, ist der Vater ein allezeit bereiter und sicherer Führer durch die Weltliteratur gewesen. Tiefste Dankbarkeit erfaßt mich erneut, wenn ich beim Niederschreiben dieses Satzes darüber nachdenke, wie zahllose Kleinodien, von Sophokles angefangen über die großen Italiener des Mittelalters und die Zeit der deutschen Klassiker und Romantiker bis zu Anatole France und Kipling, ich durch meinen Vater kennen gelernt habe und wie dabei unmerklich mein Verständnis und mein Geschmack geschult worden ist. Einer Abteilung seines Bücherschrankes, die er seinen „Lustigen Rat“ nannte, entnahm er mit Vorliebe den Lesestoff, den er uns vortrug. Wie haben wir gelauscht, wenn er uns etwa mit dem Schulmeister von Heins aus Rückerts Makamen des Hariri[47], mit Kapiteln aus der Jobsiade[48] oder mit Zettelkästen Jean Pauls oder, den französischen Text ins Deutsche übertragend, Stücke aus Tartarin aux Alpes[49] bekannt machte. Unmerklich übertrug sich die Empfänglichkeit für rechten Humor und wirklichen Witz, die im Gegensatz zum Gefallen an öder Spaßmacherei ihm eigen war, auf uns. Ein so vorzüglicher Interpret dieser fröhlichen und erfrischenden Literatur war er auch deshalb, weil er selbst die Gabe des witzigen Bonmots besaß. Es ist schwierig, mit Beispielen dafür aufzuwarten, weil sich dazu in der Regel eine umständliche Schilderung der Situation nötig macht und die Pointe erlahmt. Trotzdem will ich ein paar hübsche Proben anführen. Die Eltern fuhren mit Tante Adelheid[50] zur Peterskirche, wohl anläßlich Hannas Konfirmation. Die Tante, feierlich und gravitätisch wie immer bei solchen Gelegenheiten, war mit einem schwerseidenen Staatskleid angetan. Als sie, ganz große Dame, den Wagen verlassen hatte, um das Portal der Kirche zu durchschreiten, blieb sie durch eigene Unachtsamkeit oder fremde Ungeschicklichkeit irgendwo hängen und der kostbare Kleiderrock bekam einen schlimmen Riß. Ehe aus Zorn und Entsetzen eine peinliche Szene erwachsen konnte, bemerkte mein in unmittelbarer Nähe der Unfallstelle anwesender Vater halblaut, aber vernehmlich: „O weh, Trennung des Staates von der Kirche!“ und löste damit die Stimmungskrise in fröhliches Lächeln auf.
Ein andermal fand bei uns eine Diskussion über die Feuerbestattung statt. Die Gegner brachten unter den bekannten Argumenten auch vor, daß man sich über die Haltung der Geistlichen nicht hinwegsetzen dürfe, die der Totalvernichtung der Leiche aus religiös-kirchlichen Gründen widerspreche. Da warf mein Vater ein: „Merkwürdig. Gegen das Verbrennen von lebenden Menschen hat doch gerade die Kirche nichts einzuwenden gehabt.“ Ein Witzwort aus tiefster Weisheit!
Wohl an einem Weihnachtsfeiertage oder am Silvester hatten meine Eltern Freunde zu Gästen; meine Mutter ließ einen Fischsalat servieren, den damals ein Delikatessengeschäft in einer ganz vorzüglichen Zubereitung lieferte, wie sie mir später nie wieder begegnet ist. Schon die äußere Anrichtung war ein Stillleben zum Malen schön. In der Garnierung sah man unter anderem rund gelegte Bricken. Jemand warf die Frage auf, welches der bereitstehenden Getränke zu dem köstlichen Gerichte passe, der Chambertin oder etwa ein spritziger Mosel. Mein Vater entschied mit einem Zitat aus der Jungfrau von Orléans:
Nicht Chambertin!
„Der Burgunder greift die Bricke an.“
In ein Exemplar der „Blüten“ schrieb er einem Bekannten eine Widmung, deren erste Strophe ebenfalls eine witzige Umdeutung eines Schillerschen Verses (aus dem Gang nach dem Eisenhammer) gibt:
„Schon mancher kauft zur Weihnachtszeit
Sich diesen zarten Band,
Bringt ihn der Gattin tief bewegt,
Die nichts davon verstand.“[51]
Obwohl Weihnachten in unserem Elternhause in der denkbar schönsten Weise gefeiert wurde und der Vater wie die Mutter sich nicht genug tun konnten im Ersinnen von Geschenken für uns und anderen Freuden, war ihm doch die Unruhe nicht angenehm, die schon wochenlang vor dem Heiligen Abend die ganze Wohnung erfüllte, und erst recht nicht die Überbeanspruchung der Mutter durch Besorgungen, auch für die vielen Leute, die außer den Dienstmädchen auf Geschenke rechneten, und durch andere Vorbereitungen. Dieser Abneigung gegen den Trubel verlieh der Vater einmal in den Ostertagen Ausdruck mit dem tiefsinnigen Bonmot: „Ostern, Ostern: es ist zwar kein Pfingsten, aber doch wenigstens kein Weihnachten.“
Als Motto für einen Abreißkalender schlug er das „Carpe diem“ vor. „Pflücke den Tag“ – nicht in übertragenem Sinne, sondern wörtlich gemeint, reiße ihn ab vom Block.
Ich erwähnte bereits, daß bei Konrad Rieger recht viele der Scherz-Poeme meines Vaters abhanden gekommen oder zerstört worden sind. Dazu gehört auch eine ganz eigenartige Sammlung. Ein großes Leipziger Haus für Damenmoden, ich weiß nicht mehr ob es Steckner war oder Polich, hatte auch an meine Mutter einen recht gefällig ausgestatteten Werbekatalog gesendet. Seine Eigenart bestand darin, daß die angebotenen Kostüme nicht einfach durch den Druck wiedergegeben, sondern in Szenenbildern vorgeführt wurden, auf denen sie, jedes mit einem Frauennamen bezeichnet, die Bekleidung von Figuren darstellten. Darunter waren die verwendeten Stoffe und die Preise angegeben. Mein Vater hatte den lustigen, schnellsten verwirklichten Einfall, diese Modenbilder mit beschreibenden Versen zu versehen. Leider habe ich die allermeisten vergessen. Aus der Erinnerung taucht aber folgendes auf: Eine das Kostüm „Eulalia“ tragende Dame betätigte sich mit einem Herrn als Schlittschuhläuferin. Ihnen sah am Rande des Teiches ein junges Mädchen mit anscheinend finsterem Ausdruck zu. Mein Vater schrieb darunter:
„Laß deine Stirn es nicht beschatten,
Wenn dort in Knickerbocker-Tweed
Eulalia am Arm des Gatten
Auf blankem Eise Kreise zieht.
Bald bringen Mars dir und Minerve
Was dir noch fehlt zum Traualtar:
Den schneid’gen Leutnant der Reserve,
Der nebenbei noch Ref’rendar.“
Auf einer anderen Illustration sah man, wie einer ihr Haus im Reitkostüm verlassenden jungen Dame eine weit ältere entgegenkommt. Mein Vater verfaßte eine „Legende“, die anhebt:
„Klotilde will im Reiterkleid
(Cachemir-foulard zu 60 Mark)
Das Roß besteigen, das bereit
Längst stand zum Ritte durch den Park.“
Kurz wird dann erzählt wie ihre Absicht dadurch vereitelt wird, daß gerade jetzt „Tante Naumann angerennt“ kommt, und es wird die Sentenz geprägt, wie unsicher die Pläne des Menschen sind:
„Eh du es ahnest, kommt Besuch,
Und niemand weiß, wie lang er weilt.“
Das ist in unserem Familien- und Bekanntenkreise zu einem recht oft gebrauchten Worte der Resignation geworden.
Vielleicht könnte mein Bruder Carl, der viel länger als ich bis zum Tode des Vaters im Elternhause gelebt hat, wertvolle Beiträge zur Vervollständigung dieser Zitate beibringen.
Verschont geblieben vom Feuer ist erfreulicherweise in mehreren Druckexemplaren eins der längeren und witzigsten Gedichte, der Bericht, den mein Vater als Substitut eines auswärtigen Kollegen über die Abwartung eines Termins in einer Bagatellsache vor dem Leipziger Bezirksgericht, dem rechtsgeschichtlichen Vorgänger des Amtsgerichts, erstattete. Der Kontrast zwischen der durch mühsames Studium erworbenen gründlichen juristischen Ausbildung des Advokaten und der im Erstreiten eines Urteils über fünf Silbergroschen gegen einen Habenichts sich erschöpfenden Praxis wird mit überlegener Ironie aufgezeigt. Diesen Versen wohnt unzweifelhaft kulturhistorischer Wert inne.
Gedenke ich nunmehr der Musik im Leben des Vaters, so tritt vor meine Augen seine Gestalt, wie er fast an jedem Sonntagvormittag, aber oft auch zu anderen freien Tagen und Stunden auf einer seiner beiden Geigen übte mit einem Ernst und einer Ausdauer, als habe er sich auf einen Lebensberuf, mindestens auf eine möglichst glanzvoll zu bestehende Abschlußprüfung in der Meisterklasse eines Konservatoriums vorzubereiten. Er wusste und betonte in seiner Bescheidenheit stets, daß er außerhalb der Zunft stehe. Aber in der Leistung Dilettant zu sein, erlaubte er sich nicht. Unablässig mutete er seiner linken Hand, die durchaus keine schlankfingrige schmale Geigerhand war, die mühseligsten Geläufigkeitsetüden zu, und wenn er in einer Komposition, sei es auch eine solche, die er nicht anderen vortragen, sondern nur für sich allein kennen lernen und genießen wollte, auf die kniffligsten Terzpassagen oder ähnliche Schwierigkeiten stieß, so übersprang er nicht etwa diese Widerwärtigkeiten, sondern ruhte nicht eher, als bis seine Technik ihrer vollständig Herr geworden war. Diese Ausdauer war bewundernswert, denn im Grunde genommen rang er sie sich aus Ehrfurcht vor der Kunst ab, im Kontraste zu seinem impulsiven, rasch erfassenden und schnell handelnden Charakter. Wie glücklich war er aber auch, wenn er beispielsweise ein Virtuosenstück wie das Violinenkonzert von Vieuxtemps oder ein so erlesenes Kunstwerk wie das große Konzert von Mendelssohn ohne die leiseste technische Hemmung zu spielen vermochte. Was außer der Technik zum künstlerischen Vortrag noch gehört und erst den wahren Musiker ausmacht, hat ihm nie gefehlt. Musikalität durchströmte seine Adern. Sie bestimmte auch maßgeblich seinen persönlichen Umgang. Er hielt sich von jedem Skatkränzchen, jedem Kegelklub, jeder Schützengesellschaft und wie sonst noch die Klüngel heißen mögen, in denen das Geselligkeitsbedürfnis des Spießers und Philisters Erfüllung sucht, sein Lebtag fern, aber einer ganz losen Vereinigung gehörte er an: dem Beethoventisch. Um Karl Reinecke, den Direktor des Konservatoriums und Kapellmeister der Gewandhauskonzerte, vereinigten sich in der Weinstube Möhle hinter der Nikolaikirche, dort, wo später die Wirtschaft Bavaria entstand, periodisch Männer aus verschiedenen Lebenskreisen, verbunden durch tiefste Zuneigung und Hingabe an diejenige Musik, die ihnen als die einzig echte und wahre Kunst erschien. Bei dieser Grenzziehung verfuhren sie sehr orthodox. Für sie war Beethoven in solchem Sinne die Inkarnation und die Vollendung der Instrumentalmusik, daß sie als letzten Symphoniker gerade noch Brahms bedingungsweise gelten ließen. Bereitwillig als echte Musiker anerkannt wurden Franz Schubert, Weber, Mendelssohn, Robert Schumann und mancher andere der unsterblich gebliebenen Komponisten, aber die gänzliche Ablehnung Richard Wagners und seiner Art war dem Beethoventisch nicht nur Dogma, sondern eingewurzelter Glaube. Keineswegs huldigte man indessen einer unfrohen Askese, sondern hielt es nicht für einen Raub an den eigenen Idealen, sich auch an musikalischen Scherzen zu ergötzen, vorausgesetzt, daß sie geschmackvoll ersonnen und dargeboten wurden. Ich hebe das hervor, weil aus einem derartigen Anlasse sich zwischen meinem Vater und einem anderen Besucher des Beethoventisches ein persönliches Verhältnis entwickelt hat, das nach und nach sich zu einem immer wichtiger werdenden Bestandteil unsres häuslichen Verkehrs ausweitete. Im Anschluß an ein geselliges Zusammentreffen des Beethoventisches, wohl im Hause Reineckes, wurde allerlei musikalische Kurzweil getrieben. Irgendeiner der Anwesenden begann auf dem Flügel ein paar Takte aus einem bekannten Werke, einer Ouvertüre, einer Symphonie, einem Liede zu spielen, als auch schon auf einem zweiten Pianoforte oder einem anderen Musikinstrumente ein anderer eingriff, indem er die Melodie in die einer anderen Komposition überleitete, also ähnlich wie in einem sogenannten Potpourri verfahren wird, nur daß die Männer am Beethoventisch sich nicht in ausgefahrenen Gleisen bewegten, sondern ferner liegende Weisen geistvoll miteinander zu verknüpfen wußten. So wurde also dem jeweils Musizierenden das von ihm angeschlagene Thema aus den Fingern genommen und er mußte zur Vermeidung von Kakophonien bestrebt sein, seinerseits den Eindringling auf gleiche Weise wieder herauszuwerfen. Solcher Kunststücke sind selbstverständlich nur außerordentlich begabte Musiker fähig, die nicht nur die Gesetze der Harmonie virtuos beherrschen, sondern auch über ein überaus reichhaltiges, stets eingriffbereites Gedächtnis verfügen. An jenem Abende wurde das witzige Spiel durch eine neue Nuance bereichert. Als Erster unternahm es mein Vater, einem auf dem Klavier vorgetragenen Stück aus Rossinis Tell-Ouvertüre seine Geigenstimme zu überlagern, und zwar mit der Melodie der Volksweise „Lott ist tot, Lott ist tot, Jule liegt im Sterben.“ Andere eiferten ihm nach. Karl Reinecke selbst schrieb auf Notenpapier sofort nieder, was er und seine Gäste improvisierten. Daraus ist ein Stück für Klavier und Violine entstanden, das der mit anwesende Verleger Konstantin Sander unter dem Titel „Wippchen“ und mit der Komponistenbezeichnung S.C.Helm herausgebracht hat. Es beginnt großartig mit der C-Moll-Sinfonie von Beethoven und gleitet alsbald in die Arie aus Josef in Ägypten über: „Ich war ein Jüngling noch an Jahren.“ Hundertmal mag das ebenso geistreiche wie wohlklingende Produkt vergesellschafteter Laune eines Kreises von Kennern und Könnern in meinem Elternhause wiedergegeben worden sein: stets ist es herrlich gewesen wie am ersten Tag. Leider, leider ist meines Vaters Exemplar am 27.02.45 verbrannt. Ob die Noten noch beim Verleger zu beschaffen sind, weiß ich nicht, bezweifele es aber sehr.
Der Musiker mit dem an jenem denkwürdigen Abende mein Vater sich besonders rasch und gut verstanden und mit dem er eine Anzahl der allerkühnsten und erstaunlichsten Melodienverknüpfungen zum Wippchen beigesteuert hatte, war Leo Grill, Lehrer am Konservatorium für Theorie und Komposition, zugleich ein vorzüglicher Klavierspieler. Die beiden Männer waren einander sympathisch, begegneten sich auch außerhalb der Musik vielerorts in ihren Anschauungen. So kam es, daß Grill an einem Sommersonntage wohl 1876 uns in Crostewitz bei Leipzig, wo wir während der milden Jahreszeit wohnten, besuchte. Wir beiden Kinder durften den Vater nach dem Bahnhofe Gaschwitz begleiten, um den Gast abzuholen. Er machte tiefen Eindruck auf uns durch eine Aussprache, wie wir, in deren Ohren außer dem Leipziger Dialekt noch das Düsseldorfer Deutsch hing, sie noch nie gehört hatten. Grill war nämlich in Ungarn geboren und auf dem Wiener Konservatorium ausgebildet worden und hatte die letzten Jahre vor seiner Berufung nach Leipzig in München zugebracht. Sein Oberdeutsch, mit Ausdrücken durchsetzt, die wir nicht kannten und teilweise nicht verstanden, erzeugte in uns eine aus Belustigung und Respekt vor dem fernhergekommenen Ausländer gemischte Stimmung, die noch lange nach dieser ersten Begegnung immer wieder aufkeimte, wenn Grill im Elternhause erschien. Dieser Verkehr bahnte sich rasch an. Grill war unverheiratet. Er lebte in gemeinsamem Haushalt mit der Witwe seines Bruders und deren zwei Kindern, einem Jungen und einem Mädchen. Frau Grill war als Sängerin ausgebildet und hatte eben in ihr erstes Engagement am Münchner Hoftheater eintreten sollen, als der dort als gefeierter Sänger wirkende Bruder Grills sich mit ihr verlobte und seltsamerweise ihr die Bühnen- und Konzertlaufbahn untersagte. Als er nach einigen wenigen Ehejahren starb und die Witwe mit den beiden kleinen Kindern ohne Einkünfte zurückließ, hatte Leo Grill, der zwar ein eingefleischter Hagestolz, aber doch häuslicher Bequemlichkeit sehr zugetan war, sie bei sich aufgenommen. Sie und ihre Kinder traten nun sehr bald auch mit unseren Eltern und uns Kindern in Verkehr. Sie war von großer Schönheit und gewann sofort unsere Zuneigung durch ein munteres herzliches Wesen. Geradezu zur Bewunderung und zum Staunen aber riß sie nicht nur uns Kinder, sondern auch die Eltern durch ihren Gesang hin. Bald nachdem die Familie Grill in unseren Familienkreis eingetreten war, setzten die von Musik erfüllten Sonntagnachmittage ein, die so viele Jahre einen wichtigen und wertvollen Teil meiner Jugenderlebnisse gebildet haben. Grill saß an dem Flügel den, als das letzte von Felix Mendelssohn Bartholdy selbst benutzte Klavier, mein Vater von Breitkopf & Härtel[52] gekauft hatte; der Vater geigte und sang, Frau Grill sang. Bisweilen beteiligten sich an diesen Hauskonzerten auch andere. Das waren vorübergehende Erscheinungen, jene drei Künstler aber haften in ihrer ganzen Haltung, ihren Bewegungen, dem völlige Hingabe an die Musik zeigenden wechselnden Gesichtsausdrucke so fest in meiner Erinnerung, daß ich die Klänge wieder zu hören vermeine, die aus ihren Instrumenten und ihren Kehlen dringend mich entzückt und begeistert, ergriffen und erschüttert haben. Als Frau Grill zum ersten Male bei uns sang, hörten wir Lieder von Mendelssohn: „Schöner und schöner schmückt sich der Plan“. „Sie wandelt im Blumengarten“ und manches andere, zuletzt das Hexenlied: „Die Schwalbe fliegt, der Frühling siegt.“ Hatte sie mit berückenden Wohllaut ihres weichen Organs die beiden ersterwähnten Lieder vorwiegend lyrischer Stimmung, das Italienlied jubelnd, das andere unbeschreiblich zart und doch nicht süßlich vorgetragen, so erklang das großartige Hexenlied in einer von Leidenschaft durchglühten dramatischen Spannung, die mich, und wohl nicht nur mich Jungen, erzittern ließ. Töne, wie Marie Grill den Schlußzeilen jenes Liedes verlieh, habe ich in solcher Übereinstimmung von Schönheit und Stärke nie wieder gehört. Dabei blieb es, so oft später der Vortrag wiederholt wurde. Viele Jahre danach besuchten Hanna und ich ein Konzert einer mit Recht berühmten Sängerin hauptsächlich deshalb, weil auf dem Programm das Hexenlied angekündigt war, eine größte Seltenheit im Konzertsaale. Die Künstlerin erntete starken Beifall. Wir Geschwister sahen uns still an, enttäuscht. Dabei mag Voreingenommenheit mit im Spiele gewesen sein. Aber sie wäre doch nur ein Zeugnis für die Eindringlichkeit gewesen, mit der das Hexenlied unsere Tante Grill sich in unsere Seelen eingegraben hatte. Die gewaltige Wirkung des Hexenliedes erreichte die Sängerin auch mit Stücken aus Mendelssohns unvollendeter, heute fast vergessener Oper „Loreley“ die wir erst ziemlich spät kennenlernten. Aber die Regel bildeten nicht diese dramatischen Gesänge, sondern die eigentlichen Lieder. Sie sang sehr viel Schumann, auch Duette mit meinem Vater, wie beispielsweise das liebliche: „Großvater und Großmutter, sie saßen im Gartenhag“, und auch Lieder mit Klavier- und Violinbegleitung. Ich erinnere mich an drei wenig bekannte Kompositionen Goethischer Dichtungen von Hauptmann (darunter „Der Fischer“, und das ganz eigenartige „O gieb vom weichen Pfühle träumend ein halb Gehör“), in denen auch die Geigenstimme als Melodie behandelt ist, so daß ein regelrechtes Duett mit der Gesangsstimme entsteht. Wie es sich erklärt, daß man diesen edlen und zugleich wirkungsvollen Kompositionen nie auf Konzertprogrammen begegnet, ist schwer zu sagen. Es müßte sich doch ein Konzertmeister finden lassen, der den Violinpart übernimmt, ohne neben der Sängerin auf eigentliche Solistenehrung Anspruch zu machen.
Unerschöpflich ist die Fülle der Lieder, die ich in jenen Tagen durch den Mund meines Vaters kennengelernt habe; ich würde nicht einmal die Namen aller Komponisten anführen können. Er sang viel Schumann (Die beiden Grenadiere. Es zogen zwei junge Gesellen. Der Hidalgo: gehörten zu den Glanzstücken) Löwesche Balladen (Douglas, Der Nöck), Beethoven (An die ferne Geliebte, Adelaide), aber vor allem Franz Schubert. Wohl die Mehrzahl aller Gesänge, die dieser reichste aller Liederkomponisten uns mit verschwenderischer Hand geschenkt hat, habe ich im Laufe der Jahre von meinem Vater gehört. Noch als er das sechzigste Lebensjahr überschritten und seine herrliche Stimme an Kraft und Glanz eingebüßt hatte, riß er uns durch die Vornehmheit des Vortrags hin. Wie das möglich ist, zeigt ja das Beispiel von Ludwig Wüllner, der, als er fast stimmlos geworden war, als Sprecher der früher gesungenen Lieder andachtsvolle Hörer fand. Mein Vater aber ist doch Sänger geblieben. Neben Einzelliedern (Nussbaum, Doppelgänger, Auf dem Wasser zu singen[53], Erlkönig, Der Zwerg, Ich will von Atreus‘ Söhnen[54] … und unzähligen anderen) hat er uns alle mit den beiden Zyklen Winterreise und Müllerlieder beglückt. Diese keinem ephemerem Zeitgeschmack preisgegebenen Lieder habe ich in Konzertsälen gehört, auch von gottbegnadeten Künstlern wie Anton Sistermanns, Bender und anderen. Niemals wurde das unauslöschliche Glücksgefühl erreicht, das mich in meinen Jugendjahren beim Vortrag meines Vaters in tiefster Seele angerührt hat. Ich weiß, daß dabei die persönliche Verbundenheit zwischen Vater und Sohn, Freude und Stolz des Sohnes, den Ausschlag gegeben hat. Aber diese Zeilen sollen ja auch keine Rangliste aufstellen, sondern meinen Kindern und Enkeln verdeutlichen, wie tief der Großvater und Ahne mit seinem Gesange die Gemüter seiner mit ihm lebenden Familie ergriffen hat. Ebenso wie dafür bleibe ich ihm ewig dankbar für sein Violinspiel, durch das er mit Leo Grill am Flügel uns unvergeßliche Stunden bereitete. Diese beiden vollkommenen Musiker beschränkten sich selbstverständlich nicht auf eigens für ihre Instrumente geschriebene oder dafür arrangierte Kompositionen, sondern verstanden es, Orchesterwerke aus der Partitur zu spielen. So hörten wir auch Ouvertüren und andere Opernteile, Sinfonien, Oratorien. In der Regel wurde bis zum Abendessen gewichtige Musik gepflegt. Danach aber wurde der leichteren Muse das Feld überlassen. Lanner und die drei Strauß wurden von unserem Instrumentalduett hochgeschätzt und ihre Tänze mit hinreißender Lebendigkeit gespielt. Die Pester Walzer von Lanner, die Geschichten aus dem Wiener Wald, die Morgenblätter, die Blaue Donau und wie alle diese von Frohsinn und Lust überströmenden Tänze sich nennen mögen – ich glaube nicht, daß sie im Konzertsaal durch eine Straußkapelle zu stärkerer Wirkung gebracht werden können als sie durch den Vortrag in meinem Elternhause auf den kleinen Kreis der dortigen Zuhörer ausgeübt wurde. Gerade weil mein Vater und sein Freund in diesen Tänzen das musikalische Kunstwerk achteten, schöpften sie dessen Gehalt mit strengster Technik aus; sie hätten sich niemals gestattet, diese Kompositionen weniger ernst zu nehmen, weil es doch nur Tänze und nicht Sinfonien wären. Die Denkweise meines Vaters enthüllte sich in sehr charakteristischer Weise nach der Einweihung des neuen Gewandhauses, an dessen Giebel die Inschrift angebracht worden war: Res severa verum gaudium. Der landläufigen Übersetzung: „Ernste Dinge schaffen die wahre Freude“ trat er entgegen. Der rechte Sinn des Spruches sei: „Es ist um die echte Freude eine erste Sache.“ So trat er auch an Tänze und andere sogenannte leichte Musik heran. Nur wenn man sie als Kunstwerk ansieht, ansehen darf und demgemäß ernst nimmt und behandelt, gelangen sie in die Bereiche, in denen die wahre Freude die Herzen erhebt. So eng in meines Vaters Lebensgang verwoben die Hingabe an die schöngeistige Literatur und die Musik war, so gering war sein Bedürfnis nach Malerei, Skulptur, Architektur. Er war keineswegs unempfänglich gegenüber der Schönheit von Gemälden, Statuen, Gebäuden; aber diese nur visuellen Reize drangen wohl nicht bis zum Zentrum seines Gefühlslebens vor und hätten entbehrt werden können, ohne vermißt zu werden. Die Gedichte des Michelangelo liebte er, die Sixtinische Madonna respektierte er. Tiefes Verständnis brachte er einem Sonett Michelangelos entgegen und wies mich darauf hin, das in der wundervollen Übertragung von Sophie Hasenklever[55] mit den Worten beginnt:
Des besten Künstlers herrlichste Gedanken,
Ein einz’ger Marmor kann ihn ganz enthalten,
Doch muß, soll er zum Bildwerk sich gestalten;
Die Hand dem Geist gehorchen ohne Wanken.
Es war, wie die Zustimmung zu diesen Versen zeigt, wahrlich nicht Geringschätzung der stoffgebundenen Kunst gegenüber der freien, was in meinem Vater keine nähere Beziehung zu ersteren aufkommen ließ, sondern die Bewahrheitung der oft bestrittenen und doch nicht zu widerlegenden Erkenntnis, daß die mehreren Ausdrucksformen des Menschengeistes, die wir allesamt Künste nennen, in voneinander verschiedenen Bezirken des Gehirns wurzeln und sich mit ihren Leistungen an verschiedene Empfangsstellen wenden. Deshalb ist die Bezeichnung der Architektur als gefrorene Musik nicht einmal eine brauchbare Metapher, sondern eine erquälte Geistreichelei. Mit derselben Berechtigung könnte man die Malerei als gewebte Poesie abstempeln. Auf meines Vaters Verhältnis zu den Anschauungskünsten bin ich eingegangen, weil es sich in allen Stämmen und Zweigen unserer Sippe, und, was hervorgehoben werden muß, auch von mütterlicher Seite her zeigt. Weder unter den Ahnen noch in unserer oder, soweit bisher ersichtlich, den folgenden Generationen oder der Seitenverwandtschaft findet sich ein Maler, Bildhauer, Architekt, wohl aber eine Mehrzahl von Musikern und mancher mit poetischer Begabung.
Ehe ich diese unsystematischen Rückblicke auf meines Vaters Wesen und Wirken abbreche – unter Verzicht auf Erschöpfung meiner Erinnerungen und im Bewußtsein ihres Ungenügens – will ich doch einer Kuriosität gedenken, die zeitweilig den Vater und derivativ auch seine älteren Kinder beschäftigt hat.
Wohl gegen die Mitte der 80er Jahre stieß mein Vater auf die Mnemotechnik, über deren Wichtigkeit zur Unterstützung des Gedächtnisses damals viel geredet und mancherlei geschrieben und deren Leistungsmöglichkeiten auch in Vorstellungen gleichsam artistisch vorgeführt wurden. Ein Unterrichtswerk in Briefform, dessen Verfasser Weber-Rumpe[56] hieß, wurde vom Vater angeschafft und durchgearbeitet. Was ich heute noch von den Grundlehren der neuen Kunstfertigkeit oder, wenn man so will, Wissenschaft weiß, besteht in zwei Behelfen. Einmal nämlich soll man Tatsachen und Zeitfolgen, die man sich einprägen will, durch eine Erzählung miteinander verknüpfen, die sich desto leichter merkt, je auffälliger sie klingt. Zum anderen soll man jede Ziffer einem bestimmten Buchstaben gleichsetzen und, um etwa eine Jahreszahl festzuhalten, sie in einem diese Buchstaben enthaltenden, in einem Merksatz aufzunehmenden Worte auftreten lassen. Ein Beispiel: 0 = s, 5 = g, 9 = r. Das Wort gering ergibt also 59, das Wort segenlos zeigt 05. Unschwer prägt sich der Satz ein: Schillers Leben war im Vergleich zu Goethe geringer und segenloser. Dann hat man Schillers Geburts- und Todesjahr fixiert, (17)59 und (18)05. So künstlich diese Methode zunächst erscheinen mag, so leicht und sicher ist sie nach einiger Übung zu handhaben. Mit ihrer Hilfe habe ich mir für den Geschichts- und Geographieunterricht fast mühelos eine große Anzahl von wichtigen Zahlen eingeprägt. Mein Vater brachte es zu einer erstaunlichen Fertigkeit. Er konnte zum Beispiel die Kreiszahl p bis zur 36. Dezimalstelle hersagen, gestützt auf eine geradezu abgeschmackte aber gerade wegen ihrer seltsamen Worte sich leicht einprägenden Erzählung. Schwieriger gestaltete sich die Handhabung des anderen methodischen Kunstgriffs, der raschen Aufnahme zeitlich aufeinanderfolgender Wahrnehmungen und Geschehnisse. Der Gedächtniskünstler läßt sich etwa von einem Dritten ein ganzes von dem letzteren gut durchgemischtes Kartenspiel vorblättern, so daß er jedes Blatt nur für Sekunden vor Augen hat. Ist das Vorblättern beendet, so sagt der Mnemotechniker die Reihenfolge an, in der die Blätter gelegen haben. Hinter dieser verblüffenden Leistung, mit der mein Vater alle Freunde und Besucher unseres Hauses oft begeisterte, steht auch eine Metastase von Ziffern in Buchstaben, weil jedes Kartenblatt einen gewissen Wert hat und es nun gilt, die unter Einsetzung der mit den entsprechenden Zahlen gebildeten Wörter zu Sätzen zu verknüpfen. Dazu gehört allerdings eine rasch zugreifende Phantasie und einige Übung, und insofern liegt eine nur mechanische Beeinflussung des Merk- und Erinnerungsvermögens nicht vor.
Diese Schilderungen sind der Unterstufe der mnemotechnischen Technik entnommen. Sie leistet weit Erstaunlicheres, so die Durchführung längster und schwierigster Rechenexempel im Kopfe, selbst das Ausziehen von Kubikwurzeln. Aber trotzdem bleibt sie, so emphatisch es auch ihre Gläubigen bestreiten, doch ein künstliches Surrogat der spontanen Funktion des menschlichen Gedächtnisses, und zwar ein nicht ganz ungefährliches. So wie bei einem Menschen, der alle fünf Minuten auf seine Armbanduhr blickt, das lebendige Zeitgefühl nach und nach verkümmern kann, so lähmt er auch sein freiwaltendes Merkvermögen, wenn er seine Wahrnehmungen an die Tricks einer konstruierten Narrenerzählung bindet. Der Weber-Rumpe hat meinen Vater und uns ein paar Jahre amüsiert, aber dann verließ er die Bezirke unseres Gedächtnisses.
Als wir im Frühjahr 1875 von Düsseldorf nach Leipzig zurückkehrten, bezogen wir eine Wohnung in der Dörrienstraße 13, an die ich mich nur undeutlich erinnere. Eingeprägt hat sich mir nur, daß im Souterrain sich die Arbeitssäle der Druckerei Eschebach & Schäfer befanden und daß Hanna und ich von außen mit Staunen dem Gange großer Maschinen zuschauten, die fast ohne menschliche Mitwirkung Papierrollen in sich hineinfraßen und sie zuletzt als gefaltete bedruckte Hefte wieder herausgaben. In unserer Nähe, in der Inselstraße, wohnte die Stiefschwester meines Vaters, Therese[57], die mit dem Fabrikbesitzer Theodor Frederking verheiratet war. Frederking, obwohl jünger als mein angeheirateter Onkel Hermann Rocholl, war doch dessen Onkel; auf der Rochollschen Hochzeit in Leipzig hatte er seine Frau kennen gelernt. Frederkings Ehe ist kinderlos geblieben. Sie haben aber ein kleines Mädchen, Lina, adoptiert das, wie ich erst als ich erwachsen war, erfuhr, ein Kind des unverheirateten Bruders meines Onkels Theodor, namens Adolf Frederking, war. Lina Frederking hat später den Gründer der bekannten Vasenolfabrik Dr. Arthur Köpp geheiratet. Als das geschah, waren meine Beziehungen zu Frederkings längst gänzlich erkaltet. Ich hatte ihnen bei irgendeiner Mißhelligkeit in der Familie die gegenüber meinem Vater eingenommene Haltung dermaßen verargt, daß ich, als ich 1889 die Universität München bezog, mich nicht einmal von ihnen verabschiedete. An diesem Abbruche des Verkehrs habe ich starr festgehalten, obwohl in späteren Jahren das Verhältnis meiner Familie zu Tante Therese sich, wesentlich unter Hannas Einfluß, wieder besserte, so daß man sich gegenseitig besuchte.
Nur Lina Köpp-Frederking habe ich noch zweimal gesprochen, und zwar als wir beide schon alte Leute und unsere Eltern bzw. Adoptiveltern längst verstorben waren; es war ausgangs der zwanziger Jahre. Damals suchte sie mich in meinem Bureau auf, um sich Rat in einer Familienangelegenheit zu holen, die sie nicht mit dem Anwalt ihres Mannes besprechen mochte. Wir vermieden beide, auf die früheren Zeiten auch nur anzuspielen. Aber beim zweiten Besuche brachte sie mir als Geschenk das Miniaturbild meiner Tante Betty Haller[58], der Schwester meiner Großmutter väterlicherseits, das aus dem Nachlasse der Tante Therese stammte und für mich als Pendant zum Bilde der Großmutter sowie als Erweiterungsstück für die kleine Sammlung von Miniaturen der Vorfahren sehr wertvoll war. Das alles erzähle ich hier, damit nicht auffällt, wenn an anderer Stelle auf diesen Blättern kaum noch von Frederkings, die doch die nächsten und später die einzigen Verwandten in Leipzig waren, die Rede sein wird. 1875 war das freilich anders. Zwischen den beiden Familien in der Dörrienstraße und der Inselstraße fand ein sehr reger Verkehr statt, wir Kinder liebten die schöne Tante Therese und den stattlichen, stets hochelegant gekleideten Onkel Theodor und machten von der Erlaubnis zu Besuchen in der Inselstraße häufig Gebrauch, wo wir immer mit Herzlichkeit aufgenommen wurden. Deshalb freuten wir uns auch sehr, als uns einmal im Sommer 1875 – es war der 25. Juli – frühmorgens gesagt wurde, wir seien für den ganzen Tag zu Tante Therese und Onkel Theodor eingeladen und sollten nur gleich hinüber gehen, was wir denn auch taten. Als wir abends zurückgeholt wurden, fanden wir ein inzwischen angekommenes Schwesterchen vor. Wir waren zu harmlos, um mit diesem freudigen Ereignisse die Einladung zu Frederkings in ursächlichen Zusammenhang zu bringen. Aber Tatsache ist, daß, als wir am 24. November 1876 wieder mit einer solchen Einladung beglückt wurden – ganztägig hielten wir uns sonst nie in der Inselstraße auf – Hanna mir gegenüber die Frage aufwarf, ob wir vielleicht wieder ein Schwesterchen bekommen würden. Ihre Ahnung bestätigte sich zum Teil. Es traf nicht ein Schwesterchen sondern ein Brüderchen ein.
Diese beiden Geschwister sind Betty und Carl. Sie haben ebenso wie wir anderen und übrigens auch unsere beiden Eltern und meine Frau nur einen einzigen Vornamen und sind damit ihr ganzes Leben lang ausgekommen. Als der Vater einmal nach der Veranlassung zu dieser Sparsamkeit gefragt wurde, erwiderte er mit tiefem Ernste, er denke an die Steuer. Bei der Neigung der Staatsverwaltung, alle erdenklichen Vorgänge mit Abgaben zu belegen, könne sie vielleicht auch mal auf die Idee verfallen, jeden Mehrvornamen als Objekt einer Luxussteuer zu behandeln, was mit einem einzigen Vornamen wegen seiner gesetzlich festgelegten Notwendigkeit nicht geschehen dürfe. Da die Rechtsentwicklung dieser sarkastisch gefärbten Besorgnis nicht entsprochen hat, sind die Enkel meiner Eltern nicht auf den einzigen Bedarfsvornamen rationiert worden.
Das Auftreten des Pärchens Betty/Carl brachte für Hanna und mich eine Titelwürde, insofern wir von nun an „die Großen“ hießen, während die anderen als „die Kleinen“ bezeichnet wurden. Diese Charakterisierung ist ihnen nach der Geburt von Maria und Konrad verloren gegangen, soweit nicht alle vier unter ihr im Gegensatz zu den Großen zusammengefaßt wurden, was namentlich dann geschah, wenn Anlaß vorlag, uns an die den Großen als solchen obliegenden erhöhten Pflichten zu erinnern. Betty und Carl profitierten von dem Fehlen eines Gruppennamens. Sie rechneten sich bald zu den Großen, bald zu den Kleinen, je nach den Utilitäten der jeweiligen Situation.
Eine sich häufig wiederholende Szene allerdings sah stets die 4 Kleinen als Acteurs, und uns die Großen als Publikum. Als Betty zwischen 5 und 6, Konrad zwischen 1 und 2 Jahren alt war, erschienen frühmorgens Betty, Karl und Maria im Schlafzimmer der Eltern, wohin denn auch Konrad geholt wurde, und krochen alle 4 zum Vater ins Bett, auf jede Seite 2, eins weiter oben, eins mehr nach unten, und kuschelten sich als Kugel oder kloßähnliche Gebilde an den Vater heran. Die 4 hellhäutigen Kinderkörper in weißen Nachtgewändern um den Vater mit seiner tiefbrünetten Gesichtsfärbung gruppiert – es war ein treffender Vergleich, wenn er diese Morgenbelustigung als „das Beefsteak mit Bratkartoffeln“ bezeichnete.
Seltsam kommt es mir vor, daß ich mich auf Kinder, mit denen in der Dörrienstraße Hanna und ich verkehrt hätten, nicht zu besinnen vermag. Vielleicht haben wir in jener Zeit nach der ersten Rückkehr keine Bekanntschaften gemacht. Ich weiß nur noch, daß Hildegard Fricke und Onkel Paul häufig mit uns zusammen waren. Erstere, eine Tochter des Pfarrers an der Peterskirche und späteren Geheimen Kirchenrats Dr. Adolf Fricke, eines der gedankenreichsten und geistvollsten Kanzelredners und zugleich wissenschaftlich bedeutendsten Professoren der Universität, war wenige Jahre älter als Hanna, aber ihr und in meinen Kinderjahren auch mir eine gute Freundin. Von ihr wird im weiteren Fortgang dieser Niederschrift noch zu reden sein. Onkel Paul war der einzige Sohn aus meines Großvaters zweiter Ehe. Fast 29 Jahre jünger als mein Vater und keine 7 Jahre älter als ich, hatte er zwar Anspruch auf den Onkeltitel, machte aber im Verkehr mit Nichte und Neffen davon nicht Gebrauch, sondern gab sich als der ältere Spielgefährte. Umgekehrt hatte er in seinen jüngsten Jahren bei seinen Spielunternehmungen sich seines längst erwachsenen Bruders, meines Vaters, als Gesellen bedient; aus dieser Zeit ist sein einen Spielvorschlag enthaltendes Diktum überliefert: „Martin, wir müssen Schweine sein!“ Als er mit uns spielte, praktizierte er bereits die verfeinerte Spielkultur des Gymnasiasten, was indessen nicht verhinderte, daß er an einem Weihnachtsabend im Zusammenwirken mit mir beim Spielen mit den neuen Zinnsoldaten die auf dem Tisch stehende Petroleumlampe zu Falle und dadurch einen mäßigen Zimmerbrand zur Entstehung brachte. Der Schreck fuhr besonders seiner anwesenden Mutter und seiner Großmutter, Frau Pollack, in die Glieder. Letztere wäre bei Blutsverwandtschaft meine Urgroßmutter gewesen. Aber sie zählte bei uns als Großmutter, so daß wir uns viel darauf einbildeten im Gegensatz zu allen unseren Altersgenossen stets mit 3 Großmüttern ausgerüstet zu sein. Auf Pauls spätere Schicksale und seinen tragischen Ausgang gedenke ich an anderer Stelle einzugehen.
Bei vier Kindern erwiesen sich die Räume in der Dörrienstraße als unzulänglich und da überdies die Wohnung, auf die bei der plötzlichen Rückkehr von Düsseldorf rasch hatte zugegriffen werden müssen, meinen Eltern nie recht zugesagt hatte, so wurde jetzt ein Wechsel vorgenommen. Wir zogen entweder im Oktober 1877 oder im April 1878 in eine dritte Etage des Hauses Zeitzer Straße 24 d, später 49 – diese Nummer führt es noch heute, während die Straße nach dem Durchbruch des Nazismus Adolf-Hitler-Straße genannt worden ist, von welcher Entwürdigung sie wohl bald – ich schreibe am 18. Mai 1945 in Jena – gereinigt werden wird. Die neue Wohnung, bei deren Besichtigung durch meinen Vater ich zugegen gewesen war, hatte auch mein kindliches Gemüt von vorneherein entzückt. Sie hatte große, fast sämtlich parkettierte und nach dem damaligen Geschmack mit üppigem Deckenstuck und zum Teil gemalten Wänden ausgestattete helle Zimmer und einen Balkon, von dem aus man gegen Süden bis nach Connewitz ans Kreuz und nach Westen über den Johanna Park hinwegblicken konnte. Mein Vater, der ein sehr scharfes Auge besaß, hat von unserem Balkon aus seine Uhr nach der Turmuhr der Lutherkirche gestellt, die gegen Ende der achtziger Jahre errichtet wurde. Das Wohnhaus war erst wenige Jahre alt; Erbauer, Eigentümer und Vermieter war ein Baumeister Uhlmann, der auf dieses sein Werk all sein beträchtliches Können und seine ganze Liebe verwendet hatte. Auch viel anspruchsvollere Mieter als wir hätten sich in dieser Sieben-Zimmer-Wohnung wohl fühlen müssen. Deshalb nahm mein Vater, als wir sechs Kinder herangewachsen waren und mehrere eigene Räume brauchten, die auf demselben Stockwerk gelegene zweite Wohnung hinzu, die mit der unsrigen durch eine Tür zusammenhing. In den dreizehn Zimmern, die unsere Familie nunmehr innehatte, hat sich meiner Eltern und ihrer Kinder häusliches Leben während fast meiner ganzen Jugend, wohl bis ins Jahr 1894, abgespielt. Und diese Jugend verlief, wenn ihr auch ernste, selbst sorgenvolle Erlebnisse nicht gänzlich fernblieben, doch so hell, freudig und glücklich, daß ich noch heute nicht an dem Hause vorübergehen kann, ohne dankbaren Auges nach unseren Fenstern zu blicken. Das Äußere des Gebäudes hat im Laufe der Jahrzehnte und infolge der Umwandlung der Straße in eine ausschließliche Hauptverkehrsstrecke an Ansehnlichkeit erheblich eingebüßt; auch der kleine ziervolle Vorgarten vor der Parterrewohnung ist bei deren Umgestaltung zu Läden weggefallen – aber meine Erinnerungen bejahen trotzdem den Vers: „Geblieben ist uns doch der Kern und den laßt fest uns halten!“[59]
In die Zeitzer Straße verlegten zufällig alsbald auch Frederkings und die Großmütter Drucker und Pollack ihre Wohnungen, erstere in ein auf der rechten Seite zwischen der Hohen- und der Sidonienstraße gelegenes, letztere in ein Haus zwischen Emilien- und Albertstraße. Dieses Zusammenrücken brachte eigentlich nur in strengen Wintern eine gewisse Bequemlichkeit. Weihnachten wurde nämlich dreimal mit Bescherung und Familienessen gefeiert: am Heiligen Abend bei meinen Eltern, am ersten Feiertage bei Frederkings, am zweiten bei den Großmüttern. Als Anwohner derselben Straße blieben uns weite Wege, die beim Mangel an Fahrgelegenheiten im Winter und mit der Last von Geschenken im Winter recht unangenehm hätten werden können, erspart. Eine Temperatursteigerung des Familiengefühls hat die räumliche Annäherung nicht bemerken lassen.
Noch vor dem Umzug, nämlich Ostern 1876, war ich in die Schule eingeführt worden, also im Alter von 6 ½ Jahren. Die geltende Vorschrift ließ zum Ostertermin nur die Aufnahme solcher Kinder zu, die bis zum 1. Juli des laufenden Jahres das sechste Lebensjahr vollendet hatten, während mein Geburtstag in den Oktober fiel. Schulbeginn zu Michaelis kannte man nicht. Ich war also für Elementarunterricht eigentlich recht alt. Nach meiner Ansicht, die sich im Laufe der Jahrzehnte gebildet und gefestigt hat, sollte das Normalalter für den Eintritt in die Schule auf 5, allenfalls 5 ½ Jahre festgelegt werden. Der Zeitgewinn schon von einem halben Jahr ist beim Eintritt in die Lehre oder den Übergang auf die Hochschule von größter Wichtigkeit, nicht nur zugunsten des Einzelnen, sondern für das ganze Volk. Voraussetzung ist das Vorhandensein einer genügenden Anzahl vortrefflicher Elementarlehrer, die mit geübtem Blick erkennen und mit Wohlwollen anwenden, was jedem Kinde zuzumuten ist. Es mag sein, daß diese Art Lehrer im letzten Jahrzehnt selten geworden ist, weil der Nationalsozialismus an die Stelle einer ethischen Erziehung und Belehrung der Jugend die Hanswursterei des Pimpfwesens und die Schändlichkeit der vormilitärischen Ausbildung gesetzt hatte und dazu statt wirklicher Lehrer Propagandisten und Korporale brauchte. Wenn diese Spottgeburten verdrängt sind, wird es wieder genug rechte Lehrer geben. Daß ich solche gehabt habe, glaube ich; daß meine Kinder auf solche getroffen sind, weiß ich, wiewohl sich auch Ausnahmen bemerkbar gemacht haben. Mein erster Lehrer in der 8. Klasse der Ersten Höheren Bürgerschule an der Kreuzung der Schiller- und der Universitätsstraße hieß Richter. Da er auch in den Unterklassen der Thomasschule Rechenunterricht erteilte, wurde er zur Unterscheidung von zahlreichen gleichnamigen Kollegen allgemein der Rechen-Richter genannt. An der Thomasschule galt er als streng. In seiner achten Klasse hielt er zwar auf Ordnung und Gehorsam, machte uns aber das Leben nicht schwer. Der Schule waren weitere Ziele gesteckt, als den anderen Bürger- und den Bezirksschulen, aber Richter erreichte sie mit seiner aus etwa 40 Jungen bestehenden Klasse anscheinend mühelos ohne Prügeln und Schimpfen. Derartiges hätte auch der Direktor Reimar[60] nicht geduldet. Dieser Mann, der sich auch als Schulschriftsteller z. B. durch eine ausgezeichnete Bearbeitung deutscher und klassischer Sagen einen Namen gemacht hatte, wurde geradezu als das Muster eines Pädagogen geschätzt und verehrt. Energie, von der er, wo es angezeigt schien, Gebrauch zu machen verstand, paarte sich in ihm mit verstehender Güte, die aus seinen Augen sprach. Ich war schon längst Student, als ich noch gern die Gelegenheit ihm zu begegnen wahrnahm – seine Wohnung befand sich in der Braustraße in unserer nächsten Nachbarschaft – nur um ihn zu grüßen und dafür seinen Dank in einem freundlich herzlichen Blick zu empfangen.
Das erste Schuljahr schloß, wie alle späteren, mit einer Veranstaltung, die, wo sie etwa heute noch besteht, schleunigst abgeschafft werden sollte; sie hieß öffentliches Examen. Die Schüler wurden, angetan nicht etwa mit ihrer gewöhnlichen Kleidung, sondern mit ihren Festtagsanzügen, manche wohl sogar mit ganz neuem, eigens für den große Tag beschafften Habit im zweigliedrigen Zuge unter Vorantritt des Klassenlehrers aus dem die Klassenzimmer enthaltenden Flügel des großen Halbrundgebäudes lautlos nach dem Mittelbau geführt, wo sich der Schulsaal befand. Das geschah mit feierlichstem Ernst. Nachdem sich die Portale des Allerheiligsten geöffnet hatten, wurde, wie tags zuvor geübt worden war, auf einige der in der Mitte stehenden Bankreihen hingeschritten, wo jedes Schülers Platz vorher bestimmt war. Hatte man klopfenden Herzens sich niederlassen dürfen, so bemerkte man sich gegenüber zu einem Tische und dahinter sitzend den Direktor und eine Anzahl anderer würdiger Männer, deren einige man als Lehrer anderer Klassen identifizierte. Aber im übrigen war der ganze Saal von Eltern, Geschwistern, Verwandten und Bekannten der Schüler und nicht nur der jeweils vorgeführten Klasse gehörigen, besetzt, denn es war ja eine öffentliche Prüfung. Nun begann sie. Der Lehrer ließ lesen, führte mit den einzelnen Schülern und mit der ganzen Klasse Kopfrechnen vor, stellte Fragen aus dem Anschauungsunterricht, wie in jenen Jahren das allgemeinste Lehrfach genannt wurde. Die seriöse Lehrerreihe und die anwesende Volksmenge bedrückte wohl alle Examinanden, so daß sie unruhig und ängstlich den Examinator anstarrten und Fragen, die ihnen im Klassenzimmer keine Schwierigkeit bedeutet hätten, gar nicht oder schief beantworteten. Wenn dann gar noch aus dem Publikum bei einer drolligen Antwort ein fröhliches Lachen ertönte oder die Frau Mama eines Schülers sich durch sein Versagen sichtlich bloßgestellt gebärdete, war es mit der Fassung manchen Schülers vorbei. Denn – und das war das Proton Pseudos[61] der ganzen Zeremonie – wir wußten ja nicht, daß diese öffentliche Prüfung ganz überflüssig und bedeutungslos war, daß sie in keiner Weise auf die Beurteilung der Leistungen, die Zensuren oder gar auf die Versetzung Einfluß hatte, sondern eben nur den Charakter einer theatralischen Darbietung mit ungeübten Eleven besaß.
Während der nächsten drei Schuljahre hatten wir als Klassenlehrer einen etwas älteren Mann namens Lahse, dem auf seinen Wunsch gestattet worden war, diese Klasse bis zum Abgang der Mehrzahl der Schüler an die höheren Lehranstalten zu führen. In einigen Fächern unterrichteten uns andere Lehrer, aber die erzieherischen Aufgaben blieben in Lahses Hand. Diesen Lehrer habe ich und haben wohl die meisten Mitschüler aufrichtig geliebt. Ich glaube nicht, daß ihm gegenüber jemals eine Ungezogenheit oder gar Rüpelhaftigkeit begangen worden ist. Alle versuchten, sowohl durch gutes Betragen wie durch ihre Arbeit seine Zufriedenheit sich zu sichern. So kam es, daß, wie bei der Entlassung Ostern 1880 der Direktor Reimar ausdrücklich betonte, die Klasse besonders gute Leistung aufzuweisen hatte. Die Aufnahmeprüfungen für die verschiedenen höheren Schulen waren von allen abgehenden Schülern bestanden worden. Auf Veranlassung mehrerer Eltern wurde mit Genehmigung der Schulbehörde dem verehrten Lehrer in seiner in der Kurprinzstraße gelegenen Wohnung ein Abschieds- und Ehrengeschenk überreicht. Eine redegewandte Mutter hielt eine Ansprache, wir sangen vorher und nachher, der also Geehrte dankte in bewegten Worten und gab jedem einzelnen von uns einige herzliche Sätze mit auf den Weg. Das alles war keine pompöse Angelegenheit, ist mir aber unvergeßlich geblieben wohl als die erste feierliche Glückwunschcour, bei der ich mitgewirkt habe.
Ostern 1880 trat ich in die Sexta B der Thomasschule ein, die wenige Jahre vorher aus dem alten Gebäude am Thomaskirchhof in den geräumigen und sehr praktisch eingerichteten Neubau an der Schreberstraße übergesiedelt war. Die neun Jahre, die ich auf dieser berühmten Pflegstätte der humanistischen Bildung verbracht habe, zeigen der rückschauenden Betrachtung so viele Vorgänge und Zustände, die mein späteres Leben geformt, geregelt und ihm Gehalt verliehen haben, daß ich bei dem Versuche, hier eklektisch über den Verlauf dieser Zeit im Gymnasium und außerhalb zu berichten, bestenfalls ein Mosaik, aber kein Gemälde zustande bringen werde. Lückenhafte Registratur in pragmatischer Geschichtsschreibung zu erheben ist mir nicht gegeben. Ich muß es beim Streuen kleiner Blumen, kleiner Blätter bewenden lassen.
Die Aufnahmeprüfung hatte ich sehr gut bestanden. Das war nicht rühmenswert, sondern fast zwangsläufig Folge des ausgezeichneten Unterrichts bei Richter und Lahse. Daß an die Stelle der idyllischen Gemütlichkeit des Bürgerschulenbetriebs jetzt eine tüchtige Anspannung aller Kräfte treten würde, hätten wir vom ersten Tage an gemerkt, auch wenn uns der Klassenlehrer Curt Cramer nicht darauf hingewiesen hätte. Setzte doch der Lateinunterricht mit der ganzen Eindringlichkeit ein, die auf der Thomasschule traditionell war und unabdingbar blieb, wollte sie ihren altbegründeten Ruf als unübertreffliche humanistische Anstalt nicht aufs Spiel setzen. Rektor war bei meinem Eintritte und bis Ostern 1881 noch August Eckstein[62] einer der berühmtesten Lateiner seiner Zeit, der für einen diese Sprache nicht fließend handhabenden Primaner nur Befremden und Geringschätzung, aber kein Verständnis gehabt hätte. Deshalb mußte schon in der untersten Klasse nicht nur gelehrt und gelernt, sondern – nicht im üblen Sinne – gepaukt und gebüffelt werden. Die von der Schulbehörde festgesetzte Zahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden für Latein, meines Erinnerns im Sexta sechs, reichte für die Ansprüche der Thomana nicht aus; es gab soviel Hausaufgaben, daß ihre Bewältigung für alle Fächer täglich auch bei guten Schülern mehrere Stunden erforderte. In Sexta hat diese häusliche Anstrengung mich nicht weiter angefochten. Aber in späteren Jahren, als ich Sekundaner war, ist es mehrmals vorgekommen, daß mein Vater mir eine Bescheinigung des Inhalts mitgab, ich hätte trotz sechsstündiger Hausarbeit (bei sieben Stunden vorausgegangenem Tagesunterricht!) das Pensum nicht zu bewältigen vermocht. Diese Überbürdungen traten dann ein, wenn der Ordinarius sich nicht mit den übrigen in seinem Cötus unterrichtenden Lehrern über den Umfang der Hausaufgaben zu einigen verstand, so daß ein jeder lustig darauf los fuhrwerkte. Was dabei schon in drei Fremdsprachen (Latein, Griechisch, Französisch) und Mathematik, selbst ohne Geschichte, Religion und Deutsch, heraus kam, lässt sich unschwer vorstellen.
Der erste Schultag gewann auch außerhalb des Unterrichts eine erhebliche Bedeutung. Mich begleitete einer der neuen Mitschüler nach Hause, wo wir mit mütterlicher Erlaubnis in meinem Schülerzimmer dem beliebten Aufschlagspiel oblagen. Dieser Junge hieß Otto Schneider und war der Sohn einer Lehrerwitwe, die am Roßplatz in dem dort noch heute bestehenden Hotel Wartburg wohnte. Otto Schneider kam an den nächsten Tagen bald wieder. Daraus entwickelte sich, daß er acht Jahre lang, bis er als Oberprimaner in das Alumnat aufgenommen wurde, fast täglich am späten Nachmittagen zu uns kam, hier auch seine Schularbeiten erledigte und an den Mahlzeiten teilnahm. Er wuchs mit meinen Geschwistern und mir, insbesondere mit uns vier „Großen“ auf. Daß er bereits Ostern 1881 im Unterricht von mir getrennt, nämlich einer Parallelklasse zugeteilt wurde, blieb ohne Einfluß. Ein besonders freundliches Verhältnis entstand zwischen ihm und meiner Großmutter Constanze Klein, die sich seines leiblichen Wohls mit aller Beflissenheit annahm. Damit er aus Bescheidenheit am Eßtische nicht zu kurz komme, schob sie ihm immer wieder die Schüsseln zu mit der stereotypen, bei uns zum geflügelten Wort erwachsenen und in unserem Familienkreise bei jeder Mahlzeit zwischen uns Geschwistern gewechselten Aufforderung: „Nimm Dir Otto!“ Gesprochen: Nimmsderotto.
Otto Schneider hat nach vorzüglichem Abiturientenexamen Theologie studiert und wurde mit dem Titel Lic. theol. zunächst Geistlicher, ging aber dann ins Schulfach über und ist (wohl 1936) als Gymnasialprofessor in Berlin gestorben. Im Weltkriege war er als Militärpfarrer an der Front gewesen. Bezeichnend für den Wirrwarr, den bedenkenlos die Nazis angerichtet haben, ist die Tatsache, daß 1933 dieser Lic. theol. Professor Otto Schneider, also doch wahrlich eine leicht zu identifizierende Persönlichkeit, aus dem von ihm bewohnten seiner Frau gehörigen Hause in Berlin in Schutzhaft abgeführt und mehrere Wochen dort festgehalten wurde, bis sich zu seinem Glück herausstellte, daß gar nicht er hatte verhaftet werden sollen, sondern ein andrer Mann namens Schneider, der keinen Titel hatte, auch gar kein Akademiker war und in einer anderen Straße wohnte!
Das Freundschaftsverhältnis zwischen Otto Schneider, meinen Geschwistern und mir hat bis zu seinem Tode bestanden, wenn man sich auch infolge der räumlichen Trennung und starker Inanspruchnahme später nur noch selten sah und sich in der Regel bloß zu Geburtstagen und anderen Feier- und Gedenktagen schrieb. Seine Frau habe ich meines Erinnerns nur einmal gesehen, als er sie bald nach seiner Verheiratung uns in Leipzig vorstellte; mit seinem Sohne bin ich nie in Verbindung gekommen. So blühen und verwelken die Beziehungen von Mensch zu Mensch.
Am 2. September 1880 nahm ich zum ersten Male an einer Sedanfeier in der Thomasschule teil. Ich kann nicht selbst beurteilen, ob, wie mir oft erzählt wurde, es richtig ist, daß in keiner deutschen Stadt die Erinnerung an den Tag von Sedan alljährlich zu einem so die ganze Bevölkerung erfassenden Fest ausgestaltet worden ist wie in Leipzig. Im Mittelpunkte der Feiern, die wohl in jedem grösseren Gesellschaftssaal mit Festreden und Konzerten stattfanden, stand ein richtiges Volksfest mit Männerchören, Militärmusik, Volksbelustigungen aller Art, Brillantfeuerwerk und ungeheurem Alkoholkonsum auf den weiten Wiesen am Neuen Schützenhause[63]. Ich habe mit meinen Freunden in den höheren Gymnasialjahren fast regelmässig daran teilgenommen. Wie ernst diese Feste angesehen wurden, erweist der Umstand, daß sogar mein Vater und sein Freund Leo Grill sich einmal, und zwar gerade 1880, dazu einfanden, obschon sie es sonst mit dem odi profanum vulgus[64] hielten. In jenem Jahre wurde der zehnte Gedenktag des kriegsentscheidenden Sieges begangen, Grund genug, um auch den Schulaktus besonders großartig aufzuziehen. Dazu gehörte auch, daß aus jeder der Neunklassenstufen ein Schüler ein patriotisches Gedicht zu deklamieren hatte. Wer dazu auszuerlesen sei, bestimmte ein Lehrerausschuß nach Erprobung der von den Klassenlehrern Vorgeschlagen. Aus den ungefähr 100 Sextanern der drei Cöten wurde ich gewählt. Ich war eingebildet genug, das für ganz richtig zu halten, weil nach meiner Ansicht die anderen Vortragskandidaten bei weitem nicht so ausdrucksvoll sprachen wie ich. Vermutlich wurde ich aber deshalb herausgestellt, weil ich fast der allerkleinste Sextaner war und weil mein von Dialektanklängen freies Deutsch gefiel, auch Anzeichen irgendwelchen Lampenfiebers nicht zu bemerken waren. So deklamierte ich denn am Sedantage vor der überfüllten Aula das kräftige Scheffelsche Poem
Als die Römer frech geworden
zogen sie nach Deutschlands Norden.[65]
Beim Auditorium erntete ich einen stürmischen Heiterkeitserfolg, vom alten Eckstein ein freundliches Schulterklopfen nebst den Worten: „Das war sehr gut, Drucker“.
Im Unterrichtsplan wurde ein ansehnlicher Teil der Wochenstunden durch Lehrgegenstände verbraucht, die mit geisteswissenschaftlicher Zielsetzung der Gymnasien nichts zu tun haben: Singen, Turnen, Zeichnen, Schreiben. Sollen diese Fächer in den Lehrplan einbezogen werden, so tut das Gymnasium ihnen wahrlich Ehre genug an, wenn es die Beteiligung an ihnen fakultativ gestaltet oder nur beim Vorliegen eines Mindestmaßes von Befähigung zuläßt. Wenn man einen Schüler, der Mühe hat in den Gymnasialfächern sich mit Anstand zu behaupten, in Sing- und Zeichenstunden hineinzwingt, obwohl er völlig unmusikalisch ist und keine Singstimme besitzt, auch nicht die einfachste Figur zu Papier bringen vermag, so nenne ich das einen törichten Mißbrauch der Erziehungsgewalt. Schreiben ist freilich eine Hilfsfertigkeit. Wenn aber ein Gymnasiast nach vierjährigem Besuch der Elementarschule noch nicht gut, d. h. deutlich und sauber, zu schreiben weiß, so mag ihm die Teilnahme an weiteren Schreibkursen geboten werden. Diejenigen Gymnasiasten, die eine brauchbare Handschrift mitgebracht haben, soll man mit der Kalligraphie nicht belästigen. Turnstunden beeinträchtigen den wissenschaftlichen Unterricht nur dann nicht, wenn sie den Arbeitstag beschließen; anderenfalls macht sich die körperliche Beanspruchung in Ermüdungserscheinungen bemerkbar. Leibesübungen dürfen niemals obligatorisch auf dem Gymnasium vorgeschrieben werden. Man soll einem Jungen, der zum Geigenspiel gelenkige Finger braucht, nicht durch Tauziehen oder Exerzitien am Reck die Hände mit Hornhaut verschimpfieren. Was Sport oder dem Sport verwandt ist, mag ohne Zwang neben der Schule betrieben werden. Das muß auch von den freien Künsten gelten. Selbst Musikunterricht darf nicht allgemeines Lehrfach sein. Ich habe zwar an den Singstunden gern teilgenommen, weil ich eine gute Stimme hatte und vom Elternhause genug musikalische Kenntnisse mitbrachte. Aber viele meiner Kommilitonen waren und blieben völlige Versager, langweilten sich oder trieben Unfug und raisonnierten über die verlorene Zeit. Geradezu lächerlich ist mir immer der Zeichenunterricht erschienen, der mehrere Jahre obligatorisches Fach war. Da sollte auf einem großen Bogen, der auf einem gewaltigen Zeichenbrett mit Reiszwecken befestigt war, ein Quadrat mit einer Seitenlänge von etwa 50 Zentimetern aus freier Hand gezeichnet werden! Ob das irgendjemand einwandfrei fertig bringt, weiß ich nicht; unter meinen Mitschülern bin ich keinem solchen Zauberer begegnet. Wer das Riesenquadrat abliefern wollte, um dann zur nächsten, ebenso unmöglichen Aufgabe, dem freihändigen Kreis, überzugehen, legte die Ecken mit einem Winkelmaß an und zog die Linien mit einem Lineal, worauf dann solange mit Wischer und Gummi an den Niederschlägen dieser streng verbotenen Hilfsmittel herumgedoktert wurde, bis sie nicht mehr entlarvt werden, sondern als freie Handarbeit erscheinen konnten. Ich verschmähte solche erschlichenen Lorbeeren und habe daher in den zwei Jahren obligatorischen Zeichenunterrichts niemals auch nur diese erste Zeichnung abgeliefert. Die in jeder Halbjahrzensur auftretende 5 ließ mich kalt, ebenso meine Eltern. Der Zufall hatte es gefügt, daß ich im Zeichensaale zwischen zwei Mitschülern saß, von denen der eine alsbald das Gymnasium verließ und, wie ich nach Jahren erfuhr, ein namhafter Kunstmaler geworden ist, während der andre, der meine Unfähigkeit teilte, mich mit lustigen Erzählungen recht gut unterhielt. Ich gebe zu, daß ein geschickter Lehrer vielleicht doch etwas Brauchbares aus dem Zeichenunterricht hätte machen können, trotz des vorgeschriebenen Riesenquadrats. Aber der, dem unsre künstlerische Ausbildung anvertraut war, hatte wohl kein Interesse daran, alljährlich ein paar Dutzend ungeschickte Jungen zu Griffelkünstlern heranzubilden, während sie doch Pastoren oder Ärzte werden wollten und sollten. Er blieb auf dem Katheter sitzen, wo er sich irgendwie beschäftigte, denn viel zu reden hatte er ja nicht bei diesem Unterricht. Tätig wurde er aber in der Schreibstunde. Da ging er nicht nur von Bank zu Bank, um in die Hefte zu blicken, sondern schrieb auch die Aufgaben an die Wandtafel mit einem berückend schönen, das heißt gänzlich charakterlosen Handschrift. Weil er wohl das Gefühl hatte, daß er als Seminarist von uns Gymnasiasten nicht für voll angesehen wurde, verfiel er auf die unglückliche Idee, lateinische Worte und Sätze vorzuschreiben. So lasen wir dann beispielsweise ein bekanntes Sprichwort in dieser Fassung:
Errare humanorum est.[66]
Als sich darüber einige Quintaner lustig machten, setzte es Strafarbeiten. Solche zu provozieren war bei uns zum Klassenspaß ausgebildet worden. Sobald der Lehrer irgendetwas beanstandete, verfügte er eine Strafarbeit mit den lakonischen Worten: „zwei Seiten“. Sie bedeuteten, daß der Verurteilte in der nächsten Schreibstunde zwei mit der letzten Aufgabe vollgeschriebene Seiten abliefern müsse. Auf diese Anweisung remonstrierte man mit den Worten: „Aber, Herr Fabian …“ Weiter kam man nicht, denn aus des Meisters Munde erklang sofort die Verdoppelung: „vier Seiten“. Der Schüler tat, als wolle er sich weiter rechtfertigen: „ich hatte nur …“ Darüber quittierte der Lehrer mit einer erneuten Verdoppelung: „acht Seiten“. Weil er sich dabei Notizen machte, um in der nächsten Stunde die Befolgung seiner Strafverfügungen kontrollieren zu können, stand wohl mancher vom höheren Reizen, wie man beim Kartenspiel sagt, ab. Der eine oder andere trieb aber die Herausforderung weiter. Den Gipfel der Frechheit habe ich in der letzten Stunde vor den großen Ferien in der Quinta erklommen, indem ich die arithmetische Progression auf 64 Seiten Strafarbeit hinauftrieb. Angefertigt oder gar abgeliefert habe ich sie niemals. Erstens rechnete ich damit, daß der Lehrer bei Wiederbeginn des Unterrichts nicht danach fragen würde, zweitens verließ ich mich darauf, daß er keinesfalls weitere Maßnahmen gegen mich beim Rektor ergreifen könne, der sicherlich einen solchen Unfug mit Strafarbeiten gemißbilligt hätte.
Einige Jahre später, als der obligatorische Schreibunterricht längst hinter mir lag, nahm mein Vater mich auf eine Fahrt an die Elbe mit, wo in dem Orte Diesbar-Seußlitz eine Familiensommerwohnung angeboten war, deren Beschreibung meinem Vater gefallen hatte. Wir fanden ein sehr hübsch gelegenes gut eingerichtetes Privathaus vor; auch die Bedingungen waren befriedigend, so daß mein Vater die Wohnung für mehrere Wochen für die Mutter und uns sechs Geschwister mietete; er selbst konnte immer nur übers Wochenende dort sein. Der Besitzer des Hauses und Vermieter war mein ehemaliger Schreib- und Zeichenlehrer Fabian! Er trug mir nichts nach, fragte auch nicht einmal nach den 64 Seiten. Der Aufenthalt verlief zur allseitigen Zufriedenheit.
Bei meinem Verhalten gegenüber diesem Lehrer wird es nicht weiter auffallen, daß ich schon in der Sexta vorm Ordinarius mit einer Stunde Carzer bestraft worden bin. Was ich verbrochen hatte oder haben sollte, weiß ich nicht mehr. Um einen Ulk, wie gegenüber dem Schreib-Lehrer, hat es sich sicherlich nicht gehandelt; derartiges kam bei der Persönlichkeit des Ordinarius mir nicht in den Sinn. Wahrscheinlich hatte er mir irgendeinen Vorhalt gemacht oder eine Rüge erteilt und ich hatte darauf widersprochen, weil ich mich im Rechte fühlte. So habe ich mich während der ganzen Schulzeit verhalten, niemals einen meines Erachtens ungerechten Vorwurf stillschweigend hingenommen, sondern mich stets zur Wehr gesetzt. In den späteren Jahren wurde ich aus solchem Anlasse nicht mit Carzer bestraft, sondern allenfalls in der Zensur für Betragen gedrückt. Aber bei dem Sextaner hat der Lehrer Cramer, bei dem ich übrigens sonst einen guten Stand hatte, vermutlich nach dem Satze principii obsta[67] ein Exempel statuieren zu sollen geglaubt. Genützt hat es nichts. Ich war viel zu unnachgiebig. Die Verbüßung der Strafe hatte auch nichts Abschreckendes an sich. Carzer war eine custodia honestissima[68]. Ich wurde an einem Sonnabend nachmittag vom Schulhausmeister auf die Dauer einer Stunde in einem kleinen, sauberen, hellen, warmen und mit Tisch und Stuhl eingerichteten Raum im Untergeschoß des Schulgebäudes eingeschlossen, von wo ich freien Blick über den Hof hatte, auf dem einige Alumnen sich mit einem Bewegungsspiel die Zeit vertrieben.
Meine Unnachgiebigkeit gegenüber Vorhalten, wenn ich sie für unberechtigt hielt, hat mich durch mein ganzes Leben begleitet. Diese Haltung hat mir manchmal Schwierigkeiten, auch Nachteile bereitet, aber zu bereuen vermag ich sie auch jetzt im letzten Greisenalter nicht. Denn worauf immer sich eine Überzeugung bezieht, so ist sie doch eben Überzeugung und darf deshalb nicht preisgegeben werden, wenn der Mensch sich nicht selbst verleugnen, sich untreu werden, sich selbst belügen und betrügen will. Nach meinem sechzigsten Geburtstag erschien in der Berliner Anwaltszeitung aus der Feder Pinners ein Artikel, der die von mir als Präsidenten des Deutschen Anwaltvereins verfolgte Standes-Politik kritisierte und mir entgegenhielt, ich kennte in Überzeugungsfragen keine Kompromisse. Das sollte ein ernster Tadel sein; ich aber nahm es mit Stolz auf.
Die Überzeugungstreue, die sooft als Hartnäckigkeit gemißbilligt wird, hat einen illegitimen Halbbruder, den Trotz. Gegen ihn schreitet man bei Kindern mit allerlei Strafen ein. Das halte ich für ein recht fragwürdiges Experiment. Nur willensschwache Kinder beugen sich der Strafe, ehe sie unerträglich wird. Bereitet sie aber wirkliche Schmerzen, so ist ihre Anwendung zwecks Erzielung von Nachgiebigkeit kaum minder verwerflich als die Erpressung von Geständnissen durch Folter. Gegen Trotz, Widerspenstigkeit, Bockigkeit bei Kindern soll eingeschritten werden, auch maßvoll mit Strafen, aber nicht mit Leibesstrafen. Es muss in dem Kinde die Einsicht in sein Unrecht erweckt werden. Das ist mühsam und oft langwierig, aber wirksam. Den Einwand, daß kleine Kinder noch nicht reif für das Verständnis ihrer Unarten seien, lasse ich nicht gelten. Fehlt dem Kinde die Einsicht, so muß man warten, bis sie gewonnen ist. Ob diese Ausführungen Allgemeingültigkeit besitzen, weiß ich nicht. Meinen Erfahrungen entsprechen sie. Ich habe fünf Geschwister und vier Kinder neben mir aufwachsen sehen und beobachte jetzt zwei Enkelsöhne, ganz zu geschweigen von den Wahrnehmungen in anderen Familien. Vor allem aber hat mein eigenes Beispiel mich über die Wirkungslosigkeit von Strafen und die Nützlichkeit der Einsicht bei der Überwindung übler Gemütsäußerungen belehrt. Das ist der Grund, aus dem ich in dieser Niederschrift auf diese Erziehungsprobleme kurz eingehe. In meinen Kinderjahren zeigte sich bei mir eine weit schlimmere Eigenschaft als Trotz, der ja passiver Widerstand ist, nämlich eine starke Neigung zu leidenschaftlichem Aufbrausen, oft gesteigert bis zum Jähzorn. In blinder Wut ging ich gegen Menschen und Dinge vor, schrie und tobte. Als Strafe für mich und zum Schutz der anderen wurde ich bei solchen Anfällen in der Schrankstube eingesperrt, einem Raum, dessen Bestimmung im Namen ausgedrückt wird. Hatte ich mich beruhigt, so fühlte ich mich todunglücklich. In meinem zwölften Lebensjahre hatte sich wiedereinmal eine besonders schlimme Szene ereignet. Mein Vater hatte schließlich in sichtlicher Erregung das Haus verlassen, um sein Bureau aufzusuchen, meine Mutter sah ich, als ich wieder zur Vernunft kam, in tiefer Niedergeschlagenheit bei einer Handarbeit. Ich näherte mich ihr langsam, angstvoll und beschämt, und bat sie, doch wieder gut zu sein. Da zog sie mich zu sich heran und begann, in ebenso sanften wie eindringlichen Worten mir auseinanderzusetzen, daß es doch so mit mir nicht weitergehen könne. Der liebe Vater – dieses Eigenschaftswort wurde, wenn die Mutter von ihm mit uns Kindern sprach, niemals weggelassen – sei ganz unglücklich und sie selbst auch. Sie hätten daran gedacht, mich in eine auswärtige Erziehungsanstalt zu geben, aber darüber müßten sie sich doch als Eltern schämen und derartiges wolle ich ihnen doch nicht antun. Ich sei doch sonst ein guter Junge, der seinen Eltern viel Freude mache; wir alle hätten einander doch so lieb, ich müsse doch für die Geschwister ein gutes Beispiel sein. Sie sagte noch mancherlei; ich war zerknirscht und wagte nur zu äußern, daß mein Verhalten mir selbst ganz schrecklich sei, aber ich könne nichts dafür; wenn die Erregung über mich komme, sei es schon zu spät. Da aber erwiderte meine Mutter gütig und liebevoll, sie habe sich überlegt, ob sie mir helfen könne, und wolle es versuchen, wenn ich ihr fest versprechen könne, darauf einzugehen. Die Aussicht nahm mir einen Stein vom Herzen, bereitwillig gab ich das Versprechen. Nun sagte die Mutter, der Versuch sei ganz einfach. Sie werde stets, wenn sie bemerke, daß der Zorn in mir aufsteigen wolle, mich fest ansehen und mir zurufen: „Martin, Martin, denk an Dein Versprechen!“ Das könne wohl helfen, aber nur dann, wenn ich immer daran dächte, daß ein braver Mensch sein Wort hält. Meine reuevolle weiche Stimmung wich unter den zarten bezwingenden Worten der geliebten Mutter der frohen Hoffnung, daß noch alles gut werden könne. In dieser Stunde habe ich mir gelobt, dem treugemeinten Vorschlag der Mutter zu gehorchen, soweit es in meinen Kräften stehe. Fester und fester prägte sich mir die Mahnung ein: „Du hast Dein Wort gegeben, das mußt Du und wirst Du halten!“ Von dieser Bindung an das Ehrgefühl her habe ich an mir gearbeitet. Leicht wurde mir anfänglich der neue Weg nicht, denn der Jähzorn ist eine vom Willen unabhängige Gemütsabirrung. Die Mutter hat manchmal die Warnung aussprechen müssen. Dann stutzte ich, und sie blieb nie wirkungslos. Mit der Zeit vollzog sich in mir eine seltsame Wandlung. Ich hörte im kritischen Augenblick die Ermahnung, ehe die Mutter sie aussprach; später sogar, wenn die Mutter nicht zugegen war. So bin ich nach und nach durch verzeihende und verstehende Mutterliebe von der Geißel des Jähzorns befreit worden.
Meine Mutter ist es auch gewesen, die in meiner ersten Gymnasialzeit meine Schwester Hanna und mich über unsere Abstammung aufgeklärt hat. Am Mittagstisch kam das Gespräch, vermutlich infolge einer Erzählung Hannas aus der Religionsstunde, auf den Unterschied der Konfessionen. Unter unseren Mitschülern gab es wohl ein paar Juden und, ganz vereinzelt, auch mal einen Katholiken. Tief war ich in die Unterschiede der Bekenntnisse nicht eingedrungen. Aber ich schwang mich zu der religionskritischen Bemerkung auf: „Richtig sind doch nur wir Evangelischen. Die Katholiken haben zuviel Götter, die Juden zu wenig.“ Am Nachmittage rief die Mutter Hanna und mich zu sich und kam auf die von mir ausgekramte Weisheit zu sprechen. Es sei Unrecht, daß ich mich wegwerfend über Andersgläubige geäußert hätte. Davon verstünde ich doch noch nichts. Man müsse den Glauben anderer auch achten. Unser Vater sei selbst als Jude geboren worden und erst später zur christlichen Religion übergetreten. Aber seine Eltern seien doch Juden geblieben und es könne ihn kränken, wenn sein Sohn deren Glauben als minderwertig ansehe. So ungefähr lautete die Belehrung. Sie ließ uns zum ersten Male ahnen, was Toleranz ist. Von außen war dieser Begriff noch nicht an uns herangetreten, denn in jenen Jahren machte in Leipzig die Intoleranz sich noch nicht bemerkbar. Daß mein Vater von Juden abstamme, erhöhte in eigenartiger Weise meine Selbstachtung. Die Erzväter, die im Schullehrbuch für Biblische Geschichte abgebildet waren und dort im persönlichen Verkehr mit Gottvater gezeigt wurden, traten in meine Vorstellung als meine eigenen Urahnen, an denen, wie mir schien, meine Mitschüler keinen Anteil hatten. Diese Auffassung behielt ich zwar für mich, aber sie nährte meinen Stolz.
Im Gymnasium wurde ich Ostern 1881 nach Quinta versetzt. Die Versetzungen und die Platzanordnung in den neuen Klassen, Location genannt, wurden in einem allgemeinen Schulaktus bekanntgegeben. In diesem Jahre war er mit erhöhter Feierlichkeit ausgestattet, denn das Rektorat ging vom alten Eckstein auf den jugendlichen Emil Jungmann über und gleichzeitig wurde der soeben von einer Studienreise zurückgekehrte Stürenburg Konrektor. Erst in späteren Jahrzehnten habe ich vollständig zu verstehen vermocht, welche gewaltige Wirkung dieser Rektorwechsel für die Thomasschule und, da die Mehrzahl ihrer Abiturienten in Leipzig verblieben sein wird, für die gebildeten Kreise meiner Vaterstadt gehabt hat. Eine Persönlichkeit von der Vornehmheit, Kultur, Gelehrsamkeit und Weltweisheit Jungmanns wird kaum jemals anderswo jahrzehntelang die Leitung eines großstädtischen Gymnasiums in der Hand gehabt haben. Das lag bei jenem Aktus noch in undurchsichtiger Zukunft und außerhalb meiner Quintanereinsicht. Aber die Feier nahm mich gefangen. Schon das Gesangsprogramm der Alumnen war noch gewichtiger als sonst. Nach dem kurzen Jahresbericht Ecksteins, mit dem er zugleich sich von der Schule verabschiedete, hielt der Primus Omnium – der hieß Beer[69] und ist ein hochangesehener Lehrer des Staats- und Völkerrechts geworden – eine Dank- und Abschiedsrede an Eckstein in lateinischer Sprache. Mit meinem Sextanerwissen verstand ich nur manches, aber ich nahm an, daß ich in einigen Jahren ebenso gelehrt sein würde, und mein Stolz schmückte sich mit diesen Vorschußlorbeeren. Eckstein antwortete unverzüglich. Ich höre noch den Beginn: Primane doctissime mi fili![70] Darauf folgten mehrere Reden teils zur Verabschiedung und Verherrlichung Ecksteins, teils zur Einführung und Begrüßung Jungmanns, der auch selbst kurz sprach. Ich sah an diesem Tage zum ersten Male den Patron der Schule, den Vizebürgermeister Dr. Tröndlin, einem früheren Anwalt. Damals bestand in Leipzig die sehr verständige Einrichtung, daß die städtische Schulbehörde je ein Mitglied der Stadtverwaltung in ein engeres Verhältnis zu jeder höheren Lehranstalt treten ließ. Das war der Patron, der sich verpflichtet fühlte, für die ihm anvertraute Schule ganz besonders zu sorgen. Dr. Tröndlin stand wohl auch hinter der Ehrung, die dem scheidenden Eckstein durch Aufstellung seiner Marmorbüste an diesem denkwürdigen Tage dargebracht wurde. Ich verließ die Aula in dem Bewußtsein, einer überaus vornehmen Gemeinschaft anzugehören. Der Thomanerstolz, der sich über andere Schulen erhaben fühlte, hatte von mir Besitz ergriffen. Aber im übrigen eröffnete sich beim Übergang in die Quinta eine düstere Perspektive. Der Ordinarius Dr. Albrecht, der, weil er in den Unter- und Mittelklassen den neusprachlichen Unterricht erteilte, als „der Franzose“ bezeichnet wurde, war als ein ungemein strenger und finsterer Mann verschrien und gefürchtet. Seine äußere Erscheinung schon schüchterte uns ein. Er trug sich mit gewählter Eleganz; der stets geschlossene schwarze Gehrock über modern gestreifter Hose und spiegelblankem Schuhwerk distanzierte ihn in gewisser Weise von Kollegen und Schülern, überhaupt vom ganzen Unterrichtswesen. Auf der schlanken Figur saß ein mit ersichtlich gepflegtem, unterm Kinn geteiltem blonden Vollbart gezierter sorgfältigst frisierter Kopf. Niemand hätte hinter dieser diplomatischen Aufmachung einen Pädagogen vermutet. Was aber die Physiognomie und damit den ganzen Mann charakterisierte und wodurch er so abschreckend wirkte, war der aus den Augen so oft hervorbrechende stechende Blick, der uns Kindern durch und durch ging. Solchen Ausdruck habe ich nie wieder bei einem Menschen, sondern nur im Zoologischen Garten bei gereizten Großkatzen bemerkt. Wenn Albrecht diesen grausamen Blick auf die Klasse oder gar einen einzelnen Schüler heftete, erzitterte alles im Vorgefühl des Zornausbruches, der in der Regel folgte. Mit Schlägen wurde zwar niemand mißhandelt, aber die Worte, die wir anhören mußten, strotzten dermaßen von Wut, Gehässigkeit und Verachtung, daß sie Schlimmeres als Prügel befürchten ließen. Es ist mir, namentlich seitdem ich mich mit Psychologie und Psychiatrie gründlicher befaßt habe, unbegreiflich, daß seiner Zeit die Krankheit des Lehrers nicht früher erkannt worden ist. In einer Lehrstunde, die er uns als Tertianern gab, brach sie aus: bald tobte er, bald fürchtete er sich vor einem kleinen, völlig harmlosen Schüler, der ihm als ein springendes Eichhörnchen erschien, kurzum, er redete so irres und wirres Zeug, daß einige von uns Hilfe im Lehrerzimmer suchten. Seit diesem Tage haben wir Albrecht nie wiedergesehen; er war wegen Verfolgungswahnsinns in eine geschlossene Anstalt überführt worden.
Aber als mein Ordinarius in Quinta und Quarta hat er die Befürchtungen, mit denen ich unter seiner Erziehungsgewalt trat, nicht wahr gemacht. Es kamen zwar ein paar maniakalische Anfälle, von uns natürlich als solche nicht erkannt, vor und setzten uns in Angst und Schrecken. Der Lehrer hielt auch mit Strenge darauf, daß die hochgeschraubten Anforderungen, die er an die Klasse stellte, von jedem nach Maßgabe seiner Fähigkeiten erfüllt wurden. Aber der Unterricht schien mir ganz vorzüglich zu sein. Albrecht gab sich alle Mühe, uns eine gute, von sächsischen Anklängen nicht verdorbene Aussprache des Französischen beizubringen, das er infolge längeren Aufenthalts in Frankreich pariserisch beherrschte. Sein Lateinunterricht führte uns nicht nur in den Wortschatz und die grammatikalischen Regeln ein, sondern vor allem in den Geist der Sprache und in dessen Abweichungen von der deutschen. Er trieb wirklich vergleichende Sprachwissenschaft mit uns Quintanern, soweit er darin glaubte gehen zu können. Mir ist ein gutes Beispiel in Erinnerung geblieben. Im Übungsbuch fand sich der Satz: Aqua frigida est liberis noxia. Albrecht wies uns darauf hin, daß es eine Sünde gegen den Geist der deutschen Sprache bedeuten würde, wenn man in ihr bei Wiedergabe des gleichen Gedankens das Prädikatsadjektiv deklinieren wollte. Der Lateiner muß denken und sprechen: Die kalte aqua ist den Kindern eine schädliche. Die deutsche Sprache empfindet und sagt nur: Kaltes Wasser ist den Kindern schädlich. Diese Belehrung hat sich mir tief eingeprägt. Sie tritt mir immer wieder vor Augen, wenn ich nicht nur im Zeitungsjargon, sondern auch bei im allgemeinen ein sauberes Deutsch schreibenden Autoren – es sind anerkannte Dichter darunter – jenem Fehler begegne: „Die Wirkung war eine vorzügliche“, „der Lärm war ein gewaltiger.“ Ich flüstere dann stets: „O weh, Meister, Dein Deutsch ist ein schlechtes. Der Latinismus ist ein falsch angewandter.“
Die Quarta, in die ich Ostern 1882 versetzt wurde, galt als eine besonders anstrengende Unterrichtsstufe, weil in ihr als dritte Fremdsprache das Griechische einsetzte. Die Zahl der Schüler, die in Quarta das Klassenziel nicht erreichten, war größer als in den vorausgegangen und den nächstfolgenden Jahren. Diese sich alljährlich wiederholende Tatsache bewog einen der Lehrer, dessen Namen Hecker deshalb der Nachwelt überliefert sein möge, zu dem programmatischen Ausspruche, wenn es nach ihm ginge, so müßte bereits in Sexta obligatorisch mit Hebräisch begonnen werden; diese Sprache sei so schwer, daß der Unterricht in ihr recht bald die Schüler, die für das Gymnasium geeignet seien, von der Masse derer scheiden würde, die nicht dahin gehörten! Ich schätze mich glücklich, daß dieser grausame Anschlag auf die Gymnasialjugend nicht zur Tat herangereift ist. Denn ich habe in Sekunda und Prima durch Teilnahme am fakultativen Unterricht mich in einen fast aussichtslosen Kampf mit hebräischer Grammatik und Syntax eingelassen, hätte also nach Heckers Ideen schon als Sextaner vom Gymnasium entfernt werden müssen. Dennoch will es mir scheinen, als seien die Lücken im Hebräisch durch das auf der Thomana in anderen Fächern erworbene Wissen und Können in einem für billige Ansprüche zulänglichen Maße ausgeglichen und mir ist nicht grundlos die Maturitas zuerkannt worden. Die beiden Tertien, in denen das Normalalter der Schüler 13 bis 16 Jahre beträgt, stellen den Gymnasiallehrer vor recht schwierige Aufgaben, an die er mit feinem Takt herangehen muß. Mein Cötus hätte keinen vorzüglicheren Ordinarius finden können. Es war Otto Crusius, der nach kurzer Gymnasialtätigkeit zur akademischen Laufbahn überging und in späteren Jahren durch die Ernennung zum Präsidenten der Bayrischen Akademie der Wissenschaften eine wohlverdiente Anerkennung seines Wertes als Gelehrter empfing. Daß es um seine Gelehrsamkeit etwas ganz besonderes sei, sagte uns ein Raunen, das ihn schon beim Eintritt in die Klasse umgab. Aber dieser Nimbus hätte bei einer Schar übermütiger Tertianer nicht viel ausgerichtet, wenn sein Träger ihnen nicht mit einer jede Aufsässigkeit entwaffnenden Freundlichkeit und mit vertrauenerweckender Offenheit begegnet wäre. Weil er sich unsere Zuneigung und Verehrung im Sturme erworben hatte, lauschten wir mit voller Hingabe seinem Unterrichte, der niemals durch Trockenheit langweilte und ermüdete. Crusius war einer der Philologen, für die das klassische Altertum nicht bloß Gegenstand des Studiums und der Ansammlung von Wissen, sondern beglückendes Erlebnis bedeutet. Daran uns teilnehmen zu lassen, sah er als seine Mission an. In seinen Schülern sah er nicht Objekte der Disziplinargewalt, sondern heranreifende junge Männer, die sich ihrer Menschenwürde bewußt bleiben und demgemäß behandelt werden sollten, so daß an ihr Denken und Handeln der Maßstab strengsten Pflicht- und Ehrgefühls gelegt werden könne und müsse. Wie das zu verstehen war, erwies ein etwas verwickelter Hergang, der, wie meinen Kommilitonen, auch mir unvergeßlich geblieben sein würde selbst dann, wenn ich nicht seinen Drehpunkt gebildet hätte. Die Geschichte ist etwas lang, liefert aber eine kräftige Essenz. Wir hatten in Obertertia und wohl schon vorher einen Turnlehrer Donner, der sich so recht als Kraftmensch von der Sorte Muskelpietsch gebärdete. Ich mochte ihn nicht leiden, noch weniger aber er mich. Die Turnstunde, die für mich stets ein Gegenstand des Ärgernisses gewesen ist, sah immer wieder Zusammenstöße zwischen ihm und mir. Ich war ein miserabler Turner nach Anlage und Vermögen, aber anstatt mich dessen zu schämen oder meiner körperlichen Unzulänglichkeit durch Fleiß und Anstrengung aufzuhelfen, zeigte ich weder solchen Ehrgeiz noch bei Mißlingen auch verhältnismäßig leichter Geräteübungen irgendwelche Beschämung. Wahrscheinlich mißdeutete Donner mein Benehmen als Geringschätzung nicht seines Lehrfaches, sondern seiner Person. Jedenfalls erging er sich nicht selten in Drohungen, er werde mir’s schon einmal anstreichen, daß ich ewig daran denken solle. Sein Unstern wollte, daß er uns in Obertertia Geographieunterricht zu erteilen hatte. Weil er sich auch dabei höchst unbeliebt gemacht hatte, wurde auf Betreiben einiger Rädelsführer, zu denen ich nicht gehörte, beschlossen, ihm einen Schabernack zu spielen. Er hatte die Gewohnheit, den zur Stunde mitgebrachten schweren Atlas nicht ruhig auf dem Katheder abzulegen, sondern, weil er eben ein Kraftmensch war, darauf niederzuwerfen, wie wir sagten: hinzuhauen. Das verstellbare Pult in der Mitte des Katheders mußte wegen Donners Größe hochgestützt sein. Darauf bauten die Verschwörer ihren Ulk-Plan. Als Donner eintrat, erhob sich vorschriftsgemäß die ganze Klasse, aber in ungewöhnlicher Stille und Ordnung. Mürrischen Gesichts schritt er zum Katheder. Wie erwartet, flog der große dicke Atlas auf das Pult. Da dessen Stützen gelockert waren, krachte es unter gewaltigem Getöse zusammen, der Atlas stürzte herab und riß den hinter dem Katheder stehenden Stuhl um, das ganze Katheder und der Podest, auf dem es aufgebaut war, wackelte in den Grundfesten. Ehe der zurückprallende Lehrer seinem Zorn auch nur mit einem Worte Luft machen konnte, begann der zweite Teil des Programms, der musikalische Brüller. Diese kurz vorher erfundene Demonstration bestand darin, daß jede der fünf in drei Kolonnen angeordneten Bankreihen in ein gut geleitetes, taktmäßiges Heulgelächter mit verschieden vokalisierten Silben ausbrach: die hinterste Reihe begann mit Ha Ha Ha, die nächste folgte mit He He He und so ging es über die Reihen in der alphabetischen Anordnung bis zum gespenstischen Hu Hu Hu der am weitesten vorn sitzenden Schüler. Betroffen starrte Donner in das tobende Inferno. Er versuchte wohl etwas hineinzurufen, aber seine Befehlsworte erstarben wie ein letzter Seufzer in dem höllischen Brausen. Als dessen Polyphonie über ein langsames Decrescendo endlich eingeschlafen war, saß die ganze Klasse unbeweglich da, als wäre nichts geschehen. Zornbebend, aber sprachlos, starrte Donner uns an. Er hatte wohl auch über seinen Verstand die Herrschaft verloren. Sonst hätte er einen besseren Übergang finden müssen als die törichte Frage: „Wer hat hier gebrüllt?“ Nun war das Erstaunen bei uns. Er hatte doch gesehen und gehört, daß die ganze Klasse gegrölt hatte, was also sollte seine Frage bedeuten! Aber er beging den Holzweg weiter: „Habt ihr mich nicht verstanden? Ich verlange, daß, wer gebrüllt hat, sich meldet.“ Da packte mich der Übermut; ich erhob mich mit den Worten: „Ich habe gebrüllt!“ Alles sah nach mir hin; es lag in der Luft, daß jetzt etwas Neues, Gewichtiges passieren müsse. Donner selbst war vielleicht am meisten betroffen; er fühlte sich erneut herausgefordert. Da mag blitzschnell in ihm der Triumphgedanke eingeschlagen haben: „Jetzt endlich habe ich den Burschen erwischt, diesmal versalze ich ihm die Suppe.“ Und er richtete messerscharfen Tones an mich die weitere Frage: „Hast Du allein gebrüllt?“ Diese Heuchelei schlug bei mir dem Fasse den Boden aus; Ich nahm den Fehdehandschuh auf und antwortete ruhig, vielleicht mit spöttischem Unterton: „Ja, ich ganz allein.“ Sofort beendete Donner den possenhaften Dialog mit der kühlen Bemerkung: „Ich werde mit dem Herrn Rektor sprechen“, und verließ das Klassenzimmer. Den Ordinarius Crusius überging er. Meine Mitschüler umringten mich. Die Mehrzahl interessierte sich dafür, wie die Hatz ausgehen werde. Meine näheren Freunde sorgten sich um mich und waren auch unzufrieden mit meinem Verhalten; sie meinten, man hätte auf Donners dumme Frage weiterhin schweigen sollen, er würde sich aus der Sackgasse nicht herausgefunden haben. Auch ich sah ein, daß ich infolge meiner Abneigung gegen den Muskelpietsch den Spaß zu weit getrieben hätte. Aber nun mußte ich die Entscheidung auf mich nehmen. Sie ließ nicht lange auf sich warten. Donner kehrte zurück und wies den Primus an, im Klassenbuch folgenden Eintrag vorzunehmen: „Auf Anordnung des Herrn Rektors wird der Schüler Drucker mit drei Stunden Karzer bestraft, weil er den Geographieunterricht durch ungebührliches Lachen gestört hat.“ Von diesem Urteil nahm ich mit unbewegten Gesichtszügen Kenntnis. Die Klasse murrte umso deutlicher. Alle erkannten sofort, daß Donner dem Rektor eine falsche Darstellung gegeben haben müsse. Er kam nicht dazu, die Freude über seine an mir ausgeübte Rache auszukosten. Kaum hatte er sich entfernt, als ein Sturm losbrach. „Diese Gemeinheit! Der Schwindler! Der will Lehrer sein!“, so und ähnlich hallte es durcheinander. Ein schmächtiger Kommilitone, er hieß Ruschlau und ist als Unterprimaner der Schwindsucht erlegen, verschaffte sich Gehör. „Diese Geschichte müssen wir beraten. Drucker soll solange aus dem Zimmer gehen.“ Das tat ich. Was während meiner Abwesenheit sich abgespielt hat, wurde mir dann erzählt. Ruschlau hatte ausgeführt, es sei eine Niederträchtigkeit Donners, auf solche Weise seine Wut an mir auszulassen, außerdem aber eine Beleidigung aller, wenn er ihnen zutraue, sie würden dulden, daß einer allein für einen Streich büße, den alle beschlossen und, wie Donner doch genau wisse, gemeinschaftlich vor ihm ausgeführt hätten. Es müsse sofort bei Crusius, der gewiß noch nichts wisse, Beschwerde geführt und ihm der wahre Sachverhalt unterbreitet werden. Dann werde natürlich die ganze Klasse bestraft werden, aber ihre durch Donner verletzte Ehre sei wiederhergestellt.
Da diesem Vorschlage allseitig zugestimmt wurde, suchte eine vom Primus und von Ruschlau geführte Abordnung unverzüglich den Ordinarius Crusius im Lehrerzimmer auf. Er hatte bereits von der ohne sein Vorwissen vom Rektor wegen Unaufschiebbarkeit des Einschreitens verhängten Karzerstrafe Kenntnis erhalten. Nachdem er die Schüler angehört hatte, hieß er sie in die Klasse zurückkehren und dort für tadellose Ruhe sorgen, bis er komme. Als er mit großer Verspätung eintrat, zeigte uns die auffällige Röte seines Gesichts, daß er offenbar eine lebhafte Auseinandersetzung hinter sich habe. Er äußerte aber nur, daß wegen des Eintrags im Klassenbuche eine Lehrerkonferenz einberufen sei. Wir nahmen an, daß über die durch die Abordnung gewissermaßen provozierte Gesamtbestrafung beschlossen werden solle. Am nächsten oder übernächsten Tage, nachdem inzwischen eine Anzahl Mitschüler vom Rektor vernommen worden war, trat Crusius wieder bei uns ein. Bezugnehmend auf den Konferenzbeschluß erteilte er der Klasse eine sehr scharfe Rüge wegen des eingestanden Komplotts und seiner Ausführung und hob hervor, es seien ernsteste Strafen bis zum consilium abeundi[71] erwogen worden. Er und die übrigen in dieser Klasse unterrichtenden Lehrer – das war die einzige, aber auch ausreichende Distanzierung von Donner – hätten aber wegen der Besonderheit der Begleitumstände eine mildere Auffassung vertreten. So sei beschlossen worden, daß für die Klasse drei Schüler je eine Stunde Karzer verbüßen sollten. Dagegen sei von Bestrafung Druckers abzusehen, weil er sich auf Donners Frage gemeldet habe. Jene drei Schüler sollten von der Klasse bestimmt werden oder sich freiwillig der Strafe unterwerfen.
Als Crusius darauf fragte, wer hierzu bereit sei, erhob sich die ganze Klasse wie ein Mann. „Nein“ fuhr er fort, „so geht das nicht. Nennt mir morgen die drei, die ins Karzer gehen. Damit soll dann diese schlimme Sache erledigt sein. Laßt mich, euren Ordinarius, nie wieder solches erleben. Im übrigen – dabei hatte er schon die Türklinke zum Verlassen des Zimmers in der Hand – im übrigen: ich habe mich über Euch gefreut!“
Der Jubel, der ihm nachhallte, galt weniger dem glimpflichen Ausgang der Affaire als der Genugtuung über die Gesinnung des verehrten Lehrers. Die Wahl der drei Sündenböcke vollzog sich rasch: drei meiner besten Freunde nahmen als ein ihnen zukommendes Privileg in Anspruch, die Stunde abzusitzen. Jedem von ihnen wurde durch den Hausmeister die Aufforderung übermittelt, nach Verbüßung der Strafe Crusius in seiner nahegelegenen Wohnung aufzusuchen. Dort hat er mit ihnen eine Stunde verplaudert, sicherlich um sie nochmals davon zu überzeugen, daß er in ihnen keine Missetäter erblicke, sondern die Repräsentanten eines anständigen Korpsgeistes.
Welche Stellung der Rektor und das Kollegium gegenüber Donner eingenommen hatten, der durch die Aussagen der Schüler doch empfindlich bloßgestellt war, haben wir nie erfahren. Aber die mehr als fadenscheinige Begründung, mit der ich straffrei erklärt wurde, enthielt eine scharfe Rüge seiner mir gegenüber an den Tag gelegten ungehemmten Gehässigkeit. In der nächsten Zeit vermieden er und ich jede Reibung, wie er denn überhaupt der ganzen Klasse etwas kleinlaut gegenübertrat. Aber noch einmal, in Unterprima, gab es einen sehr ernsten Zusammenstoß. Donners altes Kraftmeiertum war wieder ins Kraut geschossen, er hatte soeben wegen einer Brutalität gegen einen meiner Mitschüler, den er beim ganz überflüssigen Anfassen am Oberarm durch böswilliges Zusammendrücken Schmerzen und blaue Flecke zugefügt hatte, eine Beschwerde von seiten des Vormundes des Mißhandelten über sich ergehen lassen müssen, und war deshalb wieder einmal mißmutig und verbittert, als er in einer Turnstunde bei Freiübungen mit dem Eisenstab mich mit allerlei kleinlichen Ausstellungen zu reizen und zu ärgern anhub. Lange blieb ich ruhig; mir stand auf dieser hohen Schulstufe der Sinn wahrlich nicht nach Gezänk; ich fühlte mich schon infolge des gesellschaftlichen Umgangs, den ich außerhalb der Schule pflegte, als Erwachsener. Als Donner aber die Schikane weiter trieb, indem er mich aus der Reihe heraustreten und irgendwelche Übungen fortwährend wiederholen ließ, auch meine Einwendung, ich könne nicht mehr, höhnisch zurückwies, senkte ich den Eisenstab und übte nicht weiter. Donner schrie mich an, ich solle augenblicklich seinem Befehle folgen. Ich rührte mich nicht. Da brauste er, vielleicht in der niemals ganz verschütteten, jetzt wieder emporkommenden Erinnerung an seine moralische Niederlage in der Obertertia, brüllend auf: „Da sehen Sie alle, der Halunke will mir den Gehorsam verweigern!“ Das war zuviel. Die Primaner brachen spontan in Oho-Rufe aus, ich warf den Stab zu Boden und ging vom Schulhofe nach der in das Gebäude führenden Pforte. Donner schrie hinter mir her: „Sie bleiben hier. Ich verbiete Ihnen den Unterricht zu verlassen. Hier gilt mein Befehl.“ Ich beachtete ihn nicht, entfernte mich aus der Schule und suchte sofort meinen Vater auf, dem ich den Vorfall mit dem Hinzufügen erzählte, ich würde die Schule nicht wieder aufsuchen, wenn Donner sich nicht wegen der unerhörten Beschimpfung, die er mir angetan hatte, entschuldige. Der Vorfall hatte eine sehr ernste Seite. Schied ich aus der Thomana aus, so verschob sich mein Abiturientenexamen um ein ganzes Jahr, denn die Zulassung konnte nur nach zweijährigem Besuch der Prima erfolgen. Aber trotzdem fand mein Vater sich sofort bereit, sich beim Rektor zu beschweren. Darauf wurde er, da ich am nächsten Tage der Schule fernblieb, gebeten mich zu einer Vernehmung zum Rektor zu schicken. Im Vorraum seines Sprechzimmers wartend hörte ich von dort laute Stimmen, ohne Worte verstehen zu können. Nach einiger Zeit kam Donner hochroten Kopfes heraus, sah mich wohl kaum und entfernte sich eiligst. Beim Rektor befand sich auch mein Ordinarius Professor Küchenmeister, der selbst als geprüfter Turnlehrer einige Turnstunden gab und daher die mir zugemuteten Übungen beurteilen konnte. Ich schilderte deren Verlauf und betonte, daß ich geradezu gequält worden sei. Dagegen wurde nichts eingewendet. Zum weiteren Hergang aber äußerte der Rektor: „Es bleibt aber an Ihnen hängen, daß Sie sich dem ausdrücklichen Befehle des Herrn Donner, dazubleiben, widersetzt, ihm damit vor der ganzen Unterprima und auch anderen auf dem Hofe anwesenden Personen den Gehorsam verweigert und während der Unterrichtszeit eigenmächtig das Gebäude verlassen haben. Wie wollen Sie diese schwere Disziplinlosigkeit entschuldigen?“ Auf einen Vorhalt dieser Art war ich gefaßt. Ich erwiderte in bescheidenem Tone: „So habe ich erst getan, als Herr Donner vor meinen Kameraden und allen Zuhörern öffentlich mich einen Halunken genannt hatte. Dadurch war ich im Tiefsten betroffen. Ich sagte mir: entweder hat er Recht, Du bist ein Halunke – dann hast du auf der Thomasschule nichts mehr zu suchen. Oder er ist im Unrecht: dann hat er Dir einen solchen Schimpf angetan, daß du ihm keinen Gehorsam schuldest.“
Mir schien, als wechselten die beiden Pädagogen einen Blick des Einverständnisses. Sie waren sicherlich darin einig gewesen, daß es für den Ruf der Thomasschule unerträglich sein würde, wenn ein Primaner aus guter Familie, der, wie ich hier einzuschalten wage, zu den besten Schülern der Anstalt gehörte, der Schule freiwillig den Rücken kehrte, weil er von einem Lehrer gröblich beschimpft worden war. Der Rektor verabschiedete mich mit dem Auftrag, ich möchte meinen Vater bitten, ihn tags darauf zu besuchen.
Bei dieser Besprechung hat ihm der Rektor mitgeteilt, daß Donner eine ernste Rüge empfangen habe. Wenn mein Vater darauf bestehe, werde die Sache der Schulbehörde zur Entschließung wegen Einleitung eines Disziplinarverfahrens einberichtet werden. Donner habe sich beim Rektor entschuldigt und sei auch bereit, meinem Vater unmittelbar sein Bedauern auszusprechen. Auf alles das verzichtete mein Vater, um die Sache nicht auf die Spitze zu treiben. Vereinbart wurde aber, daß ich vom der Teilnahme am Turnunterricht befreit würde und daß der Ordinarius mich wieder in die Klasse einführen und ihr mitteilen solle, der sehr beklagenswerte Vorfall in der letzten Turnstunde sei gründlich untersucht worden, wobei sich kein Anlaß zu einem Tadel gegen mich ergeben habe, auch mein Weggang aus der Schule sei durch das Vorausgegangene entschuldigt. Das war das Ende meiner Beziehungen zum Turnlehrer Donner. Er soll sich später völlig geändert und bei den Schülern sogar eine gewisse Beliebtheit erlangt haben. Warum gerade ich zum Schleif- und Polierstein seines Gemüts vom Schicksal auserkoren worden war, ist undurchsichtig geblieben.
Ich erwähnte, daß zur Verbüßung der einstündigen Karzerstrafe sich drei der mir am nächsten stehenden Kommilitonen gemeldet hatten. Wer sie waren, dessen bin ich mir nicht ganz sicher. Aber ich glaube fast, daß Hermann Triepel und Viktor Schmidt zu ihnen gehörten. Deshalb mag von ihnen hier die Rede sein, obwohl in unserem Freundschaftsverhältnisse jene lumpige Karzerstunde keine Rolle gespielt hat.
Hermann Triepel, der um vier Jahre jüngere Bruder des im Zusammenhange mit der Karte der Gerüche Leipzigs schon genannten Heinrich Triepel, war der Sohn eines Leipziger Großkaufmannes. Seine Mutter war eine Schweizerin. Beide Brüder waren glänzend begabt. Heinrich Triepel verließ die Thomasschule als Primus omnium; daß Hermann, der das Abiturium als einziger mit der blanken I bestand, in Oberprima auf dem zweiten Platz saß, war eine Folge davon, daß er – ebenso, wie die drei nächstfolgenden Schüler – im Betragen nur I b bekommen hatte, so daß ein in den Leistungen ihnen ein wenig nachstehender, nämlich Heinrich Degen, als Primus abging. Schon von Untertertia an verkehrte ich in Triepels Familie, wie er in der meinigen. Mit Viktor Schmidt und Georg Langerhans – der letztgenannte war nicht Thomaner, sondern besuchte den „Staatskasten“, das König-Albert-Gymnasium – bildeten wir ein unzertrennliches Quartett, an das sich auch einige andere, Willy Maurenbrecher, Josef Jadassohn und später Wilhelm Wielandt sehr eng angliederten. Hermann Triepels Begabung erstreckte sich auf alle wissenschaftlichen Fächer. Es gibt bekanntlich Schüler, die in den fremden Sprachen niemals einen grammatikalischen Fehler begehen und alle Vokabeln kennen, aber in anderen Fächern versagen. Wir hatten einen solchen Kommilitonen, auf dessen Halbjahreszensur regelmäßig neben der Eins in drei Fremdsprachen recht ungünstige Ziffern über seine Leistungen in Deutsch, Geschichte, Religion Auskunft gaben. Er hat es bis zum Postsekretär[72] gebracht. Dagegen zeigte sich bei Triepel eine völlige Ausgeglichenheit, weil er kein einseitiges Talent, sondern ein grundgescheiter Mensch war. Man spürte an ihm nichts von Sturm und Drang, Ferner Stehende hätten ihn für kühl oder gar kalt halten müssen. Aber ihm gelangen vortreffliche Verse und er spielte ausgezeichnet Klavier nicht nur in technischer Hinsicht, sondern auch mit seelenvollem Vortrag. Die ihm eigene innere Ruhe machte ihn zu einem tüchtigen Schach- und Skatspieler. Alle diese Eigenschaften und Fertigkeiten waren es aber nicht, die ihn zu meinem Freunde machten. Mich zog zu ihm seine Fähigkeit und Bereitwilligkeit zu gemeinschaftlichem Nachdenken über ernste wie heitere Gegenstände, die einen von uns oder beide jeweils beschäftigten, und zum rückhaltlosen Austausch der Meinungen darüber. Solche Unterhaltungen, wie ich sie ähnlich nur mit Georg Langerhans geführt habe, förderten uns nicht nur wechselseitig, sondern ließen auch die Unterschiede zwischen unseren Temperamenten in jener Atmosphäre des Vertrauens und der herzlichen Verbundenheit untergehen, die das Wesen wahrer Freundschaft ausmacht. In unseren Jugendjahren haben wir wohl nie daran gezweifelt, daß unsere Freundschaft über die Jahrzehnte hinweg nicht nur bleiben, sondern sich auch weiter betätigen werde. Aber räumliche Trennung hat mir Hermann Triepel wie alle die Freunde meiner Jugend recht bald entrückt. Ich bin allein in Leipzig geblieben und habe, nachdem die Lern- und Studienzeit hinter mir lag, niemals mehr einen Freund gesucht oder gar gefunden. Darüber vielleicht später noch einige Worte.
Hermann Triepel studierte in Tübingen und dann in Leipzig Medizin und wurde sehr bald außerordentlicher Professor und Prorektor an der Universität Breslau. Aber schon damals zeigten sich die ersten bedrohlichen Symptome eines schweren inneren Leidens, das er, der von zarter Konstitution war, sich vielleicht durch körperliche Überbeanspruchung als Corpsstudent zugezogen hatte. Nachdem er mehreren Operationen unterworfen worden war, ist er etwa 1919[73] verschieden, ohne daß ich ihn während der letzten 20 Jahre wiedergesehen hätte. Bei mehrmaliger Anwesenheit in Breslau hatte ich ihn nicht angetroffen. Sein letztes Lebenszeichen war sein Glückwunsch zu Renates Geburt. Aber in diesem Brief teilte er mit, er habe meine Anzeige vor seiner Frau verheimlicht, die durch den bald nach der Geburt eingetretenen Tod des einzigen Kindes in eine bedenkliche Nervenkrise geraten sei; dieser Zustand würde durch Kenntnisnahme von unserem Elternglück sich verschärfen. Diese Andeutung ließ mich einen Blick in wahrscheinlich schweren seelischen Kummer tun, der zu dem unheilbaren Leiden meines Freundes hinzugetreten war.
Von ganz anderer Art als Triepel war Viktor Schmidt. In ihm erblicke ich jetzt, da das Leben hinter mir liegt und ich die Schicksale vieler Menschen zu begreifen gelernt habe, ein hervorstechendes Beispiel für die ungewollte Abbiegung natürlicher Anlagen durch die Umgebung im Elternhause. Viktors Vater war Professor des römischen Rechts an der Universität Leipzig. Nach seinem Geburtsorte wurde er in der wissenschaftlichen Welt zur Unterscheidung von vielen anderen seines Familiennamens Schmidt von Ilmenau genannt; in Leipzig hieß er „der römische Adolf“. In jungen Jahren hatte er sich durch bedeutende schriftstellerische Leistungen ausgezeichnet, denen er auch den Ruf an die überaus stolze Leipziger Fakultät verdankte. Hier aber wurde er durch den größten Pandektisten jener Jahrzehnte, den wesentlich jüngeren Bernhard Windscheid, mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt. Das persönliche Verhältnis zwischen den beiden war unerfreulich. Schmidts Verstimmung ging so weit, daß er im Kolleg beim literarischen Überblick das große dreibändige Lehr- und Handbuch des Pandektenrechts von Windscheid, unzweifelhaft das wichtigste und in jenen Jahren modernste, überhaupt nicht erwähnte. Windscheid wiederum tat manche Lehren Schmidts, ohne ihn zu nennen, aber in für die Hörer verständlicher Weise als längst widerlegt und veraltet ab. Die letztere Kennzeichnung mochte für die Lehren vielleicht nicht zutreffen, die auch von jüngeren Romanisten der klassischen Schule weiterhin gegenüber Windscheid vertreten wurden. Aber Schmidt selbst war allerdings, als ich etwa 1884 in sein Haus durch Viktor eingeführt wurde, schon ein sehr alter Herr. Ich habe ihn mehrmals mit Stolz davon erzählen hören, daß er als Knabe auf Goethes Knien gesessen habe. Er hatte die 60 überschritten, als Viktor geboren wurde. Um dessen Erziehung hatte er sich wohl nie viel gekümmert. Sie lag wie die Leitung des ganzen Hausstandes in den Händen der Frau Schmidt. Das war in jedem Betracht die große Dame. Wohl mindestens zwei Jahrzehnte jünger als ihr Ehegatte, aus bester badischer Familie stammend und vorbildliche Meisterin aller gesellschaftlichen Formen machte sie ihr Haus zum Mittelpunkt eines regen geselligen Verkehrs. Ihren Kindern – Victor hatte eine mehrere Jahre älter Schwester Laura – anerzog sie ein geradezu sublim zu nennendes gesellschaftliches Benehmen und lehrte sie in deutscher wie französischer Sprache schon frühzeitig eine richtige Konversation führen. Sie bemerkte wohl nicht, daß durch diese Ausdrucksweise ihr junger Sohn Victor oft auf Erwachsene, gerade die Lehrer, den Eindruck eines altklugen und eingebildeten Burschen machte, der er durchaus nicht war. Als zwei meiner Freunde und ich zum ersten Male nach einem Skatnachmittag bei Schmidts zum Abendessen blieben, ging es dort ganz anders zu als wir es von den heimischen Familientischen gewöhnt waren. Die Mahlzeit wurde im Stile einer Hoftafel celebriert und die von der Dame des Hauses inaugorierte Unterhaltung hatte unverkennbaren Salonanstrich. In solcher Umgebung heranwachsend nahm Viktor es mit der Schule nie erst. Er hatte recht gute Anlagen, aber es fehlte ihm an aller Ausdauer. Wohl vermochte er als vortrefflicher Schachspieler mehrere Stunden bei einer schweren Partie zu verbringen, aber längere Zeit auf Schulaufgaben zu verwenden gelang ihm nicht. Ihm – und offenbar auch seinen Eltern – genügte es vollkommen, wenn er Ostern von Klasse zu Klasse auf einem guten Mittelplatze übertrat. Erst in Oberprima scheiterte er. Die Kommission entschied, daß er das Abiturium nicht bestanden habe. Wir, seine Mitschüler, hatten allerdings die Empfindung, daß diese Entscheidung unbillig und wohl durch die Abneigung einiger Lehrer verursacht sei, die wegen Victors überheblich wirkenden Auftretens ihm einen Denkzettel verabreichen wollten. Ein halbes Jahr später legte er die Prüfung ab und begann, was ihm und seiner Familie selbstverständlich war, Jura zu studieren. Da machte sich wieder derselbe Mangel an Energie wie gegenüber dem Lernen auf der Schule geltend. Nach mehreren Jahren hat er in Münster die schriftliche Referendarprüfung abgelegt, aber die mündliche, weil er sich ihr nicht auszusetzen wagte, zunächst unter Vorschützung von Krankheit verschieben lassen. Als der Vater Schmidt mir, der ich wohl schon Rechtsanwalt war, das wie etwas ganz Nebensächliches mitteilte, äußerte ich das Bedenken, daß das Examen wohl nie von statten gehen werde. Dafür fand ich kein Verständnis. Aber leider habe ich recht behalten. Viktor hat es nie zu einem geregelten Berufe gebracht, übernahm die Verwaltung des beträchtlichen elterlichen Vermögens. In wirtschaftliche Vorgänge fand er sich leicht hinein und hatte besonders für die Bewegungen an der Effektenbörse ein offenes Auge, so daß er durch fast immer erfolgreiche Spekulationen nicht nur seinen Unterhalt reichlich verdiente, sondern auch das Vermögen vergrößerte. Eine Zeitlang war er auch im Vorstande einer Berliner Terraingesellschaft tätig. Aber über Gelegenheitsarbeit ist er nie hinausgekommen. Hätte die Familientradition ihn nicht in das Universitätsstudium hineingewiesen und hätte nicht die Familienindifferenz ihn von dessen ernstlichem Betreiben abgedrängt, so wäre er höchstwahrscheinlich ein tüchtiger Kaufmann, vielleicht ein Wirtschaftsführer geworden. Er ist ein Opfer verkehrter Erziehung. Seine Geschichte habe ich hier als Stoff zum Nachdenken eingefügt. Durch sie ist aber meine Freundschaft mit ihm nicht beeinträchtigt worden. Von den geschilderten Schwächen abgesehen, besaß Victor einen untadeligen Charakter. An allem, was seine Freunde anging, nahm er mit herzlichster Hingabe Anteil, seine Treue bewährte sich in jeder Lebenslage. Freude zu bereiten, war ihm ein Bedürfnis. In meiner Familie fühlte er sich heimisch. Kein anderer aus dem Kreise meiner Freunde ist meinen Eltern, Geschwistern und meiner Frau so nahe gekommen wie er; alle schätzten ihn nicht zuletzt auch wegen der ritterlichen Gesinnung, die er in jedem seiner Worte zu und über Frauen sich aussprach. Zugleich war ein glänzender Unterhalter und verbreitete Frohsinn um sich her. Auf lebhaften Wunsch meiner Frau wurde er Pate bei unserem Peter. Nachdem er etwa Ende der 20er Jahre seinen Wohnsitz in Berlin, von wo aus er uns bisweilen in Leipzig besuchte, aufgegeben hatte und zu seiner nach Breslau übergesiedelten Mutter übergesiedelt war, haben wir uns nicht mehr gesehen. Bald nach dem Umzuge ist er gestorben.
Der dritte meiner Freunde aus der Thomasschule ist Wilhelm Maurenbrecher gewesen. Dessen Vater, einer der Lehrer des späteren Kaisers, Wilhelm II, wurde etwa 1883 oder 1884 als Professor der Geschichte nach Leipzig berufen. Von seinen vier Söhnen, die er sämtlich der Thomana zuführte, war Wilhelm der zweite. Zwei der Brüder waren schlank, die beiden anderen beleibt. Wilhelms Körperumfang hatte eine ganz ungewöhnliche Stärke erreicht; auf der Straße drehte sich jedermann nach dieser auffälligen Erscheinung kopfschüttelnd oder lachend um. Ich schalte gleich hier ein, daß, als Wilhelm Einjährig-Freiwilliger wurde, die Kammer selbstverständlich keinen Koppelgurt, der die bei anderen Menschen als Taille bezeichnete Körperstelle zu umspannen vermocht hätte, aber auch keinen Waffenrock besaß, so daß die Einkleidung einige Tage verschoben werden mußte, bis der Regimentsschneider eine neue Uniform angefertigt hatte. In diesem massigen Leib wohnte ein fröhliches, stets zu lustigen Streichen bereites Herz. Kurz, nachdem Maurenbrecher in meine Klasse eingetreten und, weil er in keins der Pultbänke eingezwängt werden konnte, vorn vor den Bankreihen einen Stuhl oder eine pultlose Bank angewiesen erhalten hatte, bekamen wir einen Mitschüler ganz besonderer Art, nämlich den Prinzen Friedrich von Schönburg-Waldenburg, der, aus dem bekannten sächsischen Fürstengeschlecht stammend, zwar das Alter unserer Klasse um mehrere Jahre überschritten, deren wissenschaftliches Ziel aber bei weitem nicht erreicht hatte. Er war hochgewachsen und breitschultrig und wirkte dadurch sowie seine keinem Schulanzug ähnelnde gesellschaftliche Kleidung, die er in den ersten Tagen trug, recht imposant. Nun unterrichtete damals bei uns aushilfsweise ein Probekandidat namens Graf, ein schüchternes Männchen, der von der übermütigen Tertia mit Vorliebe zum Objekte harmloser, ihn aber stets völlig aus dem Konzept bringender Späße gemacht wurde. Als er zum ersten Male nach Schönburgs Eingliederung, von der er wohl nicht unterrichtet worden war, die Klasse betrat, wurde er zunächst durch einen beliebten Schülerscherz erschreckt, nämlich das durch eine sinnreiche Vorbereitung herbeigeführte, Lärm erregende Herabstürzen des am Türpfosten hängenden Toilettenschlüssels beim Schließen der Zimmertür. Darüber brach die Klasse in ein Überraschung vortäuschendes heftiges Gelächter aus, das den ängstlichen Kandidaten verwirrte. Während sich die zur vorgeschriebenen Begrüßung aufgestandene Klasse langsam niederließ, blieb vorne der Prinz vor dem ihm wohl kaum bis zur Schulter reichenden Probelehrer hochaufgerichtet und unbeweglich stehen, der verlegen die gewaltige Erscheinung anstarrte. Da trat der dicke Maurenbrecher an die beiden Herren und sprach mit seiner wohlklingenden Stimme und vornehmer Handbewegung die denkwürdigen Worte: „Ah, die Herren kennen sich wohl noch nicht! Darf ich vorstellen: Herr candidatus probandus Graf; seine Durchlaucht Prinz Friedrich von Schönburg-Waldenburg!“ Der Kandidat knickte zu einer linkischen Verbeugung zusammen und ergriff die ihm mit großartiger Geste dargebotene rechte Hand des Schülers, dem er, der Lehrer, präsentiert worden war. Die Klasse quittierte diese unnachahmlich komische Szene mit der akademischen Beifallsbezeugung anhaltenden Trampelns.
Daß hinter unserem Vergnügen ein gut Teil Grausamkeit steckte, nämlich die Verhöhnung der Hilflosigkeit eines Einzelnen durch eine unangreifbare Mehrheit, habe ich damals nicht eingesehen. Mir erschien Maurenbrecher als ein harmlos lustiger Gesell, mit dem in Verkehr zu treten sich lohnen würde. So dachten auch Triepel und Victor Schmidt und bald gehörte Maurenbrecher zu unserem Kreise. Dessen Beschäftigungen erweiterte er nach ganz neuer Seite. Schon in seiner Schülerzeit hatte er sich vorgenommen, Schauspieler zu werden. Für diesen Beruf qualifizierte ihn ein biegsames, in allen Stimmlagen schönes Organ großen Umfangs, ein gänzlich dialektfreies Bühnendeutsch und ein den Gehalt jeder Dichtung ausschöpfender Vortrag. Bis wir Muli wurden, blieb immer bei Lehrern und Schülern streitig, wer für Schulfeiern der bessere Deklamator sei, unserer Maurenbrecher oder der in Leipzig geborene Grieche Peter Pappageorg aus unsrer Parallelklasse, der als griechischer Generalkonsul 1944 gestorben ist. Die Körperlichkeit Maurenbrechers erschien freilich als Hindernis für die Bühnenkarriere; er hat deshalb später sich Abmagerungskuren unterworfen und war gezwungen sein Repertoire auf solche Gestalten zu beschränken, deren dichterische Ausprägung mit wuchtigem Bau nicht unvereinbar ist. Als Gymnasiasten agierten wir aber nicht auf weltbedeutenden Brettern, sondern wir lasen mit verteilten Rollen. Auf Maurenbrechers Anregung und unter seiner Führung bildeten wir ein Lesekränzchen für Dramen. Das hat uns nicht nur Unterhaltung, sondern allerlei Belehrung geboten. Denn wir blieben nicht auf der breiten Heerstraße der Stücke, die auch im Schulunterricht behandelt wurden, sondern befaßten uns mit weniger bekannter Theaterliteratur. So habe ich beispielsweise im Lesekränzchen Gutzkows Uriel Acosta[74] kennen und schätzen gelernt. Ehe ein Stück vorgetragen wurde, hatte jeder Teilnehmer sich mit dem Inhalte genau vertraut zu machen und wurde nicht selten über die Auffassung jedes einzelnen Charakters debattiert. Maurenbrecher bewährte sich schon damals als ein anständiger Regisseur. In solcher Stellung, zuletzt wohl als Oberregisseur am Stadttheater zu Düsseldorf, hat er sich später um fein durchdachte Aufführungen bemüht und verdient gemacht. Die Gespräche und Vorträge im Lesekränzchen schulten uns übrigens auch zu kritischen Theaterbesuchern. Wer ein Bühnenwerk ganz genau kennt, steht dem Schauspieler mit viel eindringenderem Verständnis und deshalb mit feinerem Gerechtigkeitsgefühl gegenüber als der Beschauer, dem nur die einmalige Aufführung entgegentritt; er merkt, inwieweit eine unbefriedigende Darstellung auf Mängel des Stücks oder auf verfehlte Auffassung des Regisseurs zurückzuführen, eine besonders eindrucksvolle Leistung eines Schauspielers dessen eigenes Verdienst ist. Hierfür als Beispiel einige Wahrnehmungen, die ich bei Vorstellungen von Goethes Faust gemacht habe. Ein eigenwilliger Leipziger Regisseur ließ das Gretchen einmal von einer sehr talentierten Schauspielerin – sie hieß Politz – darstellen, die prachtvolles langes eigenes pechschwarzes Kopfhaar trug. Auch ihre Augen, die Brauen und die Wimpern waren von derselben Farbe, die Figur schmächtig, zierlich. Kurz, sie erinnerte in nichts an das durch die Bühnentradition typisierte Idealbild des blonden deutschen Gretchens. Diesen Kontrast wertete wohl der Regisseur dahin aus, daß er seinem Gretchen statt der hergebrachten naiven Sanftmut einen leicht diabolischen Charakterzug anbefahl, der die erschütternde Wirkung der Kerkerscene bis zum Grauen steigerte, aber sich doch mit Goethes Gretchen nicht verträgt. Trotz der hohen Künstlerschaft der Darstellerin durfte das schwarze Gretchen nicht zum zweiten Male auftreten. Die ihr vom Regisseur vorenthaltene blonde Perücke hätte einen Lorbeerkranz bedeutet.
Mein Beispiel für die eigenschöpferische Charaktergestaltung durch den Schauspieler selbst entnehme ich zwei Faustaufführungen, die zeitlich nahe beieinander lagen. In der ersten verkörperte den Mephisto Dr. Otto Devrient. Dieser große Künstler spielte den Teufelscharakter auf das fleischliche Prinzip hinaus. Sein Mephisto war der Verführer zu hemmungslosem Sinnengenuß. Diese Auffassung der Rolle mußte Reflexwirkungen auf die Beurteilung des Faustproblems äußern. Es wurde vereinfacht, gewissermaßen vergewöhnlicht. Kurz darauf trat als Mephisto Joseph Kainz auf. Überschlank, asketisch, in Schwarz gekleidet. Blutleere, ätzende Überintelligenz. Dieser Mephisto hielt den Faust auf dem Niveau des armen Toren, der trotz aller Gelehrsamkeit immer so klug bleibt wie zuvor. Gegen die souveräne Gestaltungskraft eines Devrients und Kainz kommt kein Regisseur auf. Aber auch nicht der Dichter selbst. Das haben wir in Maurenbrechers Lesekränzchen wohl noch nicht ganz klar erkannt, aber doch schon geahnt und in lebhaften Debatten erörtert. Ein vielgelesenes Buch, Bulthaupts Dramaturgie der Klassiker[75], und auch schon Lessings Hamburgische Dramaturgie[76] regte zum Nachdenken an und befruchtete das Verständnis nicht nur für die Dichtungen, sondern gerade für ihre bühnengerechte Darstellung. Dem Theater wendete sich in jenen Jahren die Aufmerksamkeit des literarisch interessierten Deutschlands mit solcher Stärke zu, wie später wohl nur, als Max Reinhardt im Zenith seines Ruhmes stand. Es waren die Jahre, in denen die Gastspiele der Meininger allerorten überfüllte Häuser und bald überschwenglich lobende, bald leise warnende Kritik fanden. Die Warnungen bezogen sich auf die angebliche Überschätzung der Ausstattung, das Lob auf die unübertreffliche Einheitlichkeit und Harmonie des Ensembles. Staregoismus, wie bei den von mir erwähnten Mephistospielern, fand bei den Meiningern keinen Raum. Unter ihnen gab es Künstler allerersten Ranges, mancher von ihnen ist nach seinem Ausscheiden aus diesem Kreise oder nach dessen Auflösung selbst zum Star geworden, wie etwa Max Grube, aber als Meininger strebte jeder zum Ganzen und schloß als dienendes Glied an das Ganze sich an. Mein Vater, der nicht häufig ein Theater besuchte, war bei den fast alljährlich im Karolatheater, dem späteren Schauspielhaus, in der dicht bei unserer Wohnung gelegenen Sophienstraße stattfindenden Meininger Gastspielen fast Habitué[77]; auf seine Veranlassung durfte auch ich mehrere Vorstellungen sehen. Unvergeßlich ist mir nicht nur Shakespeares Julius Cäsar und die Jungfrau von Orleans, sondern auch eine schon längst nicht mehr gespielte Tragödie von Artur Fitger mit dem Titel Marino Falieri[78]. Die Pracht der Ausstattung – es hieß, daß der Herzog von Meiningen sich durch die Zuschüsse zum Theaterbetrieb finanziell ruiniert habe – und die bis in das unscheinbarste Detail durchdachte Gesamtleistung ließen jede Erinnerung an Requisitenkammer und eingelernte Pose schwinden: Was auf der Bühne vorging, wurde im Parkett erlebt.
Nur einmal in meinem späteren Leben habe ich einer Aufführung beigewohnt, die hinter dem Stile der Meininger nicht zurückblieb, ihn wohl noch übertraf: Das war 1923 in einer Festspielwoche des Münchner Prinzregententheaters, wo der Rosenkavalier in einer Besetzung von lauter allerersten Künstlern, auch in den unwichtigsten Rollen, dargeboten wurde. Hier addierte sich der Erfolg aus vielen Einzelleistungen; die Meininger siegten durch die Unzerteilbarkeit ihres Gesamthandelns.
Die Leipziger Bühnen boten in jenen Jahren wohl durchschnittlich gute Aufführungen, bedeutende aber nur bei Gastspielen. Der Grund hat vermutlich in der oft bis zur Knauserei ausartenden Sparsamkeit der Direktoren gelegen, die als Pächter des Theaterbetriebs sich oft recht stark durch Portemonnaieinteressen leiten ließen.
Wir waren aber verhältnismäßig fleißige Theaterbesucher. Meine Eltern legten auf diese Form der Verbindung von Ausbildung und Genuß Gewicht und wir waren trotz aller Neigung zur Kritik begeisterungsfähig genug, um uns auch an Aufführungen nicht ersten Ranges zu erfreuen. Gingen wir ohne die Eltern ins Theater, so bevorzugten wir die hinteren Parkettreihen. Durch Maurenbrecher wurde ich mit der höchsten Galerie, dem Topp bekannt, wo wir für unglaublich geringen Preis Kunstgenuß fanden, nämlich bei Klassikervorstellungen zu halben Preisen im Alten Theater für 15 Pfennige, und das waren sogar Sitzplätze. Im vornehmen Kontraste dazu saß ich oft auf einem Vordersitz einer Balkonproszeniumsloge im Neuen Theater. Dort hatte Geheimrat Schmidt für jeden vierten Tag zwei Sessel abonniert, die aber von ihm und seinen Damen schon wegen anderer gesellschaftlicher Pflichten nicht regelmäßig genutzt werden konnten, so daß wir als Victors Freunde Hilfe leisten mußten. Dort ist mir auch der erste und einzige Theaterschlummer zugestoßen. Es war in Lohengrin.
Das Dramenlesekränzchen des Tertianers Maurenbrecher hat mich weit von meinen Schülerjahren weggeführt. Wer nach Erinnerungen gräbt, bleibt nicht an den Wurzeln und Keimen hängen, sondern verfolgt das Wachstum bis zur späten Baumkrone.
Außerhalb des Schulbetriebs waren meine Tertianerjahre nicht leer an Erlebnissen, von denen einige berichtet werden mögen.
1883 oder Anfang 1884 heiratete Hilde Fricke, meiner Schwester Hanna ältere Freundin, einen Kandidaten der Theologie Teichgräber. Es verstand sich von selbst, daß Hanna sich an den Aufführungen am Polterabend beteiligte, aber es lag in ihrer ganzen Natur, daß sie nur mit einer ausgesuchten Besonderheit auftreten würde. Nun hielt sie sich in den Wochen vorher in Minden bei Rocholls auf, also in unmittelbarer Nähe des Bückeburger Landes mit seinen prachtstrotzenden bunten Bauerntrachten und seinem westfälischen Plattdeutsch, dem Heimatsidiom des Geheimrats Fricke. Dort entdeckte Hanna, wie sie unserer Mutter schrieb, eine als Polterabendaufführung gedachte sehr witzige Szene, die aber zwei Personen, eine Mutter und deren Tochter, erheischte. Die Bauernfrau wollte Hanna selbst spielen, aber sie wisse nicht, wer ihr als Tochter zur Seite treten solle. Unsere Mutter verstand diese Bemerkung richtig: Als Tochter war ich begehrt. Meine Bereitwilligkeit wurde Hanna mitgeteilt, die in einer der launigen Reimereien, die sie blitzschnell aus ihrer Feder fließen ließ, mir ihren Dank aussprach und mir alles Nähere bekanntgab. Die Anfangsworte ihres Briefs fallen mir jetzt wieder ein:
Da sich der stolze Herr aus Unterterzia
Nun angeboten selbst, als Mädchen aufzutreten,
So wisse er, jetzt kann ichs sagen ja,
Wie gern ich ihn darum gebeten.
Doch wagt ichs nicht, weil ich nicht wissen konnte,
Nähm solche Zumutung der Herr nicht schief,
Und wollts auch nicht, da ich vom Herrn erhalten,
So lang ich hier bin, keinen einz’gen Brief –
usw.
Bei der Rückkehr aus Minden brachte Hanna zwei echte Bückeburger Trachten, entliehen aus einem reichen Bauernhofe, mit. Das für mich bestimmte Kostüm wurde mit ängstlicher Vorsicht, um es nur ja nicht zu beschädigen, passend gemacht; umgekleidet sahen wir unübertrefflich naturgetreu aus. Nicht so leicht wie die äußere Verwandlung wurde mir die innere Umstellung aus dem sächsischen Hochdeutsch eines Gymnasiasten in das Platt einer verlegenen westfälischen Bauerndirne. Aber, wenn ich auch zu keiner Meisterleistung heranwuchs, so erreichte ich doch immerhin jenes Stadium, das die französische Sprache unnachahmlich difficulté vaincue[79] nennt. So fuhren wir denn zum Polterabend und schoben uns im geeigneten Moment, zunächst von niemanden erkannt, in die lange Reihe der Aufführungen ein. Ich hing, als wir auf das Brautpaar zuschritten, mit erkünstelter Schüchternheit am bunten Rock meiner Eintagsmutter, die dann anhub:
„Nu kumm ma her mei leiwet Fieken,
Brukst nech uso schüchtern dal to kieken,
Un all de Lüd, die hier sin,
will Nums di wal dauhn, mi leiwet kinn.“
(Ob ich die Transkription des Idioms in hierzulande lesbare Buchstaben richtig treffe, muß offenbleiben.)
Dann entspann sich zwischen Mutter und Kind ein von Hanna sehr geschickt für den Anlaß des Tages adaptierter Dialog. Ich hörte, wie Frau Fricke zu ihrer Umgebung äußerte: „Die Bäuerin ist Hanna Drucker, wer aber das Mädchen ist, hat sie mir nicht gesagt.“ Nach der Aufführung wurde mein Inkognito gelüftet, ich erschien geschlechtsgemäß umgekleidet und wurde von Teichgräbers Verbindungsbrüdern, den Arionen[80], so intensiv bevatert, daß ich ein paar Stunden auf dem Diwan eines vom Festtrubel entfernten Zimmers verschlief. Als ich erwachte, wurde ich Ohrenzeuge einer Unterhaltung zwischen Frau Fricke und anderen Familienmitgliedern, die sich gleichfalls zu zeitweiliger Erholung zurückgezogen hatten. Man besprach die verschiedenen Aufführungen, Hanna und ich bekamen eine recht gute Kritik, in die aber Frau Fricke den Wermutstropfen träufelte, unser Platt sei aber doch nicht richtig gewesen. Den Teufel auch, wenn man seine Tage zwischen Wulks, Striez und Kleeschocher verbringt! Das war also mein erstes gesellschaftliches Auftreten in Weiberkleidung. Mancher meiner Altersgenossen hätte sich dessen geschämt. Ich nicht. Ebensowenig wie Achilles[81].
Im späteren Leben habe ich Hildegard Teichgräber nur noch selten gesehen. Ihr Mann war zunächst Pfarrer in Kitzscher bei Borna, wo Hanna oft verkehrte, später Pfarrer an der Andreaskirche in Leipzig. Weil aber Hannas Aufenthalt in den ersten Jahrzehnten ihrer Ehe außerhalb Leipzigs lag, war mir, als sie mit Mann und Kindern schließlich endgültig dorthin zurückkehrte, inzwischen die Fühlung mit Hildegard verloren gegangen, ich begegnete ihr nur selten einmal bei Hanna. Dann wurde stets die Erinnerung an die Jugendzeit lebendig. Ich habe hinter der, ihrer Würde als Gattin eines pastor primarius sich stets bewußten Frau, Hildegard Teichgräber stets die lustige Hilli Fricke meiner Kinderjahre erblickt.
Ostern 1885 wurde ich konfirmiert. Den vorausgegangenen Unterricht hatte Fricke erteilt, der auch schon Hanna eingesegnet hatte. Man darf sich diese Stunden, die in manchen Gegenden auch als Christenlehre bezeichnet werden, nicht wie Religionsstunden vorstellen. Daß Kinder, deren Eltern die Konfirmation ausdrücklich und ausschließlich beim Geheimen Kirchenrat Fricke begehrten, soviel von ihrer Religion und Konfession wüßten, wie die Schule verlangt, setzte er voraus und dachte deshalb gar nicht daran, etwa Katechismus oder Bibel oder Gesangbuchlieder zu traktieren und abzufragen. Er blieb eigentlich immer der Professor der Theologie, der Kolleg nicht las, sondern sprach, nur, daß er das Niveau auf das Auffassungsvermögen 14-16jähriger Stadtkinder, zumeist Gymnasiasten, herabschraubte. Wie seine Predigten nur für Gebildete bestimmt, für solche aber auch ein Labsal waren, so bot er auch den Konfirmanden Philosophie, Ethik, Religionsgeschichte. Vielleicht ging manches in seinen Vorträgen über den Horizont der Hörer hinaus; aber ich bemühte mich ihnen zu folgen und verließ jede Stunde in dem Gefühl, eine Bereicherung mitzunehmen.
Mein Konfirmationstag bestand zunächst in einer erheblichen Anstrengung. Fricke predigte wohl zwei Stunden lang und da von ihm wohl 100 Konfirmanden eingesegnet wurden, so beanspruchte das Abendmahl unter Teilnahme der Familien ebenfalls mehrere Stunden. Wir hatten die Peterskirche früh vor acht Uhr betreten und kamen erst nach ein Uhr wieder zu Haus an, so daß wir alle dem nach Anordnungen der Mutter vortrefflich zugerüsteten Festmahl liebevollste Beachtung schenkten. Ich fühlte mich allerdings einigermaßen beengt durch meine Funktion als Mittelpunkt der Feier; diese egozentrifugale Neigung hat mich durch mein ganzes Leben hindurch beherrscht; gefeiert zu werden ist mir stets als der erste Grad der Folter erschienen. Aber am Konfirmationstage überwand ich mein Unbehagen rasch und bot allen Glückwünschen die Stirn. Onkel Gustav Rothe, der ein allezeit eingriffsbereiter und ausgezeichneter Tischredner war, brachte den ersten Toast auf mich aus. Der gipfelte in der als Familienhoffnung verbrämten Ermahnung, ich möge mich im Leben so bewähren, daß ich, wie meines Vaters Glaubensgenosse Heinrich Heine, von mir sagen könne:
Nennt man die besten Namen
so wird auch der meine genannt.[82]
So ipsissima verba[83] des Oheims.
Von meinen Paten, soweit sie noch lebten, und von Verwandten und Bekannten bekam ich zahlreiche Geschenke, darunter eine sehr wertvolle goldene Uhr. Es ist die, die ich meinem Sohn Heinrich geschenkt habe. Von meinen Eltern erhielt ich die große Römische Geschichte von Theodor Mommsen, dieses bisher unerreichte und wohl nie zu übertreffende Werk eines der sachkundigsten und gedankenreichsten Historiker, den die Kulturwelt besessen hat. Bekanntlich fehlt zwischen dem 3. und 5. Band der 4., dessen Manuskript bei einem Brande in Mommsens Wohnung vernichtet worden war. Die Lücke wird sich nie schließen lassen. Sind die Forschungsergebnisse vervollständigt, so fehlt das Ingenium Mommsens, um sie mit Rhythmus und Melodie der erschienen Bände in Übereinstimmung zu bringen.
Unter den anderen Büchergeschenken erfreute mich sehr eine schöne Ausgabe von Chamissos Werken; Spenderinnen waren die Schwestern Marie und Milly Kröer, deren ältere mit Hanna zur Schule ging. Da ich voraussichtlich später von beiden noch zu erzählen habe, will ich sie gleich hier vorstellen. Sie waren die Töchter eines Mitinhabers der noch jetzt in Leipzig bestehenden Weinhandlung Röhss & Kiesgen; die Mutter war eine Rumänin und in Rumänien waren auch die Töchter geboren worden. Kröers wohnten am Sophienplatz, kaum zwei Minuten von uns entfernt. Das trug dazu bei, den Verkehr recht lebhaft zu gestalten, ihm lag eine sich immer inniger gestaltenden Freundschaft zu Grunde, in die ich, gleichaltrig mit Milly, einbezogen wurde. Marie hatte ebenso wie ihr in frühem Jünglingsalter verstorbener Bruder Theodor einen ausgeprägt südländischen Typus; leider bediente sie sich wegen erheblicher Kurzsichtigkeit eines Klemmers – Brillen waren bei Mädchen nicht beliebt – wodurch der Eindruck der aparten Schönheit ihres Gesichts abgeschwächt wurde. Beide Schwestern waren musikalisch gut veranlagt; Marie wurde als Sängerin ausgebildet, ohne daß sie dann diesen Beruf ergriffen hätte. Sie sang aber oft bei uns und mein doch recht anspruchsvoller Vater hörte sie sehr gern. Die Kröermädchen gehörten also auch zu den Gratulanten bei meiner Konfirmation und zu den Gästen, mit denen ein fröhlicher Nachmittag verbracht wurde. Bei der Besichtigung der vielen Geschenke und namentlich der Bücher, die ich bekommen hatte, wurde an Hannas vor zwei Jahren gedeckten Konfirmationsbeschertisch gedacht und mit Vergnügen festgestellt, daß im Gegensatze zu ihr ich keine sogenannten Doubletten bekommen und deshalb nicht darüber zu grübeln hatte, wie ich überzählige, aber durch hineingeschriebene Widmungen umtauschunfähig gewordene Exemplare loswerden könnte, was doch in der Regel auch die edlen Spender kränkt. Hanna hatte nicht weniger als dreimal die als Konfirmationsgabe nahezu unvermeidlichen „Palmblätter“ von dem Dichterpfarrer oder Pfarrerdichter Gerok bekommen. Die Übereignung eines vierten Exemplars wurde nur dadurch abgewendet, daß die mir auf der Treppe begegnende Gratulantin auf Befragen erfuhr, daß sie bereits drei gleichgesinnte Vorgängerinnen habe, daraufhin zunächst betrübt und indigniert umkehrte. Des Wucherns dieser Palmblätter hatte sich damals eine hübsche Scherzfrage bemächtigt: Was ist der Unterschied zwischen einem innerafrikanischen Neger und einer deutschen Konfirmandin? Antwort: Die Konfirmandin bekommt die Palmblätter von Gerok, der Neger einen Gehrock von Palmblättern.
Nach der Konfirmation rückte ich Ostern 1885 in die Untersekunda auf. Obwohl sie schultechnisch noch zu den Mittelklassen gerechnet wird, unterscheidet sie sich doch von ihnen dadurch, daß die Schüler von den Lehrern nicht mehr geduzt, sondern mit Sie angeredet werden. Das bedeutet nach meiner eigenen Erfahrung einen wichtigen erzieherischen Fortschritt, weil es das Selbstbewußtsein und die Selbstachtung des Schülers stärkt. Er ist nun kein Schulkind mehr, sondern ein junger Mann. Ich glaube, dass man noch bessere Erziehungserfolge erreichen könnte, wenn man die Duzerei schon früher aufhören ließe. Auf der Thomasschule war es zu meiner Zeit üblich, daß man schon etwa von Unterterzia an mit Neueingetretenen sich nicht duzte, bis sie nach und nach sich völlig in die Klasse eingefühlt hatten, und Du-Nennerei mit Schülern anderer, auch der Parallelklassen, gab es wohl nur ganz ausnahmsweise. Im Alumnat galt allgemein der Sie-Komment. Das waren vernünftige Gebräuche. Das Duzen reißt die die einzelnen Persönlichkeiten gegeneinander abgrenzenden Schranken allzu leicht nieder und macht aus Individuen einen allgemeinen Mischmasch. Vielleicht gehe ich nicht zu weit mit der Annahme, daß die unverkennbar zunehmende Verpöbelung in Deutschland mit der Ausbreitung der Duzerei zusammenhängt. Als es noch Einjährig-Freiwillige gab, siezten sie sich nicht nur untereinander, bis sie in einzelnen Fällen Brüderschaft machten, sondern natürlich auch mit den anderen Soldaten. Im Naziheere hat es als selbstverständlich gegolten, daß alle Soldaten sich duzten, mochten sie auch durch Weltanschauung, Bildung, Beruf noch so scharf voneinander unterschieden sein und noch so deutlich jeder wechselseitigen Sympathie ermangeln. Das ist eine Verzerrung des hohen ethischen Begriffs der Kameradschaft ins Plebejische, eine dreiste Gleichmacherei von Ungleichen und Ungleichem. Du sollten Erwachsene einander nur dann sagen, wenn sie durch die Aufgabe des Sie eine nähere Verbundenheit ihrer Person zum Ausdruck bringen wollen. Umgekehrt ist der Übergang vom Du zum Sie seitens des Lehrers als Manifestation der Anschauung zu bewerten, daß nunmehr zwischen ihm und dem Schüler ein reziprokes Respektverhältnis bestehen soll.
So schien jedenfalls unser Sekundaner-Ordinarius Dr. Brause sein Verhalten uns gegenüber einzurichten. Er befahl nicht, er paukte nicht, er bevaterte uns auch nicht etwa, sondern er ließ uns fühlen, daß nach seiner Meinung jeder von uns um seiner selbst willen bestrebt sein werde, mit den ihm verliehenen Kräften und mit Fleiß etwas aus sich zu machen. Die Unterrichtsstunden ließ er gern in eine Unterhaltung mit der ganzen Klasse oder mit einzelnen Schülern übergehen; dabei hatte er keine Besorgnis, daß er das für die Klasse vorgeschriebene Pensum schmälere oder abändere, sondern verließ sich darauf, daß, wie er gleich von Anfang an als erforderlich bezeichnet hatte, wir uns den Lernstoff in Hausarbeit aneignen würden. Er brachte uns zum Bewußtsein, daß er Selbstständigkeit von uns erwarte, weil wir doch als Sekundaner zu selbstständigem Lernen berechtigt und bereit seien. Auf diesem Wege näherte er den Gymnasialunterricht dem akademischen Studium an, wie es damals geübt wurde, also dem entschiedenen Vorherrschen der eigenen Arbeit außerhalb des Hörsaals, des Seminars, des Praktikums. In der Literaturstunde äußerte er einmal, daß Uhland, mit dessen Gedichten wir uns beschäftigt hatten, auch einige Dramen geschrieben habe, die, weil sie nie aufgeführt würden, wenig bekannt seien. Sie reichten freilich an die klassischen Bühnenstücke nicht heran, aber seien doch durchaus lesens- und beachtenswert. Ob von ihm beabsichtigt oder nicht, jedenfalls hatte seine Bemerkung die Folge, daß einige unter uns sich mit diesen Dramen bekanntmachten. Das Schauspiel „Ernst, Herzog zu Schwaben“[84] gefiel uns dermaßen, daß wir es mit Rollenverteilung auswendig lernten. Maurenbrecher ergriff mit Wonne diese Gelegenheit zur Betätigung seiner Doppelfähigkeit als Tragöde und Regisseur. Als der Tag des alljährlichen Klassenspaziergangs heranrückte, schlugen wir Dr. Brause, der als Junggeselle in Gaschwitz in einer Villa an dem vom Bahnhofe nach der Harth führenden Wege wohnte, vor den Tag in der Harth zu verbringen. Er war sehr einverstanden. Wir holten ihn draußen am frühen Morgen ab, lustwandelten mit ihm in dem herrlichen, damals noch nicht durch Kohlenabbautendenzen und Durchgangsverkehr verschandelten Walde und überraschten ihn an einer vorher ausgesuchten, als Naturbühne sich eignenden Lichtung mit der schmucklosen Deklamation – von Aufführung konnte man beim Fehlen von Kulissen und Kostümen nicht sprechen – des Uhlandschen Dramas. Er war sichtlich bewegt über diesen spontanen Erfolg seiner Literaturstunde.
Auf der Thomasschule wurde von jeher – es wird noch darauf zurückzukommen sein – der Deutsche Aufsatz als wichtigster Prüfstein der Reife und des Standes der Allgemeinbildung gepflegt. Um durchdachte und ausgefeilte Arbeiten zu erzielen, betrug die Frist zwischen der Stellung des Themas und der Ablieferung schon von Sekunda an mindestens vier Wochen. Dr. Brause stellte in der Regel mehrere Themen zur Wahl. Aber seine Liberalität ging in einzelnen Fällen noch weiter, indem er statt der Bearbeitung eines Klassenthemas die Einreichung eines geeigneten anderen Gegenstandes gestattete. Als wieder einmal ein Hausaufsatz aufzugeben war, hatte Brause kurz vorher in einem fesselnden Vortrage über die Erzählungen aus 1000 und einer Nacht gesprochen und ihnen eine weit über den ästhetisch-künstlerischen Wert hinausreichende Bedeutung beigemessen. Ich gewann einige Mitschüler für den Gedanken, dem Lehrer als Thema für unseren Aufsatz vorzuschlagen: „Arabische Kultur zur Zeit Harun al Raschids, dargestellt nach den Erzählungen aus 1000 und einer Nacht“. Brause zeigte nicht nur Interesse, sondern helle Freude über unser Begehren. Mein Vater, der an meinen Aufsätzen stets regen Anteil nahm – wenn ich einen zensuriert zurückbekam, las er ihn sofort durch und übte Nachkritik – belehrte mich darüber, daß einer solchen Arbeit nur eine vollständige Ausgabe von 1001 Nacht das erforderliche Relief gewähren könnte und überraschte mich einige Tage danach mit dem mehrbändigen Gesamtwerke, das er durch den Buchhandel aufgetrieben hatte. Beim Lesen, auf das ich mich begeistert stürzte, sah ich bald ein, daß die Fülle des Stoffes mich erdrücken müsse und in der zur Verfügung stehenden Zeit sich nicht erschöpfen lasse. Deshalb vereinbarte ich mit den Mitarbeitern eine Aufspaltung des Themas. Einer sollte über Religion und Kultusgebräuche, ein anderer über Handel und Gewerbe, ein dritter über Sitte und Recht zur Zeit Harun al Raschids schreiben. Zwei dieser Teile, von Triepel und von mir, sind abgeliefert worden. Der dritte Autor konnte infolge Erkrankung nicht arbeiten. Was ich gewählt hatte, weiß ich nicht mehr. Brause zeigte sich beglückt. Mit Stolz teilte er der Klasse mit, er habe diese beiden Aufsätze dem Rektor Jungmann vorgelegt, der sowohl unseren Entschluß wie unseren Fleiß und dessen Ergebnisse gelobt und in der Lehrerkonferenz darauf hingewiesen habe.
Nicht nur um gutes Sprechen zu üben, sondern auch zur Bekämpfung von Ängstlichkeitserscheinungen, wie des Lampenfiebers, sollten Gedichte gelernt und vorgetragen werden. Auch diese Aufgabe veredelte Brause dadurch, daß er uns die Auswahl überließ. Ich wußte, daß ich – damals – über ein sicheres Gedächtnis gebot und daß ich auch gut vortrug. Aber weil ich hinter Maurenbrecher, hinter dem sehr gemütvoll sprechenden Heinrich Degen und hinter der eindruckssicheren, verstandesmäßigen Redeweise Triepels nicht zurückstehen mochte, wagte ich mich an eine Aufgabe, die sowohl die Stimme wie den Gedanken durch alle Register und Zonen hindurchführte, nämlich an Bürgers Leonore. Ich hatte ausgezeichnete Vortragskünstler zu Vorbildern: wie den blinden Rhapsoden Türschmann, der die altgriechischen Schauspiele mit in Ton und Temperament unübertrefflicher Charakterisierung der handelnden Personen rezitierte, ferner den Münchner Generalintendanten Emil[85] von Possart einen zwar recht eitlen und mehr als es für den Deklamator sich ziemt schauspielernden, aber durch feinstens abgestufte Tonmalerei zur Bewunderung zwingenden Sprecher. Was ich diesen Künstlern abgeguckt oder richtiger abgelauscht hatte, filtrierte ich in meine Leonore hinein. Vom Erzählerton – „der König und die Kaiserin, des langen Haders müde, erweichten ihren harten Sinn und machten endlich Friede[86]“ – bis zum hohnvollen Aufschrei am Schlusse
„Und unten zerschellt das Gerippe“
entlockte ich meinem Kehlinstument jede mögliche Modulation und lief alle Tempi vom gemächlichen Paßschritt des heimkehrenden Hennes bis zum wahnsinnigen Turmgekletter des seinem Leichentuche nacheilenden Skeletts. Schön wird’s wohl nicht gewesen sein, aber gewiß ungemein ergreifend. Die von herzlosen Rezensenten meiner Leistung gewidmete Beurteilung bediente sich lakonisch des vielleicht nicht ganz neuen Verschens:
Leonore fuhr ums Morgenrot
und als sie rum war, war sie tot![87]
Für den Lateinunterricht hatte Dr. Brause sich eine besonders reizvolle Aufgabenstellung erdacht. Er diktierte uns in lateinischer Sprache, bisweilen auch in deutscher Übersetzung, aus den Werken selten oder gar nicht in der Schule gelesener von ihm aber nicht genannter Schriftsteller, z. B. Vitruv, einzelne Sätze, in denen ein Wort oder mehrere wenig gebrauchte vorkamen. Gab er diese Sätze in deutscher Sprache, so nannte er diese ungewöhnlichen Vokabeln. Unsere Aufgabe bestand darin, die lateinischen Sätze ins deutsche zu übertragen, die deutsch diktierten gewissermaßen zurückzuübersetzen. Beides war in der Regel schwierig. Unsere Lösungsversuche boten aber Anlaß zu eindringenden und belehrenden Besprechungen im Unterricht. Jene Raritäten im Wortschatze wurden aber unsere Bundesgenossen. Viktor Schmidts Vater besaß das umfänglichste aller Wörterbücher der lateinischen Sprache, den Forcellini. Dieses Werk gibt bei jedem nicht ganz alltäglich gebrauchten Worte zahlreiche, manchmal sämtliche Fundstellen an. Wir, d.h. Viktor, Triepel und ich, brauchten also nur die Zitate in den Schriftstellern, die beim römischen Adolf fast sämtlich vorhanden waren oder sonst beschafft werden konnten, nachzuschlagen und konnten dann unseren Lehrmeister befriedigen. Wir spiegelten ihm nicht etwa vor, daß die von uns beigebrachten Sätze unser Eigengewächs seien, sondern wiesen die Fundstelle nach. Nur sagten wir zunächst nicht, wie wir zu ihr vorgedrungen seien. Als er bei der dritten oder vierten Aufgabe darauf bestand, lüfteten wir das Geheimnis um den Forcellini. Dr. Brause amüsierte sich über unsere Schlauheit und bemerkte: „Auf diese Weise haben Sie sich freilich die Übersetzung leicht gemacht. Aber wahrscheinlich haben Sie beim Suchen im Lexikon und in den Schriftstellern recht viel Latein zugelernt. Und das ist die Hauptsache.“ So dachte dieser wirkliche Pädagoge. Manch anderer hätte sich erbost und sich wohl gar hintergangen gefühlt.
Aus meinem privaten Leben während der Sekundanerzeit will ich eine Feriengeschichte erzählen. Mit sechs Kindern mit Altersunterschieden von mehr als elf Jahren während der Sommerferien zu verreisen, war für meine Eltern schwierig. Wir brauchten mehrere Zimmer, die in der allgemeinen Reisezeit oft an geeigneten, nicht zu weit von Leipzig entfernten Orten nicht zu beschaffen waren. Als ich Unter- oder Obertertianer war, verunglückte ein Familienaufenthalt in Bad Sulza dadurch, daß meine vier jüngeren Geschwister in dem Gasthause, in dem wir wohnten, an den Masern erkrankten. Die Unbequemlichkeiten, die sich daraus ergeben hatten, wirkten in den nächsten Jahren der Wiederholung der gemeinschaftlichen Familienreise entgegen. Meines Erinnerns ist Sulza ihr letztes Ziel gewesen. Von nun an wurden die Reisen der Eltern und Kinder zeitlich und örtlich aufgeteilt. Im Jahre 1885 wurde für mich eine günstige Gelegenheit ermittelt. Die Schwestern Kröer hatten bereits die großen Ferien des vorausgegangenen Jahres in Wildbach bei Stein-Hartenstein, am Nordrande des Erzgebirges, verbracht. Dort hatte die Frau des königlichen Oberförsters Gubener eine Pension begründet, die sie mit ihren mehreren erwachsenen Töchtern bewirtschaftete. Weil die Zimmer in der geräumigen Oberförsterei nicht ausreichten, war sehr bald in unmittelbarer Nähe ein besonderes Gästehaus errichtet worden. Herr Kröer hatte sich davon überzeugt, daß er der oberförsterlichen Familie seine beiden Töchter unbedenklich anvertrauen könne. Umsoweniger stieß der Vorschlag, mich mit nach Wildbach zu verfrachten, auf Widerstand bei meinen Eltern. Im Gegenteil, mir wurde sogar mein noch nicht ganz neunjähriger Bruder Carl mitgegeben, ein Vertrauensbeweis, auf den ich mir nicht wenig einbildete. Freilich fanden wir bei Gubener selbst wegen Überfüllung keine Unterkunft, wurden aber zwei Minuten von der Oberförsterei entfernt in einer Getreidemühle zum Wohnen und Schlafen untergebracht, während wir die Mahlzeiten bei Gubeners einnahmen und überhaupt tagsüber uns unter den Pensionsgästen aufhielten. Vor ihnen voraus hatten wir häufigen Genuß frischen Kuchens, weil der Müller, wie in jener Gegend üblich, auch das Bäckerhandwerk ausübte. Carlchen kam leider nicht auf seine Kosten. Nach einigen Tagen langweilte er sich und bekam Heimweh, so daß er heimgeholt werden mußte. Mir aber behagte der Aufenthalt in hohem Maße. Das Forstrevier Wildbach liegt im erzgebirgischen Walde, den ich fast überall liebgewonnen habe. Einige Jahre vor der Reise nach Wildbach hatten die Eltern mit Hanna und mir teils zu Fuß, teils zu Wagen eine Kammtour unternommen, wohl von Gottesgab über Mariaschein und Rehefeld bis zum Mückentürmchen. Seitdem hatte ich den lebhaften Wunsch, wieder ins Erzgebirge zu kommen. Diesmal lernte ich es von andrer Seite kennen als auf dem Kamm. Wildbach liegt erheblich niedriger, die Gegend entbehrt auch des Urwaldcharakters, bietet aber allerlei Abwechslung. Es gibt dort zwischen den Bäumen einen kleiner Weiher, auf dem wir im Kahne fahren konnten. Von einer Felsenhöhe blickt man auf ein in der Mulde angelegtes Wehr. Dort oben stand ich manchmal mit dem Oberförster, der mich in der Kunstfertigkeit unterwies, mit der Flinte Fische zu schießen. Dort, wo die dicht bewaldeten Felsen nach der der tief unten fließenden Mulde abfallen, liegt versteckt die Prinzenhöhle, in der Kunz von Kaufungen die geraubten sächsischen Prinzen einige Nächte verborgen gehalten hat. Bisweilen nahm der Oberförster mich an seinen abendlichen Stammtisch in der Bahnhofswirtschaft zu Niederschlema mit, die wir in etwa 20 Minuten auf Waldwegen erreichten. Von Niederschlema aus gelangte ich auch bequem nach Schneeberg und nach Aue, damals einem kleinen Gemeinwesen mit kaum 2000 Einwohnern, heute einer wichtigen, von 30000 Menschen bevölkerten Industriestadt. Wildbach bot mir also neben der Erholung, die ich recht bald spürte, allerlei Kurzweil. Sie erreichte aber ihren Gipfelpunkt beim Schützenfest, daß auf einem Wiesenplan vor dem Gasthofe abgehalten wurde. Der Oberförster durfte als Standesperson dabei nicht fehlen. Aber man rechnete auch auf die Beteiligung der Pensionsgäste, die als städtische Kapitalisten sich nützlich machen sollten. Auf einem von zwei Plätzen wird der Schützenkönig durch Büchsenschießen nach der Scheibe, auf dem andern die Schützenkönigin durch sogenanntes Schießen, eigentlich Werfen, nach einem hölzernen Adler mit dem Stechvogel ermittelt. Daran wollten die jungen Mädchen der Gubenerschen Pension sich beteiligen. Ich weiß nicht mehr, wer auf den übermütigen Vorschlag verfiel, ich solle zu gleichem Zwecke als Mädchen verkleidet werden. Der Gedanke wurde stürmisch begrüßt. Man zog mir ein elegantes rosafarbenes Sommerkleid, das Maria Kröer gehörte, an; setzte mir zur Verdeckung des kurzen Haupthaars einen häubchenartigen Hut auf und stattete mich mit weiblichen Strümpfen, ebensolchen Schuhen und Handschuhen aus. Etwas Schminke und Bemalung entfernte aus meinem Antlitz, was mich als Angehörigen des starken Geschlechts hätte verraten können. So ward aus mir eine aparte Frauenschönheit. Als wir unter der Ägide des Oberförsters uns nach der Festwiese begaben, machte jemand auf die Notwendigkeit aufmerksam, mich vor Gesprächen mit den dörflichen Teilnehmern z u bewahren, damit nicht vorzeitige Entdeckung stattfinde. Milly Kröer empfahl den praktikablen Ausweg, mich als eine der deutschen Sprache nicht mächtige Ausländerin auftreten zu lassen. So wurde denn in die Liste der weiblichen Schützen eingetragen: Miss Hellen Shepherd aus Bredford. Mein vollendet damenhaftes Gehabe und das scheinbar respektvolle Benehmen meiner Begleiterinnen lenkten bald die Aufmerksamkeit der Menge auf mich. Aber Verdacht schöpfte wohl niemand. Ich verhielt mich beim Werfen des Stechvogels genau so ungeschickt wie alle Konkurrentinnen aus Stadt und Land. Ein eigentliches Zielen ist mit einem solchen Instrument gar nicht möglich. Man zieht es am Strick zurück und läßt ihn dann los, so daß der Stechvogel auf den hölzernen Adler irgendwo auftreffen und bei genügender Wucht des Anpralls ein Stück abbrechen muß. Königin wird, wer, nachdem alle einzelnen Teile heruntergefallen sind, das übrig gebliebene Mittelstück, selbst in dieser ländlichen deutschen Gegend corpus genannt, so trifft, daß es herunterstürzt. Weil die Würde der Schützenkönigin mit gewissen Ausgaben, zunächst für die freie Zeche aller Mitbewerberinnen, verbunden ist, wird, was ich nicht wußte, die Anwärterin auf die Schützenkrone heimlich aus dem Kreise der begüterten Bauerntöchter ausgesucht und dann wird beim Preisschießen ein wenig gemogelt. Auch an jenem denkwürdigen Tage im August 1885 wurde dasselbe Spiel gespielt. Der Holzadler war aller Gliedmaßen und Federn schon beraubt, als die Reihe beim Schiessen wieder an die Kronenanwärterin kam. Unmittelbar vorher machte das den Wettbewerb leitende Vorstandsmitglied sich unter irgendeinem Vorwande an dem kahlen corpus zu schaffen; wie ich später erfuhr, um den Nagel zu lockern. Aber die geheime Wahlkönigin zierte sich zunächst noch ein wenig. Sie ließ den Leitstrick des Stechvogels so langsam und sanft aus ihrer Hand gleiten, daß das Geschoß nur ganz leise und schwächlich das corpus berührte, das am Nagel hängen blieb. Alle Eingeweihten kicherten. Ich aber in meiner Arglosigkeit und Unbekümmertheit dachte an keinen Abwehrerfolg, sondern gab dem Stechvogel normale Flugbahn und Flugkraft: Wie er gar nicht anders konnte, prallte er auf das corpus auf, ein Krach, es stürzte herunter, ein allgemeiner Jubelschrei, Tusch der schon in Bereitschaft stehenden Dorfmusikanten, Proklamation des Fräulein „Miß Schäfert aus England“ zur Schützenkönigin 1885 des Schützenvereins Wildbach! In die Hoch- und Hurrahrufe drang die kräftige Stimme des Oberförsters: „Miss Shepherd dankt für die ihr erwiesene Ehre; ich werde ihr aller Erforderliche auseinandersetzen. Auf Wiedersehen heute abend zum Schützenball.“ Damit führte er alle seine Schäflein heim zur Oberförsterei, mich als Leithammel vorn. Dem alten Herrn war das Abenteuer jetzt etwas bedenklich geworden. Daß ich an dem Schießen der Weiblichkeit mich beteiligt hatte, besagte nicht viel; das war ein Spaß, der der Vereinskasse sogar ein paar Mark einbrachte. Aber die wenn auch unbeabsichtigte Abhalfterung der Kronprätendentin konnte ebenso von ihr wie von dem ganzen Verein übel vermerkt werden. Wildbach hatte ja nun ein Jahr lang keine veritable Schützenkönigin mit Residenzpflicht im Gemeindebezirk. Um alles Unheil abzuwenden, äußerte Gubener, müsse mein Vater sich meine Schützenkrone etwas kosten lassen. Zur Betätigung solchen Sühnewillens, ließ der Oberförster sofort dem Schützenvorstand mitteilen, die neue Königin lade nicht nur die weiblichen, sondern auch die männlichen Schützen zu einem Glase Bier und anderen Erfrischungen auf den Abend in den Gasthofsaal ein und werde selbst dorthin kommen. Mit leicht beklommenem Herzen traten wir abends den Sühnegang nach dem Schauplatz des Schützenballes an, ich nunmehr in meinem besten Anzug. Wir trafen eine bereits aufgeklärte und keineswegs zornige Gesellschaft an. Ich wurde mit lebhaften Zurufen empfangen: „Da kommt der Miß, die neue Schützenkönigin.“ Gubener machte mich mit dem Vereinsvorstand bekannt, dem ich meine Unschuld an dem Meisterschuß beteuerte und den ich wegen der ungewollten Usurpation des hohen Titels um Verzeihung bat, die mir vollkommen und aufrichtig gewährt wurde. Dann wandte ich mich zu der verhinderten Königin, die mir auf meine mit bezwingender Liebenswürdigkeit angebrachte Ansprache ihre Huld nicht vorenthielt. Daß sie nicht die ihr zugedachte Würde erschossen hatte, interessierte sie in viel geringerem Maße als meine Nachmittagstoilette, die ich so natürlich getragen hätte. Wäre das rosafarbige Kleid mein Eigentum gewesen, hätte ich es ihr wahrscheinlich zur freundlichen Erinnerung schenken müssen. Aber nun beschränkte ich meine Huldbeweise auf einige Rundtänze. Mir wären sie leicht gefallen, dagegen war meine Partnerin aus kräftig bäuerlichem Geschlechte recht bodenständig. Die anwesenden Burschen trugen mir nichts nach. Sie sprachen dem Freibier kräftig zu und holten mich immer wieder an die Theke zum Umtrunk. So lief mein zweites gesellschaftliches Auftreten als Damenimitator nicht nur glimpflich ab, sondern zum allgemeinen Vergnügen. Am Tage danach schickte der Gasthofswirt die Rechnung über den Konsum der Festteilnehmer. Erschütternd war sie nicht, aber sie wies einen uns zunächst nicht durchsichtigen Posten auf: „8 L Licer.“ Wohl erst mit Hilfe des Schulmeisters wurde die Sinnermittlung gewonnen. Gemeint war: „acht Liter Likör.“
Im Jahre darauf fragte Gubener schriftlich an, ob ich zum Schützenfeste wieder kommen werde. Es sei beabsichtigt, mich als Königin im feierlichen Zuge einzuholen! In solcher Wärme schlugen mir die Herzen meiner Wildbacher Untertanen entgegen! Aber ich lehnte ab. Einerseits packte mich meine Mittelpunktsfurcht, zum andern wollte ich das allerliebste Erlebnis auch nicht des poetischen Hauches der Einmaligkeit berauben. Ich bin also Königin für einen Tag geblieben.
Das Schuljahr 1886-87 in Obersekunda hat in meinem Gedächtnis kaum bemerkenswerte Spuren hinterlassen, abgesehen davon, daß als neues Lehrfach die hebräische Sprache hinzutrat. Sie war ebenso wie Englisch wahlfrei; weil man sich aber nur eine von beiden wählen durfte, entschied ich mich für Hebräisch in der Überlegung, daß ich die Gelegenheit zur Erlernung der englischen Sprache später leicht finden würde. Mein Entschluß war falsch. Erstens bin ich schmachvoller Weise nie dazu gekommen, englischen Unterricht zu nehmen, so daß ich jetzt vor meinem Ende zwar englische Zeitungen, Briefe und Bücher mit alltäglichem Wortschatz notdürftig lesen, aber auch nicht die bescheidenste Unterhaltung führen kann. Zweitens aber haben mich die hebräischen Kurse enttäuscht. Ich habe zwar einen Einblick in den von allen mir bekannten europäischen Sprachen abweichenden Aufbau der semitischen gewonnen, erkenne nun auch die vielen in der deutschen Umgangssprache gebrauchten Worte und Redewendungen, die aus dem Jüdischen des Alten Testaments eingedrungen sind. Aber eine auch nur mäßige Erlernung der Sprache ist mir nicht gelungen. Die Ursache finde ich nicht allein und nicht einmal vorherrschend in der fraglos außerordentlichen Schwierigkeit, auf die, wie ich früher erzählte, der Gymnasiallehrer Hecker als wertvollen Behelf zur Abscheidung der brauchbaren von den nicht geeigneten Gymnasiasten sich berufen hatte, sondern in den Mängeln des Unterrichts. Ihn erteilte in Obersekunda und Unterprima ein Religionslehrer Prof. Hüllemann, gewiß ein ganz braver Mann, aber eine schnurrige Type. Er hatte uns schon in den Unter- und Mittelklassen durch sein allen Schwunges entbehrendes hölzernes Wesen angeödet. In seinen Stunden wurde die Zeit großenteils durch das Abfragen von Sprüchen und Gesangbuchliedern hingebracht, die er als Hausarbeit hatte auswendig lernen lassen. Wenn dann ein Schüler, der das Lied Nummer 354 oder 526 aufsagen sollte, es nicht sofort herunterschnurrte, so ertönte die stereotype Formel: „Setz Dich, schreib ab Vers 1 bis 3.“ Sie erklang immer in demselben Tonfall und drang infolge ihrer häufigen Wiederholung zu tief in unsere Gespräche auch außerhalb der Schule ein, daß wir jeden Gesprächspartner, der auf irgendeine Frage, beispielsweise nach der Abfahrtszeit eines Eisenbahnzuges, nicht Auskunft geben konnte, die Melodie anzuhören gaben: „Setz Dich, schreib ab Vers 1 bis 3.“ Dieser Hüllemannsche Reim trägt noch heute Früchte in meiner Familie.
Im hebräischen Unterricht verstand Hüllemann es in keiner Weise, uns die Wege zum Verständnis zu bahnen. Er ließ uns einfach aus der Grammatik von Hollenberg Abschnitt für Abschnitt auswendig lernen und die Sätze aus dem Übungsbuche übersetzen. Was er uns Obersekundanern, die doch gewöhnt waren in den Geist fremder Sprachen eingeführt zu werden, bot, hätten wir uns zur Not auch ohne ihn aneignen können, wiewohl gerade Hebräisch sich zum Selbstunterricht schlecht eignet. Mindestens in jeder zweiten Stunde gab er eine Extemporale, aber nur über Formen, nicht über Sätze. Diese öde Arbeit benutze er übrigens zu einer Ausforschung, die ebenso heimtückisch wie albern war. Sein Name unter den Schülern ging nur als „Hüllepietsch“ von Mund zu Munde. Das wußte er und war darüber erbost. Um herauszubekommen, welche Schüler sich an dem Verbrechen dieser Namensverschimpfierung beteiligen, ließ er im Extemporale die hebräische Verbalform des deutschen Imperativs „Bekleidet“ schreiben. Sie ist, aus dem Stamm labesch gebildet, mit hillebiesch zu übersetzen
Wer diese Form richtig niederschrieb, galt als Mitwisser und Mitbenutzer des Übernamens Hüllepietsch überführt und zog sich damit schlechte Zensuren und die Mißbilligung des Namensträgers zu, wenn er sie sich nicht schon vorher erworben hatte. In Oberprima wurde der Unterricht von dem Professor Dr. Eduard König erteilt. Mir hatte aber Hüllemann dieses nicht obligatorische Studium dermaßen verleidet, daß ich ausschied, zumal ich mich auf die für das Abiturium notwendigen Prüfungsfächer zu konzentrieren genügend Veranlassung hatte.
Fakultativ waren auch Lehrgänge in Gabelsbergerscher Stenographie, die wohl schon in früheren Klassen begonnen hatten. Ein ausgezeichneter Lehrer, Schuldirektor Röhn, förderte uns recht weit, aber meine Zensuren waren besser als meine Leistungen, weil die letzteren durch einen Trick geschönt wurden. Diktierte nämlich Röhn eine Probearbeit, die stenographisch aufzunehmen und nach Durchsicht abzuliefern war, so schrieb ich sie nicht ganz in Stenographie nieder, sondern benutze nur einige Sigel und sonstige Abkürzungen, hielt den Faden in Kurrentschrift fest und baute im übrigen auf die Zuverlässigkeit meines Gedächtnisses, das, unterstützt durch die Notizen, den präzisen Wortlaut des Diktats für die kurze in Betracht kommende Zeit getreu bewahrte. Ich fertigte in aller Ruhe eine saubere Übertragung des Diktats in Stenographie an, konnte mir dabei die fehlerlose Schreibweise weit gründlicher überlegen als beim Nachschreiben und deshalb eine gute Arbeit abgeben. Was ich wirklich leistete, genügte für die in der Gymnasialzeit gegebenen Verwendungsmöglichkeiten vollkommen, aber ein richtiger Stenograph bin ich nie geworden, habe es auch nie werden wollen und meine Unzulänglichkeit nie vermißt. Die Stenographie ist gewiß auch außerhalb des Kreises der Parlamentsstenographen für manche Berufe eine wertvolle, für einige eine notwendige Hilfsfertigkeit, besonders für solche Bureauarbeiter, die fremde Diktate rasch mit peinlichster Genauigkeit aufzunehmen haben. Bei anderen Aufgaben, die Einsatz eigener geistiger Tätigkeit erfordern, kann sie eher nachteilig werden. Der Student, der den Vortrag des Professors nachstenographiert, verläßt das Kolleg in der Regel mit einer nur dumpfen Erinnerung an das Gehörte. Wer in Kurrentschrift mit eigenen Abkürzungen nachschreibt, muß nachdenken, um aus den Worten des Professors die Gedankengänge klar herauszuheben und doch nur mit demjenigen Grade von Ausführlichkeit zu Papier zu bringen, der ohne Stenographie erreichbar ist. Eigene Gedanken in Stenographie niederzuschreiben, Briefe oder gar Literatur in ihr entstehen zu lassen, ist mir immer als Verstoß gegen guten Lebensstil erschienen. Das ist eine meiner Schrullen, die mir sicherlich die Verachtung aller passionierten Kurzschreiber eintragen würde. Aber solchen werden diese Zeilen doch wohl nicht vor Augen kommen.
Den Deutsch-Unterricht gab in Obersekunda ein Dr. E. Oehler. Mit ihm fand ich keinen Kontakt. Von jeher waren meine Aufsätze gelobt und mit besten Nummern zensiert worden, aber dem neuen Lehrer gefielen sie wohl schon in ihrem gedanklichen Gehalt nicht. In seiner äußeren Erscheinung ganz teutscher Recke, trieb er es mir mit der Überbewertung nordischer Mythologie und nordisch ausgerichteter Poesie etwas zu weit. Heute möchte ich in ihm einen Vorläufer des ein halbes Jahrhundert später ins Kraut geschossenen Kultus des nordischen Menschen sehen, wenn ich auch weit davon entfernt bin, ihn der Selbstgefälligkeit, Überheblichkeit und Intoleranz zu bezichtigen, die in unseren Tagen diese politisch-rassische Geschmacksverwirrung gekennzeichnet haben. Seine Angeleimtheit ans Nordische zeigte sich auch, als er, wie wohl für Obersekunda lehrplanmäßig vorgeschrieben war, als Ersatz für einen deutschen Aufsatz uns die Aufgabe stellte, ein selbstverfaßtes Gedicht einzureichen. Wohl nicht nur Dr. Brause, sondern jeder einsichtige Pädagog hätte die Wahl des Stoffes und der Darstellungsform dem zum Dichten angewiesenen Schüler überlassen. Nicht so Oehler. Als Thema gebot er „Gudruns Klage“[88] und bestimmte Zeit und Ort der Handlung dahin, daß Gudrun kurz vor der von ihr nicht erwarteten Landung ihrer Befreier eines Morgens in Liedform ihrem Schmerz Ausdruck gab. Ich vermochte mich in das Seelenleben des nordischen Fräuleins so wenig hineinzufühlen, daß ich mir wie ein Gelegenheitsdichter vorkam, der auf Bestellung und gegen Zeilenhonorar zu Festen und Gedenktagen ihm ganz fremder Personen tönende Tafellieder und andere Carmina fabriziert. Erst in der letzten Nacht vor dem Ablieferungstermin schrieb ich ein Dutzend oder mehr einwandfrei gereimter Sechszeiler in sauberem Deutsch nieder, die, von einem leidlich begabten Skalden unter Musik gesetzt, die Königstochter und Heldenbraut Gudrun ganz gut ins Morgenrot hätte hinaussingen können, ohne sich etwas zu vergeben oder in Widerspruch mit ihrer durch die Sage geprägten Individualität zu treten. Aber mein Kunstgesang fand kein Echo in Oehlers Brust. Ich bekam ihn mit einer mäßigen Zensur und der griesgrämigen Kritik zurück: „Zu wenig Tatsächliches; sonst ziemlich getroffen, wenn auch ohne besondere Vorzüge.“ Es hätte dieser unliebenswürdigen Rezension nicht bedurft, um mich für ewige Zeiten von dem Trosse der künftigen Barden fernzuhalten.
Auch vom Schulbetrieb in Unterprima weiß ich nichts Wesentliches groß zu berichten. Als die letzte Klasse, in der noch neuer Lernstoff angesammelt wird, weil die Oberprima grundsätzlich für die Ausreifung der während der ganzen Gymnasialzeit in den Geist gelegten Wissenskeime reserviert bleiben soll, erforderte sie viel Arbeit und Anstrengung, wurde aber ohne Hindernis durchlaufen. In meinem Privatleben aber ereignete sich allerlei. In den Pfingsttagen 1887 starb meine Großmutter Constanze Klein in Altenburg, wo sie einige Zeit bei Rothes krank gelegen hatte. Da sie auf dem Leipziger Johannesfriedhof in der Grabstätte des Großvaters beigesetzt werden sollte, wurde die Leiche hierher überführt. Zu diesem Zwecke hatte sich der jüngere Bruder Arthur meiner Mutter von seinem Wohnorte Nippes bei Köln nach Altenburg begeben. In den frühen Morgenstunden des 31. Mai 1887 hielt vor dem von uns bewohnten Hause der Transportwagen einer Beerdigungsgesellschaft, in dessen vorderem Teile der Sarg stand, während aus der angebauten Chaise ein schwarz gekleideter schwarz behandschuhter und einen umflorten Cylinder tragender Herr stieg – mein Onkel Arthur. Sowohl seine Trauerstimmung wie die schlaflos verbrachte nächtliche Fahrt verliehen seinem schmalen Gesicht einen jammervollen Ausdruck. Dieses trübselige Bild hat sich mir leider unzerstörbar in die Erinnerung eingegraben. Dazu hat vielleicht auch beigetragen, was ich von der Persönlichkeit und den Schicksalen des unter so unfrohen Umständen plötzlich auftauchenden Onkels im Laufe der Jahre erfahren hatte. Ein weicher, wohl energieloser Charakter, hatte er die von seinem Vater ihm gewährten Ausbildungsmöglichkeiten vernachlässigt und war in kein geregeltes Berufsleben eingetreten. Nach dem Tode seines Vaters war er mehr und mehr mit seinen Geschwistern zerfallen, nur meine Mutter ließ ihm dann und wann eine Beihilfe zukommen und hielt durch meine Großmutter einen spärlichen Verkehr mit ihm aufrecht. In späteren Jahren hatte er sich aufgerafft und schließlich bei der Eisenbahn eine kleine Bürostellung erlangt, die ihn und seine Familie – er hatte außer seiner Frau wohl drei Kinder, von denen, wie er mir erzählte, der älteste Sohn schon eine technische Schule besuchte, – leidlich ernährte. Hanna und ich empfanden Mitleid mit dem gutmütigen, sanften Manne, aber eine solche Gemütsreaktion im Verhältnisse von Nichte und Neffen zum Oheim wird von einer peinlichen Verlegenheit gefärbt. Am Tage nach der Trauerfeier reiste der Onkel wieder nach Hause. Ich habe ihn nie wiedergesehen, aber viel später, als ich bereits Rechtsanwalt war, durch einen meiner Kollegen aus Köln in einer fatalen Angelegenheit wieder von ihm gehört, die ich ordnen konnte. Seine ganze Familie ist uns unbekannt geblieben. Auch mein Vetter Dr. Karl Klein, der einzige Sohn des Bruders meiner Mutter, Dr. August Klein, hat mir noch in den allerletzten Jahren gesagt, daß ihm nichts über die Familie Arthur Klein bekannt ist. So rasch und vollständig lösen sich oft die natürlichen Sippenbande.
Zur Beerdigung meiner guten Großmutter hatte sich auch Tante Elise Rocholl aus Minden eingefunden. Vor der Rückreise lud sie mich ein, wie Hanna 2 Jahre vorher, einen Monat bei ihrer Familie zu verleben. Meine Eltern waren ebenso wie ich sehr damit einverstanden, zumal ich einer Erholung bedürftig erschien; der Tod der Großmutter hatte mich tiefer ergriffen, als für meine nicht eben robuste Konstitution gut war. Urlaub vom Gymnasium wurde mir anstandslos gewährt. Ich trat wohl im Juni die Reise nach Minden an, die meinen dritten Aufenthalt dort einleitete. Zum ersten Male war ich 1870 dort gewesen. Als damals im Frühsommer mein Vater seinen Vater, der im Wildbad im Schwarzwald eine Kur gebrauchen mußte, dorthin begleitete, begab während seiner Abwesenheit meine Mutter mit Hanna und mir sich nach Minden zum Besuche der jung verheirateten Schwester. Von diesem meinem ersten Auftreten in Westfalen konnte ich keinerlei Eindrücke mitnehmen, ich war kaum 8 Monate alt. Erfahren habe ich nur, daß, wie der Vater in Wildbad, auch die Mutter in Minden vom Kriegsausbruch überrascht wurde, und, weil zunächst der zivile Eisenbahnverkehr stockte, noch einige Zeit dort bleiben mußte. Die Heimreise soll dann recht langwierig und mühselig verlaufen sein.
Zum zweiten Male war ich Minden gewesen, als wir von Düsseldorf nach Leipzig zurückkehrten. Wahrnehmungen, die ein normales Kind im Alter von fünf Jahren macht, können sich zu unverwischbaren Erinnerungen verdichten. Eine solche wenigstens haftet noch jetzt in mir. Kurz vor dem Geburtstage meiner Kusine Lottchen, des Kindes, das im nächsten Jahre an Diphtherie starb, hatte ich einen Kreisel geschenkt erhalten, einen schönen glänzend braun lackierten, mit silbrigen Ringen gezierten Kreisel, so überwältigend schön, daß ich, um seine Schönheit nicht zu beschädigen, ihn nicht peitschen mochte. Ich trug ihn in der Tasche oder in der Hand mit mir herum. Als ich Lottchens Geburtstagstisch betrachtete, und wohl eins ihrer Geschenke anfaßte, legte ich meinen Kreisel für einen Augenblick aus der Hand. Da kam Lottchen dazu, sah ihn, und rief jubelnd aus: „Ach, der schöne Brummküsel. Den hatte ich noch gar nicht gesehen! Aber über den freue ich mich!“ Mir gab es einen Stich ins Herz! Was das Kousinchen für eins der Geburtstagsgeschenke hielt, war doch mein Kreisel. Mein Kreisel gewesen! Denn ich konnte doch unmöglich den Irrtum aufklären. Dadurch hätte ich Lottchen betrübt. Der Kreisel lag zwischen ihren Geschenken, ich selbst hatte ihn dazugelegt. Ich schlich mich beiseite, meinem in einen westfälischen Brummküsel umgetauften Kreisel einen schmerzlichen Abschiedsblick zuwerfend.
Dieser Verlust ist mir wahrscheinlich deshalb so unvergeßlich geworden, weil es die erste Verminderung meiner Habe war. Inzwischen hat das Leben mir den Satz eingetrichtert: „Wer besitzt, der lerne verlieren – und vergessen!“[89]
Die dritte Reise nach Minden im Frühsommer 1887 verlief schmerzlos. Rocholls bewohnten eine in einem großen Garten gelegene Villa, die der Onkel wenige Jahre vorher hatte erbauen lassen; ich bezog eins der mehreren Gästezimmer, von dessen Fenstern sich ein Blick in einen kleinen Park, genannt das Glacis bot. Das ganze Haus atmete Behaglichkeit. Der Onkel, der ursprünglich mit einem Bruder die vom Vater ererbte Tabakwarenfabrik[90] betrieben hatte, war dann als Komplementär in ein unter der Firma Glasfabrik Wittekind in der Rechtsform der Kommanditgesellschaft begründetes Unternehmen übergetreten, das er mit großem Erfolge führte. Ich begleitete ihn oft nach der jenseits der Weser gelegenen Fabrik, wo ich mich interessierende Einblicke in die Glasbläserei bekam. Um riesige Schmelzöfen standen, wegen der kaum erträglichen Hitze nur mit einer ganz leichten Hose bekleidet, am Oberkörper schwarzbraun gebrannte Männer, die ihren Atem durch lange Rohre in das an deren Ende hängende Schmelzgut jagten, um es dann in die metallene Form hineinzupressen, die es als Flasche verließ. Ob meine Beschreibung des Herstellungsprozesses einen Fachmann befriedigen würde, weiß ich nicht. Ich denke aber, daß das durch Sachkenntnis nicht verbildete Auffassungsvermögen der Laien zu einer hinreichend deutlichen Vorstellung vordringen wird. Dann wird auch meine Beobachtung verständlich werden, daß diese Glasbläser, sobald sie ihren Arbeitsplatz verließen, ein krankhaft elendes Äußere zeigten. Die Glut im Arbeitsraum und das Blasen in die heißflüssige Glasmasse mußte zu einer Überbeanspruchung der Lunge führen. Die Arbeiter überlebten in der Regel nicht das 35. Jahr. Weil sie das wußten, lebten sie, ähnlich wie fortwährend dem Tod ins Auge sehende Landsknechte und Galeerensklaven, ein ungehemmtes Triebleben ohne Ausblick auf höhere Ziele und ohne Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber der menschlichen Gesellschaft. Während meines Aufenthaltes in Minden ereignete es sich, daß anläßlich eines belanglosen Streites einer dieser Burschen den Gegner die an dem Rohr anhängende, weißglühende Glasmasse in das Gesicht schlug und ihm dadurch grauenhaft schmerzhafte, todbringende Verletzungen zufügte. Völlig unbekümmert wegen dieser Tat ließ er sich abführen; die anderen arbeiteten gleichgültig weiter.
Ich bin nicht darüber unterrichtet, ob in den seither verflossenen fast sechs Jahrzehnten die Glasbläserei zu menschenwürdigeren Fabrikationsmethoden, als ich damals kennen lernte, übergegangen ist.
In erfreulichem Gegensatz zu den Eindrücken bei der Fabikarbeiterschaft, die mich in Berührung mit sozialen Problemen brachten und darüber nachdenken ließen, standen die häufigen Ausflüge in die Umgebung. Mein stets unternehmungslustiger Führer war ein Bruder meines Onkels, Fritz Rocholl, dem der Geschäftsgang der vom Vater ererbten Zigarrenfabrik Zeit genug für arbeitsfernes Privatleben beließ. Er war ein in der Wolle gefärbter Westfale. Die Porta Westfalica galt ihm als westfälisches Nationalsymbol, der Wittekindsberg als westfälische Kultstätte, die Bückeburger Tracht als ehrwürdiges westfälisches Brauchtum, die Stippgrütze bei deren bloßen Anblick jeder mitteldeutsche Mensch Magenkrämpfe bekommt, als westfälische Nationaldelikatesse in fast höherem Grade als der westfälische Schinken. Selbst das ekelhaft fad schmeckende übelriechende Wasser der Quellen in Bad Oeynhausen wurde mir, weil westfälisch, als göttlicher Nektar kredenzt. Aber diese Schrullen des Onkels Fritz störten mich nicht. Ich befreundete mich, abgesehen von der Stippgrütze, mit allem, was die „rote Erde“ bot, auch wenn es weder rot noch Erde war. Namentlich mit meinen vier Kousinen. Mit Elise, der ältesten unter ihnen, die nur drei Jahre jünger war als ich, hat mich bis zu ihrem erst 1945 erfolgtem Tode eine besonders innige Zuneigung verbunden, obwohl wir uns jahrzehntelang nicht mehr gesehen haben. Als die für den Mindener Aufenthalt vorgesehenen vier Wochen verstrichen waren, reiste ich in Etappen zurück, das heißt, ich unterbrach die Fahrt in Hannover, Braunschweig, Magdeburg. Das war wohl der erste Ausbruch meiner später recht intensiv auftretenden Neigung, Städtebilder in mir zu sammeln. Dabei habe ich nicht gebädeckert, sondern im Gegenteil gerade die mehrbesternten Wichtigkeiten der Reisebücher häufig übersehen. Aber doch pflanzte jede von mir um ihrer selbst willen bewanderte Stadt ein gewisses Charakterbild mir ein, das wohl häufig unrichtig gewesen sein mag, aber eben mir gehörte und deshalb zu gelten hatte. Übrigens ist es denn ganz verkehrt, wenn ich seit 1887 in Magdeburg eine der ausdruckslosesten menschlichen Siedlungen erblicke?
Der Winter von 1887 zu 1888 bekam sein Gepräge durch die Tanzstunde. Üblich war damals in Leipzig für junge Menschen unserer gesellschaftlichen Schicht die Teilnahme an Tanzlehrkursen, die von tüchtigen Lehrern und Lehrerinnen in Hotelsälen und ähnlichen Räumen abgehalten wurden, wie auch heute. Aber die Frau des badischen Reichsgerichtsrats Wielandt, dessen Sohn Wilhelm die Parallelklasse meiner Unterprima auf der Thomasschule besuchte, erstrebte für ihn mehr als nur Erlernung der gebräuchlichen Tänze. Im Zusammenhange mit der Tanzstunde sollten die jugendlichen Teilnehmer Sicherheit in der praktischen Anwendung der guten Umgangsformen auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Verkehrs erlangen. An die Stelle der Unterrichtsstunde im Hotelsaal trat die allwöchentliche Tanzgesellschaft in Privathäusern. Es gelang Frau Wielandt, einen sorgfältig ausgewählten Kreis von 12 jungen Mädchen und ebensoviel Jünglingen zu bilden, deren Elternhäuser reihum die „Tanzstunde“ bei sich aufnahmen. Den Unterricht erteilte ein Ballettmeister von Pelchrzim. Nach einstündiger Dauer fand Abendessen statt. Danach wurde wieder getanzt. In der Regel waren auch auf Einladung der jeweiligen Hausherrin einige Gäste, nicht nur im Alter der Tanzschüler, sondern auch „Respektspersonen“ anwesend; man mußte sich also „benehmen“. Dem Verfasser des einstmals so berühmten Buches „Der gute Ton in allen Lebenslagen“[91] wäre wenig zu wünschen übrig geblieben, wenn er die zweimal zwölf Tanzstundenteilnehmer im Verkehr mit den älteren Herrschaften und untereinander beobachtet hätte. Der Verkehr untereinander: seinen Grundzug mit einem Wort zu bezeichnen, das jetzt, nach 60 Jahren noch begriffen wird, ist nicht leicht. Ich finde in meinem Sprachschatz kein passenderes als: Ritterlichkeit. Wir jungen Männer traten den Mädchen weder als Herren der Schöpfung noch als Minnesänger, weder als Wandervögel, noch in anderer kameradschaftlicher Pose entgegen, sondern wahrten respektvoll Distanz auch dann noch, wenn aus der gesellschaftlichen Berührung sich eine mehr oder minder herzliche Freundschaft entwickelt hatte. Ich glaube nicht, daß in unseren Kreisen jenes behende Verfallen in den Duz-Komment hätte um sich greifen können, das heute im Verkehr junger Leute eintritt, wenn – die Mädchen darauf eingehen. Damals schätzte man burschikose Weiblichkeit – contradictio in adiecto[92] – durchaus nicht. Die Zigarette zwischen rotbeschmierten Lippen war noch nicht als Hoheitszeichen für die Gleichberechtigung der Frau mit dem Manne eingeführt.
Der Tanzstundenwinter, dessen gesellschaftliche Auswirkung sich nicht in den Sonnabenden erschöpfte, sondern auch eine Mehrzahl von Einladungen zu Hausbällen und ähnlichen Veranstaltungen umschloß und sich über den Sommer 1888 fortsetzte, wurde dafür verantwortlich gemacht, daß ich Michaelis als Zensur in Mathematik und Physik je eine 4 heimbrachte. Mir hat diese Kausalität nicht eingeleuchtet. Meine sehr guten Leistungen in den anderen Fächern waren ja nicht vertanzt worden, und in Arithmetik und Algebra hatte ich auch nie Schwächeanwandlungen. Dagegen bin ich in Geometrie und Stereometrie nie warm geworden. Mir fehlt die Einsicht; ich kann sie auch ebensowenig erwerben, wie den mir fast völlig abgehenden Ortssinn; das ist ein Mangel, der mich durchs ganze Leben begleitet und manches heitere Abenteuer aber auch manche Unbequemlichkeit hervorgerufen hat. Wie es vorgekommen ist, daß ich in einem fremden Gebäude zufällig den rechten Weg gefunden habe, so war es mir auch bisweilen gelungen, eine als schwierig geltende mathematische Aufgabe zu lösen. An den rein aleatorischen Charakter solcher Leistungen glaubte man aber nicht. Die 4 wurde als ernstliche Gefährdung meines Abiturs angesehen. Ich mußte Nachhilfestunde bei einem Mathematiklehrer nehmen. Dieser brave Mann, der ganz aus Mathematik bestand – er hat sein Leben als emeritierter Oberstudiendirektor eines Realgymnasiums beschlossen – erkannte meine habituelle Unfähigkeit. Gerade deshalb sorgte er sich um mein Abiturium. Die Aufgabe, auf die er keinen Einfluß hatte, soll sehr schwierig gewesen sein. Das wußte ich nicht. In der fünfstündigen Klausur ritt ich über den Bodensee. Noch an demselben Tage erfuhr ich durch meine Konabiturienten Wielandt, ein mathematisches Genie, daß ich die richtige Lösung gefunden hatte. Mein Nachhilfelehrer war glücklich, aber nicht stolz. Er wußte nur zu gut, daß die Laune des Zufalls eine tolle Kapriole geschlagen hatte.
Darüber, daß man mich nun auf Grund einer Zensur „völlig ungenügend“ in Mathematik nicht im Schlußexamen durchfallen zu lassen gezwungen war, hat wohl das ganze Kollegium, Rektor und Ordinarius an der Spitze, wirkliche Freude empfunden. Die Schule hätte sich vor sich selbst lächerlich gemacht, wenn sie mir das Reifezeugnis verweigert hätte. Ich galt als einer ihrer besten Schüler in einem Jahrgange, der als besonders tüchtig von jeher belobt worden war. Und nun hatte sich ein halbes Jahr vor dem Abitur auch noch die Sache mit dem Witteschen Preis zugetragen. Die angesehenste unter den zahlreichen Stiftungen, die an der Thomasschule bestanden, war die eines ehemaligen Rektors Witte[93], der offenbar zu beweisen bezweckt hatte, daß die extrem humanistische Eigenart der Thomana keineswegs der Pflege der deutschen Sprache und des deutschen Aufsatzes abträglich sei. Witte hatte ein Kapital gestiftet, mit der Anordnung, daß aus dessen Erträgnissen alljährlich zwei Preise an Oberprimaner gegeben werden sollten, die in sechsstündiger Klausur die besten Aufsätze über ein freies Thema schreiben würden. Die Namen der Verfasser durften nicht genannt werden; die Arbeiten waren unter einem Motto abzugeben, das auch auf einem den Namen des Verfassers enthaltenden verschlossenen Umschlag anzubringen war. Das „Preisgericht“, eine jedes Jahr ad hoc aus dem Lehrerkollegium gebildete Kommission, mußte seine Entscheidung treffen, ohne die Verfasser der Arbeiten zu kennen; die Umschläge wurden erst in feierlichen Aktus vor der ganzen Schule durch den Rektor geöffnet.
Am 3. September 1888 schlug für meinen Jahrgang die Stunde der bedeutsamen Konkurrenz. Beide Oberprimen waren vollzählig in der Aula versammelt. Unter ungeheurer Spannung verlas ein Mitglied der Prüfungskommission die Stiftungsbedingungen und schloß mit den Schicksalsworten: „Das Thema, das die Kommission gewählt hat, heißt: „Das klassische Altertum, eine Schule vaterländischer Gesinnung.“ Kaum hatte ich diese Worte gehört, als mich auch schon Unmut und Befremden packte. Wir waren daran gewöhnt, daß für den deutschen Aufsatz die höchsten Anforderungen an uns gestellt wurden. Erst kurz vorher hatte man uns – beispielsweise – das Thema gestellt: „Aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit – der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit.“[94] Es war einigen von uns gelungen, ihre Erkenntnisse vom Wesen und Zauber der Poesie in gehobener Sprache, denn zu solcher verpflichtete das Goethewort – vorzutragen; meine Arbeit, über die ich sechs Wochen lang hatte nachdenken können, wurde mit der besten Note zensiert. Aber von diesem und anderen Aufsatzthemen unterschied sich das des Witteschen Preises dadurch, daß das letztere offenbar, wie mir schien, den Bearbeitern eine bestimmte Tendenz vorschrieb: Nachweis, daß die klassischen Studien den Patriotismus befruchten und fördern. Gegen solche Glorifizierung des Patriotismus bäumte sich meine moralische Überzeugung auf. Schon in jenen Primanerjahren war mir, vielleicht unter dem Einflusse ausgedehnter Lektüre ausländischer Literatur, eine kosmopolitische Denkweise zu eigen geworden, die den landläufigen Patriotismus ablehnte. Kurz vor der Witteschen Preiskonkurrenz hatte ich folgende Tirade niedergeschrieben:
„Patriotismus ist im genossenschaftlichen Betriebe erzeugter und staatlich prämierter Egoismus …
Eine sittliche Zukunft wird frei sich zu dem Satze bekennen: ubi bene, ibi patria.“[95]
Mit solchen Anschauungen sollte ich nun meine humanistische Bildung vor den Triumphwagen der Deutschtümelei, wie ich allzu bitter meinte, spannen. Ich quälte mich wohl eine oder zwei Stunden grübelnd herum. Dann teilte ich dem die Aufsicht führenden Lehrer mit, ich sei unpäßlich, könne vor Kopfschmerzen keinen Gedanken festhalten und müsse nach Hause gehen. Er war erstaunt, konnte mich aber nicht zurückhalten.
Aber als ich das Portal der Schola Thomana verlassen wollte, erblickte mich der dort im Gespräche mit einem Besucher stehende Rektor Jungmann. „Wohin wollen Sie denn gehen? Sie können doch noch nicht fertig sein“! „Nein, Herr Rektor; ich habe noch gar nicht angefangen. Ich leide an heftigen Kopfschmerzen und das Thema liegt mir nicht.“ „Aber ein paar Sätze werden Sie schon zu Papier bringen können. Wenn Sie heute gar keine Arbeit abgeben, müssen Sie ja in besonderer Klausur ein anderes Thema behandeln, weil der deutsche Aufsatz notwendige Prüfungsaufgabe für die Michaeliszensur ist. Es ist also doch viel einfacher, wenn Sie heute schreiben. Daß Sie Kopfschmerzen haben, wird bei der Michaeliszensur berücksichtigt werden.“
Die Suggestivkraft, die von Jungmanns wundervoller Persönlichkeit ausging, krempelte meinen Kleinmut völlig um. In die Aula zurückgekehrt erklärte ich kurz dem Aufsichtsführenden, der Rektor habe angeordnet, daß ich an der Klausur weiter teilnehmen solle, und ließ mich auf meinem Platze nieder. Mich hatte der Imperativ gepackt: „So schreib doch, was du denkst! Zeig ihnen den Unterschied zwischen Leonidas und Perikles, Muzius Scaevola und Brutus auf der einen und den Patrioten des gestrigen Sedantages auf der anderen Seite.“ Die Zeit zum Entwerfen eines Konzepts mangelte; ich mußte mich gleich an die sogenannte Reinschrift machen. Das ging ohne größere Korrekturen ab, denn meine Gedanken saßen ja fest und die Sätze formten sich ganz von selbst. Dem ruhig stolzen Volksbewußtsein der klassischen Völker trat die eitle Überheblichkeit des deutschen Spießers nach dem 70er Kriege gegenüber. Es sei nicht vaterländische Gesinnung, wenn man am Engländer nur Spleen, am Russen nur vereisten Stumpfsinn bemerken wolle; statt Völkerversöhnung unter Anerkennung der Gleichberechtigung erziele der deutsche Patriotismus Gegnerschaften und Feindseligkeit. Ich weiß von jenem Aufsatze heute nur noch die Grundsätzlichkeiten, weil sie mich durch mein ganzes Leben begleitet haben. Damals aber gefiel mir meine Niederschrift ganz außerordentlich, als ich sie nach ihrer Vollendung überflog. Und als ich nun das Motto anbringen mußte, verwarf ich das vorher gewählte:
„Das Glück war niemals mit den Hohenstaufen“[96]
und schrieb übermütig hin:
„Oh zarte Sehnsucht, süßes Hoffen …“[97]
In den nächsten Wochen wurde unter den Primanern viel darüber geredet, wer den Preis bekommen würde. Die meisten hatten ihre Konzepte in der Hand. In der Parallelklasse war ein ganz wilder Teutone namens Spitzner, der einen recht guten Stil schrieb wegen der Avancen, die ihm das Thema gab, von seinen Freunden als sicherer Preisträger ausgerufen wurde. Am 23. September fiel die Entscheidung. Der Semesterschlußakt hatte die Aula überfüllt. Vornehm wie immer stand Jungmann vor der Versammlung, hinter ihm saß das ganze Kollegium. Atemlose Stille herrschte, als der Rektor zum Schluße seiner Mitteilung anhub:
„Bei der Bewerbung der Oberprimaner um den Witteschen Preis hat das Kollegium einstimmig den ersten Preis zuerkannt der Arbeit mit dem Motto: ‚Oh zarte Sehnsucht, süßes Hoffen.‘ Ich öffne jetzt den das gleiche Motto tragenden Umschlag. Verfasser ist der Oberprimaner Martin Drucker.“
Eine Minute der Bewegung durchrauschte den Saal. Die Oberprima A konnte sich vor Stolz nicht lassen. Wenige Minuten vorher hatte der Rektor bekannt gegeben, daß der Ernestische Dukaten für den besten lateinischen Aufsatz meinem Freunde Hermann Triepel zugesprochen worden sei, und nun fiel auch der Wittepreis in unseren Cötus. Den zweiten Preis bekam tatsächlich Johannes Spitzner. Außerdem gab’s noch einige lobende Erwähnungen.
Im Klassenzimmer ging der Ordinarius, Prof. Stürenburg, auf meine Arbeit ein, las auch einige Sätze daraus vor und lobte sie. Aber dann trat er an mich mit der Frage heran, ob denn das alles wirklich meine Überzeugung sei, und als ich bejahte, sagte er ernst: „Dann bedauere ich Sie.“ Ein mit dem Eisernen Kreuz geschmückter Offizier des 70er Krieges konnte wohl nicht anders denken. Aber daß dennoch auch er wie die ganze Preisrichterkommission meiner apostatischen Arbeit den Preis zuerkannt hatte, zeigt die Gedankenfreiheit, die das Lebenselement der damaligen Thomasschule bildete.
Niemand in jenem Aktus, auch ich nicht, wußte, daß schon einmal ein Martin Drucker den Witteschen Preis davongetragen hatte: 1851 mein Vater! In dem alten Schulprogramm aus jenem Jahre war die Tatsache bezeugt und wurde nunmehr bekannt. Und als zu Michaelis 1922 mein Kopenäler Adolf Buchholz als Konrektor den Mottoumschlag des Preisträgers öffnete, las er den Namen Heinrich Drucker und gab in tiefer Bewegung den Versammelten Kunde davon, daß in ununterbrochener Geschlechterfolge der Preis zum dritten Male in die selbe Thomanerfamilie gefallen sei.
Wie ich schon andeutete, hätte sich der Wittesche Preis schlecht mit einer perniziösen Mathematikzensur vertragen. Eine solche wäre aber auch durch die sonstigen Prüfungsergebnisse desavouiert worden. Ich hatte Glück bei den Klausuren und erst recht in dem mehrtägigen mündlichen Examen. Hier kam mir in seltsamer Weise ein Zufall zu Hilfe. Als letztes Prüfungsfach war auf einen Montag Griechisch angesetzt. Am vorhergehenden Sonntagnachmittag fand bei der bekannten Musiklehrerin Thekla Friedländer, der Tante meiner Tanzstundenfreundin Ilse Friedländer, ein Hauskonzert statt, das mich sehr lockte. Aber ich mußte erst das Bedenken niederkämpfen, ob ich nicht besser täte, diesen letzten Nachmittag zur Sammlung auf die Prüfung zu benutzen. Daß Jungmann als Examinator ganz tief ins Griechentum hineinsteigen würde, war vorauszusehen. Gerade deshalb beschwichtigte ich mein Gewissen mit der Vorstellung, eine weitere Vorbereitung sei doch zwecklos. Zum Besuche des Konzerts entschlossen, warf ich die bereit gehaltenen Bücher frivol auf die Schreibtischplatte. Dabei fiel ein Oktavheft, sich öffnend, zu Boden. Beim Aufheben las ich einige Zeilen. Sie bestanden in Notizen, die ich in Obersekunda zu Papier gebracht hatte, als Jungmann beim Ausbleiben eines Lehrers für eine Unterrichtsstunde bei uns eingesprungen war. In solchen Fällen kümmerte er sich verständigerweise nicht um den vorgeschriebenen Lehrstoff, sondern beschäftigte sich und uns mit einem fernliegenden und darüber hinausgehenden interessanten Thema. In einer dieser Stunden also, die uns stets großen Genuß verschafften, hatte ich mir einige Notizen gemacht. Der Gegenstand ist mir nicht mehr erinnerlich; es handelte sich wohl um eine Singularität aus der griechischen Prosodie. Ich las meine alte Niederschrift fast achtlos und ging dann zu Thekla Friedländer. Erfrischt kehrte ich von der musikalischen Unterhaltung zurück.
Am nächsten Vormittag führte Jungmann uns tief in das klassische Griechentum hinein. Die griechische Sprachlehre kam zu ihrem Rechte, aber sie umrangte die eigentlichen Themen: Philosophie und Dichtung. Plötzlich fühlte ich, wie Jungmanns Fragen sich immer mehr meinem alten bescheidenen Oktavheft näherten! Und dann wollte er abbrechen mit einer Wendung etwas des Inhalts: es gibt hier ein höchstinteressante Eigentümlichkeit, aber davon werden Sie nichts wissen können. Oder doch, Drucker? Denn ich war aufgestanden. In aller Ruhe wiederkäute ich, was ich tags zuvor gelesen hatte. Die Sensation bei Examendatoren wie Examinanden war riesengroß. Das Examen war beendet. Die Spannung dieser letzten Gymnasialwochen ebbte zurück. Das Übermaß des Schulwissens drückte und irritierte uns nicht mehr. Als Heinrich Triepel drei Jahre vor uns die Matura abgelegt hatte, äußerte er, er glaube nicht, daß man in irgendeinem Zeitpunkte des Lebens mehr wisse als nach guter Vorbereitung im humanistischen Abitur. Er hat Recht gehabt. Auch der fleißigste Gelehrte spezialisiert sich auf einzelne Disziplinen. Der Gymnasialabiturient soll in einer Mehrzahl inkommensurabler Lehrfächer beträchtliches Wissen angesammelt haben. Sein Vorbild soll Leibniz, nicht Helmholz sein.
Vor dem feierlichen Entlassungsaktus, nach dem es einige Prämien gab – für mich Jakob Burkhardts Kultur der Renaissance in Italien – fanden einige Abschiedsveranstaltungen statt; zunächst ein Kommers, bei dem das Kollegium Gast der Abiturienten war. Er bot nichts Bemerkenswertes außer einem mich persönlich betreffenden ärgerlichen Vorfall, auf den ich später einzugehen gedenke. Sehr festlich verlief dagegen der Abiturientenball im Hôtel de Pologne. Anders als bei den anderen Leipziger Gymnasien wurde auf der Thomana die gesamte Ausrichtung und Durchführung dieser Bälle einem Schülerausschuß überlassen; zwei zu ihm abgeordnete jüngere Lehrer hielten sich im Hintergrunde. Unser Ausschuß, zu dessen Vorsitzendem ich gewählt wurde, bemühte sich mit Erfolg um eine recht vornehme und großartige Ausgestaltung des Festes, zu dem die gebildeten Familien sich drängten. Zutritt erlangte aber nur, wer eine gedruckte Einladung vom Ausschuß bekommen hatte. Es mögen wohl 500 Teilnehmer anwesend gewesen sein. Ich hatte die Eingangpolonaise anzuführen und mußte auch bei der Tafel die Begrüßungsrede halten, die ich hier als mein erstes rhetorisches Auftreten in der Öffentlichkeit erwähne.
Größerer Erinnerungswert kommt aber einem Gespräch des Konrektor Stürenburg mit meinem Vater zu. Stürenburg beschwor ihn, mich doch nicht Jura und Cameralia, wie ich gemeldet hatte, studieren zu lassen, sondern Philologie und Literatur; ich besäße ein erhebliches schriftstellerisches Talent. Durch diese Sirenenklänge ließ ich mich nicht verführen. Trotz meiner guten Aufsätze und vieler Verse war ich meiner Grenzen mir bewußt. Außerdem hing ich damals dem Gedanken nach, im Anschluß an die juristischen Examina in das Orientalische Seminar in Berlin einzutreten und nach dessen Absolvierung im Dienste des Reichsjustizamtes oder Auswärtigen Amtes nach Japan oder Ostchina zu gehen. Jünglingsträume, aus denen das Leben mich bald erweckt hat.
Den Abschluß der durch das Abitur hervorgerufenen verschiedenartigen Festlichkeiten bildete ein Mulusball, den meine Eltern in unserer Wohnung veranstalteten. Die schönen Räume, zu denen ein saalartig großes und breites Balkonzimmer gehörte, mit ihrem spiegelblanken Parkett, dem in heller Bronze funkelnden Kronleuchter, der in einen Büfettraum verhandelten Diele, wo hinter Efeuwänden die Tanzkapelle aufspielte, sahen an diesem Abende, wie ein bis in die Morgenstunden sich erstreckendes Jugendfest Hannas und meine Freundinnen und Freunde, dazu andere von den Eltern geladenen Gäste in Frohsinn und Heiterkeit vereinte. Den Höhepunkt bildete ein vieltouriger Kotillon[98], den Hanna und ich mit selbsterdachten lustigen Überraschungen ausgestattet hatten. Einen hübschen Spaß will ich erzählen. An ein Tanzpaar tritt ein zweiter Herr mit dem Verlangen heran, den ersten zu ersetzen. Weil die Dame nicht selbst entscheiden will, nimmt sie von einer ihr dargereichten magischen Servierplatte – Träger war wohl mein Bruder Carl – zwei rote Papierherzen und gibt je eines den beiden Rivalen. Man schreitet zum Wunderwasserbecken, betreut, soviel ich noch weiß, von Betty. Des Wassers Zauberkraft soll erweisen, welches Herz echt ist. Die Nebenbuhler tauchen die Papierherzen ein. Und siehe da: eins wird in alter Röte wieder herausgezogen, das andere aber zeigt ein griesgrämliches Blau. Dieser Tänzer muß abtreten. Die ganze, von Hanna mit flinken Verschen umrahmte Prozedur rief Stürme der Begeisterung hervor. Nur Wielandt ahnte wohl mein Produktionsgeheimnis: eins der Herzen bestand aus gewöhnlichem Löschpapier, das andere aus ihm täuschend ähnlichem Lackmuspapier und der Zauberborn war Sodawasser.
Bald danach reiste ich für eine Woche nach Loschwitz. Im Jahre vorher hatte ich in Wildbach einen Zwickauer Primaner Kurt Martens kennen gelernt und mich mit ihm angefreundet. Er gefiel mir sehr durch seine beste Kinderstube zeigendes Benehmen – dafür habe ich immer ein Faible gehabt – noch mehr aber wegen seiner literarischen Bildung und seiner unverkennbaren dichterischen Befähigung. Einige seiner Verse, die in Wildbach entstanden, sind mir noch heute im Gedächtnisse geblieben. Bei einer Lustspielaufführung der Wildbacher Sommergäste gab er eine Charakterrolle ganz vorzüglich. Wir blieben dann im Briefwechsel, der uns immer näher zusammenführte. Dadurch kam es zu der Einladung seiner in zweiter Ehe verheirateten Mutter nach Loschwitz, wo sie eine jener reizenden Gartenvillen bewohnte. Ich verlebte dort höchst genußreiche Tage. Mehrmals fuhren wir nach Dresden, das ich noch kaum kannte. Ich wurde durch die berühmten Sammlungen, das grüne Gewölbe, die Gemäldegalerie und die sonstigen Kunstspeicher geführt und war pflichtgemäß bemüht, mich zu begeistern. Aber bei allem Respekt vor der Sixtinischen Madonna und allem Wohlwollen für das Schokoladenmädchen ist es mir ebensowenig in Dresden wie später in München gelungen, die innige Fühlung mit und die Ehrfurcht gegenüber der Malerei zu gewinnen, die doch als Elemente der allgemeinen Bildung kanonisiert sind. Rührt oder packt mich nicht der dargestellte Gegenstand, so bleibt meine Empfindung vor großen und kleinen Gemälden fast steril. Ich weiß, daß ich mich mit diesem Berichte bloßstelle. Warum aber werden andererseits die Leute, die sich als unmusikalisch denunzieren, nicht als amusisch verachtet? Meine Beziehungen zu Kurt Martens haben sich eigenartig gewandelt. Als er im nächsten Jahr nach Leipzig kam um Jura zu studieren, waren wir noch wirkliche Freunde. Ich führte ihn in meinen engsten Kreis ein, er schloß sich besonders an Georg Langerhans an. Aber eines Sonntags überraschte er mich als Fuchs des Corps Saxonia[99], in das er plötzlich eingesprungen war. Er wollte mich durchaus bewegen, gleichfalls Korpsstudent zu werden, und lag meinem Vater in den Ohren, dieses Verlangen zu unterstützen. Ich lehnte entschieden ab und versuchte ihn davon zu überzeugen, daß sein ganzes Wesen doch schlechterdings diesem Kommenttreiben abhold bleiben müsse. Er ging gekränkt weg und ließ zunächst nichts von sich hören. Aber es dauerte nicht lange, da bekam ich von ihm einen Brief aus Berlin: er habe sich von dem Korps, bei dem es nicht auszuhalten gewesen sei, durch ungemeldete Abreise nach Berlin getrennt und werde sein Leben nun ganz anders einrichten. Ich las zwischen den Zeilen, daß er auch mir Valet sagte, und antwortete ihm deshalb nicht. Er wurde Schriftsteller. Bisweilen las ich Kritiken über seine Bücher, dann und wann fiel mir auch eins von ihnen die Hände. Keins erschien mir als unbedeutend. Aber die Erwartungen, die ich auf ihn gesetzt hatte, sind nicht erfüllt worden. An seinem Beispiel erkannte ich, wie recht ich mit der Verwerfung von Stürenburgs Anregung getan hatte, Schriftsteller zu werden.
Etwa 30 Jahre nach der Flucht Martens aus Leipzig machte mich ein Leipziger Professor darauf aufmerksam, daß Martens in seinem Buche „Schonungslose Lebenschronik“ nicht allein über mich, sondern auch meine nächsten Freunde unter Namensnennung recht geringschätzig, ja geradezu gehässig, sich geäußert habe. Der Professor (Süss) zeigte mir bei einem Zusammentreffen im Café Hennersdorf die Stelle. Ich fand seine Mitteilung voll bestätigt[100]. Was Martens zu solcher Falonie bewogen haben mag, ist mir unerkennbar geblieben.
Ehe ich mit dem Studium begann, gedachte ich das lästige Militärjahr hinter mich zu bringen, möglichst außerhalb Leipzigs in einer Universitätsstadt, um wenigstens gelegentlich Wissenschaft naschen zu können. Ich meldete mich bei einem Füsilierbataillon in Jena zur Untersuchung. Da die ganze Truppe zu irgend einer Übung ausgerückt war, wurden die Funktionen des Stabsarztes vertretungsweise durch einen Zivilarzt wahrgenommen. Bei seinen Fragen und Handgriffen merkte ich, daß er tüchtig getrunken haben mußte. Denselben Eindruck hatten und bekundeten dann die sechs anderen jungen Männer, die sich am gleichen Tage stellten. Nach Beendigung der eigenartigen ärztlichen Prüfung eröffnete uns der gestrenge Examinator, daß wir alle dienstuntauglich seien. Verwundert fuhr ich nach Leipzig zurück, wo auch unser alter Hausarzt Dr. Schenkel, der meine körperliche Beschaffenheit genau kannte, seinem Befremden über das Urteil des Jenenser Kollegen lebhaft Ausdruck verlieh. Aber zunächst mußte ich auf Ehre und Freuden eines Rekrutendaseins verzichten. Leider nicht für immer.
Als Universitätsstadt trat an die Stelle Jenas nunmehr München, hauptsächlich deshalb, weil Georg Langerhans sich dafür entschieden hatte und wir zusammen wohnen wollten. Er hatte auch unsere Buden ausfindig gemacht: Türkenstraße 57 beim Grafen Fugger-Blumenthal. Diese hocharistokratische Familie schien einen bescheidenen Lebensstandart nur dadurch aufrechterhalten zu können, daß sie die ganze zweite Etage ihres Palais – so hieß, wohl von altersher, das gänzlich schmucklose, einer voluminösen Lehmhütte schon wegen seiner schmutziggelben Farbe nicht unähnliche Gebäude – an Studenten und ähnlich distinguierte Fremdlinge vermietete, z. B. einen jungen amerikanischen Professor mit Frau und Kind, der sich studienhalber in München aufhielt. Als Langerhans und ich am Sonntag nach unserem Einzuge durch den einzigen dienstbaren Geist des Hauses das hochgräfliche Geschlecht um die Ehre hatten bitten lassen, uns persönlich vorstellen zu dürfen, wurde beim Empfang ein vermutlich den Wittelsbachern abgegucktes höfisches Zeremoniell zelebriert. Das Dienstmädchen qua Hausmarschall öffnete vor uns die Flügeltür zum Empfangssalon, unsere Namen verkündend; der alte Graf ging uns wenige Schritte entgegen, ganz Grandseigneur; nach huldvoller Begrüßung präsentierte er uns seiner auf dem gräflichen Sofa thronenden Gemahlin. Wir empfanden die Tragikomik der Szene und der Handlung, aber ohne Verlegenheit, auf die man bei ein paar jungen bürgerlichen Studenten vielleicht gerechnet hatte. Wir trugen beide den tadellosen schwarzen Rock, der damals für feierliche Besuche vorgeschrieben war, und beherrschten nach unserem Leipziger Verkehr die gesellschaftlichen Formen zu sicher, als daß uns der erquälte Empfangspomp aus dem Konzept hätte bringen können. Wahrscheinlich imponierte unsere Wohlerzogenheit der Gräfinmutter, denn sie entschloß sich zu dem Wagnis, uns der „Komteß“ vorzustellen, die hereingeholt wurde. Sie erwies sich als eine weder durch Schönheit noch durch Geist aufdringlich wirkende Dame schwer bestimmbaren Alters. Nach wenigen Minuten machten wir dem Auftritt ein Ende in dem Bewußtsein, uns ausgezeichnet benommen zu haben. Den einzigen Fauxpas beging die Gräfin, als sie ihrem leutseligen Wunsche, wir möchten uns in diesem Hause wohl fühlen, die in Form einer Bitte gekleidete Ermahnung anhängte, durch unser Verhalten als Mieter nie das Ansehen des Hauses zu gefährden. Das taten wir nun freilich sofort nach der Rückkehr in unsere Oberstuben, indem wir in ein schallendes Gelächter ausbrachen, das man wohl in der gräflichen Bel-Etage gehört und vielleicht begriffen hat.
Der gräfliche Sohn war Offizier im Leibregiment. Für ihn mußten wohl die bescheidenen Revenuen der Familie hauptsächlich verwertet werden, damit der Schein der Vornehmheit gewahrt bleibe. Während unseres Aufenthalts in München kam es zweimal vor, daß das Gräflich Fuggersche Paar an irgendwelchem Hofempfang teilnehmen mußte. Dann wurde aus der Remise eine wohl sehr alte wappengeschmückte Kutsche hervorgeholt, mit zwei- oder gar vier? – geborgten Pferden bespannt, mit einem Lohnkutscher und einem Lohndiener – aber natürlich in Gräflich Fuggerscher Livree – besetzt und so begab sich der bayrische Grande nebst höchstseiner Gemahlin zur Residenz. Zunächst lachten wir über diese Spiegelfechterei. Aber dann beschlich uns Mitleid mit diesen vermutlich ganz harmlosen Menschen, denen Standesvorurteile den Weg zur Gegenwart und zur Wirklichkeit verschütteten.
Das Münchner Semester bereicherte nach den verschiedensten Richtungen unsere Kenntnisse und Erfahrungen. Wesentlich zunächst durch den Universitätsbetrieb. Wir waren sehr fleißige Kollegienbesucher, arbeiteten aber auch in der Regel abends das vormittags Gehörte miteinander durch. Von den Professoren unserer Fakultät hat aber mit einer Ausnahme keiner einen tiefen Eindruck hinterlassen. Die großen Juristen haben wir erst in Leipzig kennen gelernt. Jene Ausnahme war der Professor Freiherr von Hertling, der spätere Reichskanzler, der über Rechtsphilosophie las. Das war eine tendenziöse Propaganda für eine von ihm begründete neue Lehre und erregte wegen allzu starker Betonung des Primats katholischer Ansprüche vor den Staatsnotwendigkeiten oft unseren Widerspruch. Aber der Vortrag war so geistvoll, die Diktion so vornehm, daß wir getreue Besucher des gefährlichen Rhetors blieben.
Neben diesem politisierenden Juristen fesselte mich Michael Bernays als Literarhistoriker. Mir ist so, als hätte ich an seinem letzten Kolleg teilgenommen; jedenfalls hat er bald nach dieser Zeit seine Lehrtätigkeit aufgegeben. Auch sein Vortrag brachte wie der Hertlings hohen ästhetischen Genuß, ohne doch Gegensätzlichkeit zum Inhalt zu erzeugen.
Als Beweis für die Ubiquität meines Wissensdurstes sei erwähnt, daß ich bei dem damaligen Privatdozenten Oberhummer ein Kolleg über Ethnographie, verbunden mit Führungen durch die ethnographischen Sammlungen, besucht habe. Viel habe ich fürs spätere Leben freilich nicht davongetragen.
In den oberbayrischen Volkscharakter einzudringen fehlte mir Anlaß und Neigung. Ich hatte schon in den ersten Münchner Tagen die kulturhistorisch aufschlußreiche Beobachtung gemacht, daß man den Säuglingen mit bierfeuchten Brotbrocken gestopfte Schnuller ins Mäulchen steckte und sich dadurch ungestörte Ruhe, jenen aber wohl die künftige Anwartschaft auf höhere bayrische Staatsämter zu verschaffen gedachte. Im übrigen gewann ich keine Einsicht in das bayrische Gemüt, für das damals der Aggregatzustand der kochenden Volksseele noch nicht entdeckt war. Ich hatte einige Leipziger Einführungsbriefe bei verschiedenen Familien abgegeben, war darauf eingeladen worden und hatte mich über Kulturzustände im hohen Norden, also in Sachsen, ausfragen lassen, nicht ohne bisweilen mißtrauisches Kopfschütteln zu erregen.
So hatte ich eines Tages die Frage eines jener Ur- und Nur-Münchner, ob es denn wirklich bei uns vorkomme, daß in ein und demselben Lokale Biere aus zwei verschiedenen Brauereien ausgeschenkt würden, bejahend mit der Ausführung beantwortet, daß unsere großen Gastwirtschaften beispielsweise ein dunkles und ein helles bayrisches Bier, ein Pilsner und ein einheimisches Bier nebeneinander führten. Der Gastgeber bewies, daß etwas derartiges einfach nicht möglich sei, und ließ mich fühlen, daß er mich für einen saupreußischen Aufschneider hielt.
Auch abgesehen von solchen einmalig bleibenden Hausbesuchen habe ich in München keine näheren Bekanntschaften gemacht. Ich war zwar im Anfang einige Male bei dem Corps Makaria[101] und der Landsmannschaft Transrhenania[102] eingeladen, denen ich von Leipzig her annonciert worden war; da ich aber nicht Mine machte, mich den Bindungen des Farbenstudententums zu unterwerfen, so schlief jener Verkehr bald ein. Mein gewöhnlicher Umgang waren Landsleute. Außer Langerhans nenne ich meinen späteren Kollegen Georg Zöphel, der, wie wir in einer Mondnacht auf der am Zugspitzenmassiv gelegenen Knorrhütte feststellten, am gleichen Tage desselben Jahres wie ich, also am 6. Oktober 1869 geboren ist; ferner Rudolph, später Anwalt am Oberlandesgericht Dresden; der Mediziner Viktor Rosenblatt, später ein angesehener Arzt in Leipzig, dessen Sohn bei mir die Referendarstation durchstand und heute einer der tüchtigsten Richter ist; endlich Eduard von Bomhard, zwei Jahre vor mir als primus omnium von der Thomasschule abgegangen, Sohn eines Senatspräsidenten des Reichsgerichts. Er ist noch in jungen Jahren als Amtsrichter oder Staatsanwalt gestorben.
Allzu intensiv war auch dieser Verkehr nicht. Alle Genannten nahmen ihr Studium ernst und hatten daher tagsüber wenig freie Stunden, abends besuchten wir häufig die Theater, in denen die Studenten zu lächerlich niedrigen Preisen gute Plätze bekamen. So begegneten wir denn einander nur abends auf den Bierkellern. Ich hätte beinahe gesagt: zu einem Glase Bier. Aber es war nie ein Glas, sondern stets ein Maßkrug, und es blieb nie bei nur einem. Es ist mir immer unbegreiflich erschienen, wie wir so ungeheuerliche Quantitäten haben konsumieren können. Wollten wir bloß zum Abendessen Getränke genießen, so waren es zwei Maß; hatten wir hinterher nicht mehr zu arbeiten, so tranken wir drei, und wenn wir zu dem besonderen Zwecke des Biertrinkens ausgegangen waren, so wurden es 5. Fünfzig Zehntel, das sind nach heutiger Messung zwanzig Glas Bier. Und dieses Quantum hat mich nicht ein einziges Mal trunken gemacht.
Das schönste an München war für mich seine Umgebung. Schon der erste Sonntag unseres Aufenthalts hatte uns an den Starnberger See geführt. Zum ersten Male sahen wir Alpen und Almen und Gebirgsseen. Seitdem machten wir uns an jedem Wochenende in das Gebirge auf, wenn es das Wetter nur einigermaßen gestattete. Wegen dieser von der ganzen Studentenschaft geteilten Neigung wurde samstags keinerlei Kolleg abgehalten. Die Beförderungsmöglichkeiten waren allerdings unbefriedigend; die Eisenbahnen erstreckten sich durchaus nicht so weit wie jetzt und Omnibusse gab es vor Einführung des Autoverkehrs nicht. Aber wir waren ja gut zu Fuße und den notwendigerweise zu schwänzenden Montag konnte man nachkeilen. Die erste Bergpartie galt dem Wendelstein. Ohne Führer verstiegen wir uns und mußten die Nacht auf einer Sennhütte kampieren, was zwar durchaus nicht bequem, aber romantisch und überdies recht nahrhaft war. Aussicht auf dem am nächsten Tag erklommenen Wendelstein genossen wir zwar nicht, denn es war keine vorhanden. Aber wir waren doch oben gewesen!
Den Rekord meiner alpinistischen Leistungen bildete die Zugspitze. Die Bahn brachte uns nur bis Murnau, so daß wir – das waren Langerhans, Zöphel, Rudolph und ich – noch einen tüchtigen Marsch bis Partenkirchen zurücklegen mußten, wo wir übernachteten. Ein Führer erklärte sich bereit, uns gegen erträgliche Bedingungen auf die Spitze zu führen, obwohl eigentlich verboten war, mehr als zwei Personen zu führen. Unsere Ausrüstung war höchst mangelhaft. Der Führer bestand darauf, daß wir in die Sohlen unserer städtischen Schnürstiefel wenigstens Eisen schlagen ließen. In der vierten Morgenstunde brachen wir auf und erreichten nachmittags gegen vier Uhr die Knorrhütte. Der Weg war nicht gerade beschwerlich gewesen, aber ungemütlich durch häufige Schneestürme, die uns nötigten, zeitweilig Schutz unter überhängenden Felsplatten zu suchen. Die Notwendigkeit der Exkursion war mir recht zweifelhaft geworden. Auf der durch andere Wanderer stark belegten Knorrhütte verbrachten wir einen kurzen, fröhlichen Abend. Ich sehe heute noch Zöphel vor mir, wie er im weißen Nachthemd auf dem mondüberglänzten Schneefeld einen exzentrischen Tanz vollführte. Die Nachtruhe kam durch solchen Unfug etwas zu kurz. Denn schon um zwei Uhr zwang der Führer uns zur Gipfelwanderung, um vor den anderen Gruppen oben zu sein. Das waren noch einmal vier Stunden. Kurz vor Erreichung des Zieles brach ein niederträchtiger Schneesturm los. Aber wir erreichten die Unterkunftshütte. In ihr mußten wir mehrere Stunden verbleiben, bis der Sturm sich gelegt hatte. Von Aussicht war auch dann nicht die Rede. Wir konnten nicht einmal den anderen Gipfel der Zugspitze erkennen. Und ich muß gleich hier zusammenfassend beurkunden: ich habe in den folgenden Jahrzehnten noch manchen kleinen oder großen Berg in verschiedenen Gebirgen erstiegen, aber niemals habe ich freie Aussicht gehabt. Diese meine Promenaden und Expeditionen vermochten das schönste Wetter, unter dessen Herrschaft ich sie antrat, zu vernichten. Ich bin offenbar ein kosmischer Zersetzungskörper.
Von der Zugspitze stiegen wir nach dem Eibsee ab, wobei wir durch einen langen Kamin hindurchrutschen mußten. Herrlichster Sonnenschein umflutete uns, als wir von der Gipfelaussicht keinen Gebrauch mehr machen konnten. Während des vielstündigen Rückmarsches gerieten wir allerdings in einen so gewaltigen Gewitter- und Platzregen, daß wir die Absicht, die Station Murnau an diesem Abende noch zu erreichen, aufgeben und in einem kleinen Dorfgasthause in Oberau übernachten mußten, mit dessen Wirt wir einen ganz mäßigen Preis für Bett ohne Frühstück acondierten, denn unsere Reisekasse war durch eine üppige Mahlzeit am Eibsee bedenklich zusammengeschrumpft. Ehe wir am nächsten Morgen in allerfrühester Stunde aufbrachen, hatte einer meiner Freunde das Mißgeschick, sein Zahnputzglas herunterfallen zu lassen. Wir schoben die Scherben unter die Kommode, denn bezahlen konnten wir das Glas nicht. In Murnau fehlten uns ein paar Mark zur Bezahlung der Fahrkarten. Aber der Schalterbeamte, ein überaus jovialer Mann, gab uns, nachdem wir ihm unsere Studentenkarten gezeigt hatten, die Karten auf Kredit, dessen baldigste Abdeckung wir zusagten.
Als wir mit knurrendem Magen unsere Buden in München erreicht hatten, fand ich ein von meiner Mutter gesendetes Paket vor, das ein Goldstück als außerordentlichen Zuschuß zum väterlichen Wechsel barg. Unsere Nahrungssorgen waren also erledigt. Während ich, weil ich recht müde war und in den nassen Stiefeln mir Blasen an den Füßen zugezogen hatte, mich zu Bett legte, trabte Langerhans mit dem Goldstück in die Kneipe, wo er die anderen Wandergenossen erwartete. Er blieb mehrere Stunden fort. Dann aber erschien er, bepackt mit einem Maßkruge und vielen schönen Eßsachen, die er an meinem Bett aufbaute. Man sei der Meinung gewesen, daß auch ich etwas von dem Goldstück haben solle, zu dessen Verbrauch er die anderen eingeladen hatte. Von meinem Vater bekam ich in diesen Tagen eine Postkarte mit einem Versrätsel, für dessen baldige Lösung er einen Preis von zehn Mark aussetzte. Es lautete:
Jedwedem baut’s das Erdenleben,
Und doch: nicht jedem ist’s gegeben.
Ward Dir’s zu teil, so mag es Dir gelingen,
Es durch sich selber zu bezwingen.
Wenn nicht, so darfst Du nicht verzagen:
Versuch, es mit sich selbst zu tragen!
Das war eine harte Nuß. Aber mein Vater, der an geistvollen Rätseln seine Freude hatte, war seinen Kindern nicht umsonst ein Führer durch die Kunst des Erratens Schleiermacherscher Rätsel gewesen. Ich suchte methodisch nach mehrdeutigen Worten, auf die die Deskription der im Rätsel angegeben Eigenschaften passen könnte. Und richtig, nach mehreren Stunden konnte ich dem Vater zurückschreiben:
Es nimmt dem Menschen das Geschick
bald dieses und bald jenes Glück.
Trob trübt sich nicht des Weisen Blick,
wenn ihm nur eines bleibt zurück:
Geschick!
Denn hat der Weise nur Geschick,
Selbst dieses Rätsel wird, o Glück!
Durchsichtig dann vor seinem Blick.
Er schickt als Lösung dies zurück:
Geschick!
Weil der Semesterbetrieb Ende Juli zwar nicht offiziell, aber doch praktisch zum Stillstande kam, hatte meine Mutter angeregt, daß ich zum 55. Geburtstage meines Vaters, am 30. Juli, ihn durch meine Rückkehr überraschen sollte. So trat ich denn einige Tage vorher wieder eine meiner Etappenreisen an, wie zwei Jahre früher von Minden nach Leipzig. Ich rastete zunächst in Nürnberg, dessen Eigenarten zwischen Sebaldusgrab und Bratwurstglöckle ich bewundernd und befriedigt auskostete. Dann lenkte ich meine Schritte nach Regensburg, nur um von dort aus die Walhalla aufzusuchen. Es ist gewiß eine seltsame Idee Ludwigs des Ersten gewesen, auf die Höhen von Donaustauf diesen strengen dorischen „Tempel deutscher Ehren“ setzen zu lassen, zu dem man auf einer überzyklopischen Treppe mit Anstrengung hinaufsteigt. Die Walhalla ist wohl auch nie in das deutsche Bewußtsein eingewachsen als eine der Sehenswürdigkeiten, die man bei Gelegenheit besuchen soll, wie Niederwald- oder Völkerschlachtdenkmal. Die Gedenktafeln und Statuen in der Walhalla ermüden. Und doch enthält sie in den Rauchschen Viktorien erlesenste Kunstwerke. Die Photographie der nach meinem Empfinden schönsten habe ich aufbewahrt, bis sie am 27. Februar 1945 dem Bombenbrande zum Opfer fiel, und in all den Jahrzehnten immer wieder mit tiefer Beglückung angeschaut.
Nach Regensburg machte ich noch in Altenburg bei Onkel Gustav und Tante Adelheid Station und erschien dann am nächsten Morgen als erster Gratulant bei meinem überraschten Vater. Er schlachtete zwar kein Kalb, denn ich kam ja nicht gerade als verlorener Sohn zurück. Aber er gab seiner Freude über meine Wiederkehr in herzlichster und nachhaltigster Weise Ausdruck, die mich rührte und stolz machte.
Mit dem Wintersemester 1889/90 wurde ich in Leipzig immatrikuliert und bin es bis zum Referendarexamen geblieben. Ursprünglich war geplant, daß ich noch ein paar Semester an einer süddeutschen oder vielleicht auch der Berliner Universität studieren sollte. Daraus ist nichts geworden, weil ich mich einfach von der Leipziger Fakultät nicht zu trennen vermochte. Sie war in jener Zeit die glänzendste unter allen deutschen Juristenfakultäten und die bedeutendste, die sich jemals in Leipzig zusammengefunden hat. Man sagte, daß jeder der Ordinarien in seiner Disziplin der erste Mann in Deutschland sei. Windscheid als Pandektist, Friedberg und Sohm als Kirchenrechtler, Wach als Prozeßualist, Binding als Kriminalist fanden nirgends ihres gleichen. Adolf Schmidt, der Vater meines Freundes Viktor, hatte freilich seinen früheren Ruhm als klassischer Romanist schon einigermaßen überlebt. Aber sein vorbereitetes Kolleg vermittelte uns immer noch in unübertrefflicher Weise das wahre römische Recht strengster Observanz. Die Mitte zwischen den beiden Polen Windscheid und Schmidt hielt Kuntze, ein stiller Mann, aber ein ausgezeichneter Lehrer, dessen Praktikum nach unserer Empfindung weit nützlicher war als die eiskalten Verstandesexerzitien bei Windscheid. Die Praktika begannen damals eine große Rolle zu spielen. Ich habe nicht weniger als neun besucht; das bedeutete eine Fülle wissenschaftlicher Haus- und Klausurarbeiten, damit aber eine ganz ausgezeichnete Schulung für die spätere Praxis. Weil Nationalökonomie Prüfungsfach war, hörte ich auch darüber und über Finanzwissenschaft zahlreiche Kollegien. Auch auf diesem Gebiete waren die Leipziger Professoren die Koryphäen ihrer Wissenschaft: Ich habe bei Wilhelm Roscher studiert; ihm folgte Lujo Brentano, der von August Miaskowski abgelöst wurde. Die wissenschaftlichen Grundlehren dieser drei Gelehrten waren so verschieden voneinander wie ihre Persönlichkeiten. Der Polyhistor Roscher, dessen unerschöpfliches Detailwissen uns schaudern machte, lehrte andere Dinge als der Leichtkathetersozialistische Brentano, dessen Aussaat wiederum der konservative Balte von Miaskowski nicht recht aufkommen ließ. Gegenüber der Strenge der juristischen Disziplinen erschien mir die Nationalökonomie wie eine freie Kunst. Ich begriff ein spöttisches Wort, mit dem Friedberg im Kolleg über Handelsrecht das soeben erschienene und vielfach bestaunte Lehrbuch eines seiner Kollegen (Endemann) abgetan hatte: Es leide doch zu sehr an nationalökonomischer Verflachung.
Unter den jungen Lehrkräften der Fakultät befand sich Prozeßualist und Publizist Richard Schmidt, der leider schon 1891 als Professor nach Freiburg ging, um erst 1913 als hochberühmter Gelehrter nach seiner Vaterstadt Leipzig zurückzukehren, und sein Freund Friedrich Stein. Dem letzteren bin ich nähergetreten als irgendeinem anderen meiner akademischen Lehrer. Das kam so. Als wir eines Nachmittags Kaffeegäste bei Friedberg waren, in dessen Hause ich seit der Tanzstunde mit Asta Friedberg häufig verkehrte, äußerte Stein, er habe noch keinen Famulus für seine Kollegien gefunden. Friedberg warf die Frage auf, ob ich nicht die Famulatur übernehmen wolle. Stein ging sofort darauf ein und ich konnte nicht gut ablehnen, zumal ich glaubte, keine umfängliche Bemühung auf mich zu nehmen. Das erwies sich freilich als eine Täuschung. Stein hatte ein publicum über Preßrecht angekündigt. Ich fand am ersten Tage das Auditorium überfüllt vor, so daß ich durch den Hausinspektor uns schnell noch ein anderes, ganz großes zuweisen lassen mußte. Stein war durch diese Überraschung beglückt. Er sprach hinreißend. Von diesem Tage an war er als einer der glänzendsten Redner der Universität anerkannt. Alles lief zu ihm. Sein privatissimum über die Institutionen des Gaius, das eigentlich außerhalb seines besonderen Fachwissens lag und doch kein Zwangskolleg bildete, war überfüllt, weil es sich bald als eine vortreffliche Einführung in die römische Rechtssprache erwies. Aber der größte Erfolg wurde sein Zivilprozeßpraktikum. Ein solches in erlaubter Konkurrenz mit Adolf Wach anzukündigen, war ein Wagnis. Aber erneut zeigte sich, welchen Ruf als Lehrer sich Stein rasch erworben hatte. Die Zahl der Praktikanten blieb hinter der des Olympiers Wach nicht zurück. Ich hatte nicht nur beträchtliche Einnahmen, weil die Quästur neben den Kolleggeldern ein Fixum für den Famulus einzog, sondern kam als solcher auch in nahe persönliche Beziehungen zu meinem Meister. Wie oft hatte ich ihn in seiner von meiner elterlichen nicht weit entfernten Wohnung Grassistraße 17 abends aufzusuchen, und wie hatte dieser große Gelehrte mir dabei das Verständnis für die Juristerei geöffnet. Keineswegs nur auf seinem ureigensten Arbeitsgebiete des Zivilprozesses. Er war überall zu Hause und ließ mich, wenn es nötig wurde, mit Hilfe seiner bedeutenden Bibliothek auch in abseits liegende Fragen eindringen. Im Zivilprozesse wurde ich durch diese persönlich-privaten Diskurse fast selbst ein Gelehrter, der die Kommilitonen weit übertraf. Das zeigte sich nicht nur in den Arbeiten für das Praktikum, das ich zweimal absolviert habe, sondern oft in der späteren Praxis. Als ich Referendar in Marienberg war, stand mein Chef, der Amtsgerichtsrat Mannsfeld, einmal vor einer ganz außerordentlichen Frage aus dem Beweisrecht. Von der Beantwortung hing es ab, ob umfängliche und zeitraubende auswärtige Beweisaufnahmen anzuordnen seien oder alsbald zum Urteil zu gelangen sei. Bequem für den Richter war die erste Alternative, aber würdiger und im edelsten Sinne juristischer der Versuch, die Notwendigkeit der Beweiserhebung prozessual zu prüfen. Die Amtsgerichtsbibliothek ließ uns im Stiche. Ich schrieb an meinen Meister nach Leipzig. Kurz darauf traf eine von ihm abgeschickte Bücherkiste mit einem kurzen Hinweis auf den Weg zur Benutzung ein. Mannsfeld überließ mir die Ausarbeitung. Ich kam zum Urteil. Es ging in die Berufung ans Landgericht Freiberg, die aber im ersten Termine verworfen wurde. Einige Zeit danach revidierte der Justizminister Schurig, übrigens ein Universitätsfreund meines Vaters, das Amtsgericht Marienberg. Ich wurde ihm vorgestellt. Er äußerte, das Landgericht Freiberg habe jenes Urteil dem Justizministerium als Aufgabe zu Prüfungszwecken übersandt; er habe soeben von Mannsfeld erfahren, daß ich der Verfasser sei, und wolle nun wissen, wie ich zu dieser Gelehrsamkeit komme. Ich gab ihm Aufschluß über meinen Lehrer und die Bücherkiste. Er sprach mir in ganz unbürokratisch herzlichen Worten sein Lob für mein Wissen und meine Arbeit aus. Der brave Mannsfeld strahlte und sorgte für Verbreitung des Vorkommnisses am Stammtische der Marienberger Honoratioren.
(Abschließende Bleistiftnotizen:) Wundt – Mensur akademisch philosophischer Verein, freie wissenschaftliche Vereinigung, große Reise Alexandersbad
[1] M.D. wurde um 7.00 Uhr in der Nürnberger Straße 12 (damals: Bosenstraße) in der I. Etage geboren. Das Gebäude existiert heute nicht mehr.
[2] Die Annahme des Familiennamens „Drücker“ kann in der „namentliche(n) Liste der in der Gemeinde des Cantons Cassel geborenen und daselbst geseztlich domicilirten Israeliten männlichen Geschlechts, 1812 nachgewiesen werden. Hiernach wählte der Mäkler Michel Levy aus Holland gemäß Dekret vom 29.03.1808 für sich und seine Familie den Namen „Drücker“.
[3] Tatsächlich ist der Name Drucker nur für jüdische Familien, bzw. solche mit jüdischen Vorfahren nachweisbar.
[4] Der Vater hieß Moses Abraham Fraenkel, war 1771 geboren und muss vor 1832 verstorben sein.
[5] Constanze Dölitzsch, geb. 18.07.1807 in Altenburg, gest. 31.05.1887 ebd.
[6] Emil Drucker wurde geboren am 23.02.1866 und starb am 11.04.1869.
[7] Martin Drucker sen. ließ sich am 07.02.1865 in der Kreuzkirche zu Dresden taufen.
[8] Der Großvater Karl Klein war am 28.02.1800 in Leipzig geboren.
[9] Karl Klein gehörte dem Leipziger Stadtverordnetenkollegium von 1849 bis 1861 an. In den Jahren 1852 bis 1858 war er deren Vizevorsteher.
[10] Arthur Ottomar Olympius Dölitzsch, Advocat, geb. 15.04.1819 in Altenburg, gest. 14.02.1900 Altenburg, Mitbegründer des Deutschen Anwaltvereins, verheiratet mit Selma Clara Zeutzschel
[11] Karl Klein starb 62jährig am 07.12.1862 in Leipzig.
[12] Adelheid Klein, geb. 31.08.1840 in Leipzig, gest. 01.09.1924 in Altenburg, verheiratet seit 1862 mit dem Arzt Gustav Rothe in Altenburg.
[13] Elise Klein, geb. 15.08.1846 in Leipzig, gest. 01.01.1913 in Minden, verheiratet seit 1870 mit Hermann Rocholl in Minden.
[14] Wie die Geschichte lehrt
[15] Siegmund Drucker, geb. 17.07.1801 in Cassel, gest. 24.08.1874 in Leipzig, in erster Ehe verheiratet mit Emilie Fränkel (1810-1842), in zweiter Ehe seit 1850 mit Emma Pollack (1825-1888), er lebte zuletzt Mühlgasse Nr. 3
[16] Dr. August Klein, geb. 13.01.1838 in Leipzig, gest. 29.09.1912 in Hamburg, verheiratet seit 1865 mit Mathilde Bredt, Rechtsanwalt
[17] Die Firma „Leppoc & Drucker befand sich in der Katharinenstraße 14.
[18] Das Hotel de Pologne in der heutigen Hainstraße 16/18 wurde am 29. August 1846 durch einen Großbrand vollständig vernichtet.
[19] Heinrich Drucker, geb. 12.09.1837 in Braunschweig, gest. in San Francisco
[20] Emma Drucker, geb. Pollack, geb. 14.10.1825 in Frankfurt an der Oder, gest. 23.12.1888 in Leipzig. Sie heiratete am 17.01.1850 in Leipzig Siegmund Drucker. Ihr Grab befindet sich auf dem Alten Jüdischen Friedhof in der Berliner Straße.
[21] Therese Drucker, geb. 04.12.1851 in Leipzig, gest. 20.05.1927 in Leipzig, verheiratet seit 1874 mit Philipp Friedrich Theodor Frederking (1844-1914). Paul Drucker, geb. 18.01.1863 in Leipzig, umgekommen am 10.08.1942 in Theresienstadt.
[22] Die Grabtafel von Siegmund Drucker auf dem Alten jüdischen Friedhof in der Berliner Straße blieb erhalten. Sie wurde im Jahr 1997 restauriert.
[23] Marie Klein hatte insgesamt neun Geschwister, von denen allerdings drei sehr früh im Kindesalter starben.
[24] Die Ratsfreischule am Fleischerplatz wurde am 16.04.1792 zur Verbesserung der damals kläglichen Schulverhältnisse gegründet. Die Gründung war wesentlich dem damaligen Bürgermeister Carl Wilhelm Müller (1728-1801) zu verdanken. Die Ratsfreischule nahm Schüler ohne Schulgeld auf. Ihr erster Direktor war Karl Gottlieb Plato (1757-1833).
[25] das Anwaltsbüro von Karl August Klein befand sich im Haus Katharinenstraße 13, III. Etage
[26] M.D. sen. war im Juni/Juli 1856 Auskultator bei seinem späteren Schwiegervater, Advocat Carl Klein. Das war damals der erste Teil des praktischen Vorbereitungsdienstes, dem sich dann das Referendariat anschloss.
[27] Der erste Sohn wurde am 23. März geboren.
[28] mit gebrochenen Flügeln
[29] Der Mitschüler war der Pianist, Komponist und Musikprofessor Carl Heinrich Döring, geb. am 04.07.1834 in Dresden, gest. am 26.03.1916 in Dresden. Für die Identifizierung des Mitschülers habe ich Herrn Claudius Böhm vom Gewandhausarchiv herzlich zu danken.
[30] Die bis heute bestehende Studentenverbindung wurde 1802 durch Mitglieder der Rhenania Gießen gegründet.
[31] Der Inhaber des Verlages war zu dieser Zeit Dr. phil. Adolph Ambrosius Barth (1827-1869), der Enkel des Gründers. Er hatte die Schule in Schulpforta besucht und studierte in Leipzig und Berlin Naturwissenschaften. Durch den plötzlichen Tod seines Vaters war er gezwungen, den Verlag zu übernehmen. Er begründete den naturwissenschaftlichen Ruf des Verlages. Er war aber auch der Begründer der „Allgemeinen deutschen Strafrechtszeitung“.
[32] Die dritte Auflage mit Illustrationen von Max Klinger erschien 1882.
[32] Der von Martin Drucker sen. inszenierte humoristische Auftritt des Gesangvereins „Achtbarkeit zur Schnarrtanne“, einer Hottentottendeputation, die ihre „Nationalhymne“ sang und eines Vereins für Zukunftsmusik fand anläßlich des 40. Stiftungsfestes im Juli 1862 statt. Zur Weihnachtsfeier der Pauliner 1866 wurden neue Schnarrtannenlieder von Martin Drucker sen. aufgeführt. Bei der Weihnachtsfeier am 13.12.1872 wurden zwei neue Schnarretannenlieder, die damals im Druck erschienen waren, aufgeführt. (Vergleiche hierzu: Hundert Jahre Paulus 1822-1922, Leipzig 1922, S. 149, 174, S. 208)
[33] lachend die Wahrheit sagen
[34] Zur 450-Jahrfeier der Leipziger Universität schrieb Martin Drucker sen. einen Festgesang, welcher von Julius Rietz vertont wurde. Mit diesem Festgesang eröffneten die Pauliner den Festaktus am 2. Dezember 1859, Zum 40. Stiftungsfest der Pauliner vom 28.-30. Juli 1862 verfaßte er einen Leitfaden in Gedichtform, der das Programm des ganzen Festes enthielt. Sein Stück „Die Trichinierinnen“ wurde am 28. Juli 1862 im Hotel de Pologne aufgeführt. Dieses Stück wurde zehn Jahre später erneut zur Weihnachtsfeier aufgeführt. Auch zum 25jährigen Paulinerjubiläum Hermann Langers zu Pfingsten 1865 wurden von Martin Drucker sen. verfaßte Aufführungen gezeigt.
[35] Die Erstauführung fand am 28. Juli 1862 abends im Hotel de Pologne anläßlich des 40. Stiftungsfestes statt.
[36] Der illustrierte Festbaedecker des Paulus von Martin Drucker sen. erschien anläßlich des 50. Stiftungsfestes im August 1872.
[37] Im Manuskript fehlen die Daten des Doktordiploms.
[38] Das Recht Notare zu ernennen, wurde der Universität 1859 entzogen.
[39] Die Allgemeine Deutsche Credit-Anstalt (ADCA) wurde 1856 von Gustav Harkort (1795-1865) in Leipzig gegründet. Ihr Sitz befand sich seit 1872 am Brühl 75/77. Das Bankgebäude wurde im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstört. Die ADCA wurde 1945 in die Sächsische Landesbank überführt und firmiert heute als Rabobank Deutschland AG in Frankfurt am Main.
[40] Die Konditorei Felsche befand sich am Augustusplatz unmittelbar neben der Paulinerkirche. Das Gebäude wurde bei den Bombenangriffen im Februar 1945 zerstört. Das einstmals beliebte Café Felsche soll im Zusammenhang mit der Neugestaltung der Universität bis 2099 ebenfalls wiedererstehen.
[41] Die Kurprinzstraße wurde 1950 in Grünewaldstraße umbenannt
[42] Die Kramerstraße wurde 1949 in Ernst-Schneller-Straße umbenannt.
[43] Martin Drucker kam am 14.10.1873 nach Düsseldorf. Die Wohnung befand sich in der Kaiserstraße 47. Am 04.11.1874 hat sich die Familie wieder von Düsseldorf abgemeldet. (Information von Herrn Spahr, Stadtarchiv Düsseldorf)
[44] Das erste Markenschutzgesetz datiert vom 31.11.1874
[45] Korrekte Schreibweise: Tolhausen. T. war nicht von Adel.
[46] Die Regierung der Französischen Republik verlieh Martin Drucker sen. im September 1905 das Ritterkreuz der Ehrenlegion für die Besorgung der Rechtsgeschäfte des französischen Generalkonsulats in Leipzig.
[47] Makame ist eine Gattung der arabischen Prosa. Die Makamen des Hariri sind die bedeutensten Werke des klassischen Arabisch. Sie wurden von Friedrich Rückert (1788-1866) zwischen 1826 und 1837 frei nachgedichtet.
[48] Die Jobsiade ist eine Satire in Knittelversen des Bochumer Arztes Carl Arnold Kortum (1745-1824), die in den Jahren 1783/84 entstand. Das Werk hat später viele andere Künstler inspiriert, so auch Wilhelm Busch (1832-1908).
[49] Der Roman von Alphonse Daudet (1840-1897) erschien erstmals 1885.
[50] Adelheid Rothe geborene Klein (1840-1924) war die ein Jahr ältere Schwester von M.D.’s Mutter.
[51] Der Schlussvers von Friedrich Schillers Gedicht „Der Gang zum Eisenhammer“ (1797) lautet: Und gütig, wie er nie gepflegt,/Nimmt er des Dieners Hand,/
Bringt ihn der Gattin, tiefbewegt,/Die nichts davon verstand:/“Dies Kind, kein Engel ist so rein,/Laßt’s Eurer Huld empfohlen sein!/Wie schlimm wir auch berathen waren,/Mit dem ist Gott und seine Schaaren.“
[52] Der noch heute mit Hauptsitz in Wiesbaden existierende Musikverlag wurde 1719 von Bernhard Christoph Breitkopf (1695-1777) in Leipzig gegründet.
[53] Leopold Graf zu Stolberg-Stolberg/Franz Schubert
[54] Franz Schubert
[55] Korrekt Schreibweise: Hasenclever
[56] Weber-Rumpe, Hugo: Mnemonische Unterrichts-Briefe für das Selbststudium der Gedächtnißkunst, Breslau Selbstverlag ca. 1890
[57] Therese Drucker, verheiratete Frederking (1851-1927) war die Tochter von M.D.’s Großvater aus dessen zweiter Ehe mit Emma Pollack.
[58] Betty Fraenckel war verheiratet mit dem Kaufmann Bernhard Haller und lebte in Magdeburg.
[59] Zitat aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts entstandenen Studentenlied „O alte Burschenherrlichkeit!“
[61] Die Albertstraße wurde 1947 in Riemannstraße umbenannt.
[60] richtig: Reimer, Carl Traugott
[61] Grundirrtum, falsche Grundvoraussetzung als Quelle anderer Irrtümer.
[62] Der Vorname des Rektors der Thomasschule war Friedrich, nicht August.
[63] Vorgängerbau des 1882 an dieser Stelle (Wintergartenstraße 17/19) errichteten Krystallpalastes.
[64] Ich hasse das gemeine Volk.
[65] Jospeh Victor von Scheffel (1826-1886), „Als die Römer frech geworden“ (1847). In der Vertonung von Ludwig Teichgräber (1840-1904) aus dem Jahr 1875 avancierte das Gedicht zum beliebten Volkslied.
[66] korrekt: Errare humanum est. Irren ist menschlich!
[67] Wehret den Anfängen!
[68] ehrenvolle Haft
[69] Der Völkerrechtler Ludwig Beer (1866-1935) stammte aus Essen und war kein Thomasschüler. M.D. ist eine Verwechlung unterlaufen. Siehe hierzu das Biogramm zu dem Thomasschüler Ludwig Beer.
[70] Gelehrteste Primaner, meine Kinder!
[71] Relegation von der Schule
[72] Gemeint ist Otto Barth, geboren am 30.10.1869 in Liebertwolkwitz, der Postmeister in Schirgiswalde wurde.
[73] Hermann Triepel starb tatsächlich erst 1935.
[76] Der Reformationshistoriker Wilhelm M. (1838-189) hatte seit 1884 bis zu seinem Tod ein Professur an der Universität Leipzig inne.
[74] Uriel Acosta (1585-1640) war ein jüdischer Philosoph und Theologiekritiker. Gutzkows Drama entstand 1846.
[75] Heinrich Bulthaupt: Dramaturgie der Klassiker, Oldenburg 1882
[76] Gotthold Ephraim Lessing: Die Hamburgische Dramaturgie, 1767. Beinhaltet Theaterkritiken, die L. als Dramaturg des Deutschen Nationaltheaters in Hamburgschrieb.
[77] Stammgast
[78] Marino Falieri (1278-1355), Doge von Venedig. F. hat verschiedene Dichter (u.a.: Karl von Gutzkow, Martin Greif und Franz von Werner) zu Dramen inspiriert, allerdings konnte eines solches von Arthur Fitger nicht nachgewiesen werden.
[79] Vergebliche Bemühung
[80] Die Arionen wurden 1849 durch den Thomaner Richard Müller gegründet, um den Männergesang zu fördern. Der Name bezieht sich auf Arion, den griechischen Dichter und Musiker. Später erfolgte eine engere Bindung an die Universität und der Chor wurde eine studentische Verbindung. Die Verbindung zu den Thomanern blieb aber erhalten.
[81] Die Mutter von Achilles verbarg ihren Sohn in Mädchenkleidern, um ihn (vergebens) vor dem geweissagten Tod im Kampf um Troja zu bewahren.
[82] Heinrich Heine (1797-1856)), Anno 1839
[83] mit ureigensten Worten
[84] Das Trauerspiel „Herzog Ernst von Schwaben“ schrieb Friedrich Ludwig Uhland (1787-1862) im Jahr 1817.
[85] Der Vorname von Possarts lautete Ernst, nicht Emil.
[86] Wörtliches Zitat aus Gottfried August Bürgers (1747-1794) Ballade „Leonore“ (1773)
[87] Parodie auf Bürgers Ballade „Lenore“, welche beginnt: Lenore fuhr ums Morgenrot/Empor aus schweren Träumen:
[88] Gedicht von Emmanuel Geibel (1815-1884)
[89] Wer besitzt, der lerne verlieren,/Wer im Glück ist, lerne den Schmerz. Zitat aus „Die Braut von Messina“ (1803) von Friedrich Schiller (1759-1805)
[90] Der Weinhändler Theodor Rocholl gründete 1826 in Minden eine „Tabak- und Zigarrenhandlung“.
[91] Franz Ebhardt: Der gute Ton in allen Lebenslagen. Ein Handbuch für den Verkehr in der Familie, in der Gesellschaft und im öffentlichen Leben. Das Standardbuch der Etikette des Verlagsbuchhändlers E. erschien seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in zahllosen Auflagen.
[92] als Attribut ein Widerspruch
[93] Witte ist nicht Rektor der Thomasschule gewesen. Näheres in seinem Biogramm.
[94] Zitat aus: Johann Wolfgang Goethe „Zueignung“ (1787)
[95] Wo es gut ist, da ist Heimat.
[96] Zitat aus Ernst Benj. Sal. Raupachs (1784-1852) „König Enzio“ (1831)
[97] Friedrich Schiller, Das Lied von der Glocke
[98] Der Kotillon war ein zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Frankreich entstandener Gesellschaftstanz, ursprünglich für 4 Paare. Seit dem 19. Jahrhundert wurde der Kotillon mit scherzhaften Einlagen und Modetänzen (u. a. Polka, Walzer, Galopp) angereichert und bildete den Höhepunkt der Bälle.
[99] 1812 gegründete Studentenverbindung, welcher u.a. auch Richard Wagner angehörte. Seit 2001 ist das Corps Saxonia wieder in Leipzig aktiv.
[100] In der einzig greifbar gewesenen 2. Auflage der „Schonungslosen Lebenschronik“ aus dem Jahr 1921 finden sich die Bezüge auf Martin Drucker (S. 102), allerdings nur mit der Umschreibung „Mein Wildbacher Freund M.D. …“
[101] Das Corps Makaria wurde 1843 gegründet und besteht bis heute fort.
[102] Das Corps Transrhenania ist aus der 1866 gegründeten Fröhlich Pfalz, einer Gesellschaft pfälzischer Studenten und Offiziere in München, hervorgegangen. Diese nahm 1876 den Namen Studentenverbindung Transrhenania an.
III. Ginster
Ende November 1917 wurde eine der drei Kompanien eines Königlich-Sächsischen Landsturmbataillons, das in Danzig-Neufahrwasser am Rande des Krieges fast nur noch durch Wachdienst seine Daseinsberechtigung zu beweisen gehabt hatte, plötzlich nach Belgien versetzt, um die Bewachung des Zivilgefangenenlagers Diest zu übernehmen. Die Eisenbahnfahrt dorthin dauerte neun Tage; sie wurde bei verhängten Fenstern ausgeführt; wenn die Zuginsassen nicht nächtlicherweile an Verpflegstätten unerlaubterweise erfahren hätten, wo sie sich befanden, würden sie nicht entdeckt haben, dass die Lokomotive statt des direkten Weges einer Kreuz- und Querfahrt durch das deutsche Vaterland den Vorzug gab. Das tat der Truppe leid, denn sie fror erbärmlich. Aber man sah ein, dass die umständliche Beförderungsweise eine Vorsichtsmaßregel gegenüber der feindlichen Spionage darstellte. Die Entschlüsse der gegnerischen Strategen und damit die Kriegsgeschehnisse hätten wohl wesentlich beeinflußt werden können, wenn bekannt geworden wäre, daß etwa hundert betagte Landstürmer von Danzig-Neufahrwasser weggezogen und hinter der Westfront kaserniert wurden.
Als die Kompanie, froh, den steifen Gliedern endlich wieder etwas lebhafte Bewegung erlauben zu können, vom Bahnhofe Diest nach dem Städtchen marschierte, ritt ihr ein höherer deutscher Offizier, von einem Adjutanten begleitet, entgegen. Der Kompanieführer, ein Rittmeister der Reserve, im bürgerlichen Leben Assessor irgendwo im Harz, meldete vorschriftsmäßig: „Königlich-Sächsische Bewachungskompanie des Zivilgefangenenlagers Diest auf dem Marsche nach dem Bestimmungsorte.“ Die Antwort des Offiziers, dessen Schulterstücke ihn als Oberstleutnant charakterisierten, war ein freundliches Lachen! Befremdet wiederholte der Rittmeister seine Meldung in gemessener, vielleicht ein wenig übermilitärischer Accentuierung. Darauf der Oberstleutnant in fast liebenswürdigem Tone: „Ich danke, Herr Rittmeister. Sie wunderten sich wohl, weil ich lachte. Ich bin seit vorgestern aus Mecklenburg hierher versetzt als Kommandant des Zivilgefangenenlagers Diest. Aber Zivilgefangene sind noch nicht gemacht, und das Lager ist noch gar nicht eingerichtet!“
Nach dieser nüchternen Eröffnung setzte der Oberstleutnant sich an die Spitze der ihm unterstellten Kompanie und führte sie an das Tor einer kleinen augenscheinlich verlassenen Festungsanlage. In ihr sollte das Zivilgefangenenlager entstehen. Vorläufig gähnten den Einmarschierenden leere Räume entgegen, sodaß sofort ein Kommando, wohl nach Brüssel, abgeschickt werden mußte, um wenigstens die allernotwendigsten Bedarfsgegenstände zu beschaffen. Mißmutig ergriffen die alten Landsturmmänner Besitz von dem unwirtlichen Quartier, in das sie verschlagen worden waren, um einer mindestens vorläufig nicht erfüllbaren Aufgabe, der Bewachung nicht vorhandener Gefangener obzuliegen. Aber beschäftigt werden mußte die Truppe. Darüber wäre sich jedermann klar gewesen, auch wenn der Oberstleutnant nicht den Befehl erteilt hätte, ihm täglich die schriftliche Beschäftigungsanzeige für den nächsten Tag vorzulegen. So setzte denn der Rittmeister Reviereinrichtung und Exerzierdienst an. Der fand aber nur ein einziges Mal statt. Denn dann wurde der Rittmeister darüber belehrt, dass im Generalgouvernement Belgien Exerzierdienst nicht stattfinden dürfe! Als Ersatz für den verbotenen Dienst erfand man „Hofreinigen.“ Das hätte eigentlich Schneeschippen heißen können, der Ausdruck gehörte aber wohl nicht dem militärischen Schriftdeutsch an. Der unschätzbare Wert dieses Hofreinigens für den Verfasser des täglichen Beschäftigungsplans bestand darin, daß es keinen abschließenden Erfolg herbeiführte. Der dünne Schneefall hielt mehrere Tage an. Wenn also die Schaufeln und Besen ihren Rundgang über den Hof beendet hatten, so hatte inzwischen eine neu entstanden Schneedecke dafür gesorgt, daß auch für den nächsten Tag bedenkenlos wieder „Hofreinigen“ befohlen werden konnte. Dieser wohltuenden Einförmigkeit erwies sich indessen recht bald als Störenfried eine strahlende Dezember sonne. Das letzte Körnchen Schnee zerschmolz; noch einmal gekehrt, prangte der Hof in so fleckenloser Sauberkeit, daß, ihm eine abermalige Reinigung durch ein paar Dutzend Soldaten anzusinnen, geradezu als eine Blasphemie gewirkt hätte. Jetzt erreichte die Verlegenheit um den Aufbau der Beschäftigungsanzeige ihren Höhepunkt. Ein justitium hätte der brave Rittmeister-Assessor wohl ertragen, vielleicht sogar bisweilen sich dienen lassen. Aber eine Kompanie Soldaten nicht Dienst tun lassen zu können, weil sich eine noch so überflüssige Beschäftigung nicht ersinnen ließ, hätte den ganzen Militarismus bloßgestellt, und dazu durfte es auch ein Reserveoffizier nicht kommen lassen.
Um einen Trübsinnsausbruch bei seinem bedauernswerten Kompanieführer zu vermeiden, suchte sein Vizefeldwebel durch Befragung eines alten Sergeanten, der in zwölfjähriger Dienstzeit sich grenzenlose Praxis in der Erfindung von Beschäftigungen für seine Soldaten angeeignet hatte, der Verlegenheit abzuhelfen. Der alte Korporal wusste Rat. „Auf den Wällen der Festung steht Strauchwerk, das heißt bei uns wohl Ginster. Das brauchen wir nicht; die Gefangenen können auch nichts damit anfangen, wenn sie hier sein werden. Man kann es doch abschneiden. Damit bringt die Kompanie ein paar Tage hin.“
Das leuchtete dem Spieß ein, aber nicht minder dem Rittmeister. So besagte denn nun der neue Dienstplan, daß vom nächsten Tage ab bis auf weiteres von 8-11 Uhr „Ginsterschneiden“ stattfinde.
Die Mannschaft wurde nach streng militärischer Gepflogenheit eingeteilt; etwa so: „Sergeant A mit dem ersten Zug: Herbeischaffung, erforderlichenfalls Anfertigung von benötigten Gerätschaften. Unteroffizier B: Schneiden des Strauchwerks. Der dritte Zug versieht den Wachdienst. Wachhabender: Unteroffizier C. Aufsicht: Vizefeldwebel D.“
Die Dezember sonne des folgenden Vormittags bestrahlte eine frohe Arbeitsgemeinschaft. Ein Teil der Kompanie lief im Städtchen von Laden zu Laden mit dem schwierigen Auftrage, Baumscheren oder Gärtnermesser einzukaufen; inzwischen gingen die Leute des zweiten Zuges mit Taschenmessern oder ähnlichen Schneidewerkzeugen gegen die Ginsterbüsche vor, und die zum Wachdienst bestimmten Mannschaften erfreuten sich wundersamer Ruhe, weil überhaupt nichts zu bewachen und auch nicht das störende Heran- oder Vorbeikommen eines höheren Vorgesetzten zu besorgen war. Die Kompanie erlebte die glücklichsten Tage ihres Einsatzes im Weltkriege. Aber noch hatte sie statt waffenstarrender gefährlicher Feinde nicht alle die wehrlosen Sträucher niedergestreckt, als dieser Kampfhandlung Einhalt geboten wurde. Bei dem Oberstleutnant war von einer hohen Dienststelle, die sich wohl Generalinspektion der Festung im Generalgouvernement Belgien nannte, ein bitterböses Schreiben eingetroffen. Darin wurde die Wahrnehmung mitgeteilt, daß die auf den Wällen der Festung Diest zum Schutze gegen Fliegersicht gepflanzten Ginstersträucher von unbefugter Hand verschnitten, teilweise sogar gänzlich entfernt worden seien, und um Erörterung des Sachverhalts sowie Ermittlung der Täter ersucht!
Der Oberstleutnant tat das Klügste, was er tun konnte: er gab das Schreiben an die Kompanie weiter zur Beachtung und zum Bericht. Auf so bequeme Weise konnte allerdings der Kompaniechef sich die fatale Angelegenheit nicht vom Halse schaffen; er war die letzte Dienststelle. Ihm und dem Feldwebel wollte es scheinen, als ob das Unheil nicht überschätzt werden dürfe. Die ihres Schmuckes, wie man ahnungslos gemeint hatte, oder ihres Schutzes, wie die Festungsinspektion lehrte, beraubten Wälle umschlossen nicht mehr eine Festung oder irgendwelche andere militärisch wichtige Anlage, sondern eine vorläufig nur in der Idee vorhandene Zivilgefangenenanstalt. Das Ginsterschneiden hatte also die Wehrkraft des Heeres nicht beeinträchtigt. Überdies aber ließ sich im Notfalle der angebliche Schaden durch Neubepflanzung wiedergutmachen. Da das Ersuchen der Festungsinspektion nicht befristet war, bedeutete Zeitgewinn vielleicht fast soviel wie Erledigung. Aus solchen Betrachtungen erwuchs die Taktik, mit der der verlangten Erörterung näher getreten wurde. Ein Befehl des Rittmeisters ordnete umfassende Untersuchung an und ernannte den Feldwebel zum Untersuchungsführer, da er als Vizefeldwebel Offiziersdienst tat und wegen seines bürgerlichen Rufs – er war Rechtsanwalt[2] – zur Bearbeitung der Sache sich eignete. Als Protokollführer wählte und bestellte er einen Gefreiten, der nicht allzu hurtig schrieb. Dann begann er mit Vernehmungen, auf die er aber nicht sehr viel, sondern nur die Zeit verwenden konnte, die seinen sonstigen Dienstobliegenheiten entzogen werden durfte. Bei den Vernehmungen ging er sehr gründlich vor. Zunächst verhörte er alle Revierkranken, dann die Wachmannschaften. Sie versicherten alle, daß sie sich weder selbst an den Ginsterbüschen vergriffen noch andere dazu angestiftet oder bei solcher Tätigkeit unterstützt oder auch nur dabei beobachtet hätten. Die Protokolle dieser Nichtswisser, in umständlicher Befragung erwachsen und von dem bedächtigen Gerichtsschreiberadepten langsam zu Papier gebracht, füllten viele Bogen an und gleichzeitig manche Tage aus. Ehe aber die Untersuchung weiter auf das Küchenkommando und die Ökonomiehandwerker erstreckt werden konnte, fand die militärische Laufbahn des Feldwebels ihren Abschluss dadurch, dass er auf Reklamation einer höchsten Behörde[3] für ein Jahr in die Heimat beurlaubt wurde. Er legte seinen beleibten Aktenband in die Hände des Kompaniechefs. Dort ist er liegengeblieben, niemand hat wieder danach gefragt.
Das erfuhr der zeitweilige Untersuchungsführer, als nach Jahr und Tag der Frieden geschlossen war, von heimkehrenden Kameraden. Sie wußten auch Größeres zu berichten: Zivilgefangene waren nicht gemacht, das Zivilgefangenenlager Diest auch nie seiner Bestimmung gemäß errichtet worden!
[1] Diest ist heute eine Stadt in der belgischen Provinz Flämisch-Brabant mit ca. 20.000 Einwohnern.
[2] Dieser Rechtsanwalt war Martin Drucker.
[3] Das Reichsjustizministerium forderte M.D. an. Er sollte den damaligen Vorsitzenden des DAV Julius Haber (1844-1920) unter den erschwerten Bedingungen des Krieges zur Seite stehen.
Quelle: SächsStA-L, 22381 Nachlass Martin Drucker, Nr. 04
IV. J.S.L.
Einige Jahre vor dem Weltkriege verschwand vom „Brühl“, wie der Rauchwarenhandel und das Rauchwarenviertel Leipzigs nach der längsten es durchziehenden Straße genannt wird, der Händler Josef Singer. Da man über den Umfang seiner Geschäfte hinreichend unterrichtet zu sein glaubte, wurde mit dem Vorhandensein bedeutender Warenbestände gerechnet. Die Nachschau legte indessen die für die zahlreichen Gläubiger höchst verdrießliche Tatsache bloß, daß das Lager nahezu gänzlich ausgeräumt war. Auch in London, wo Singer ein Zweiggeschäft betrieben hatte, fehlte die Ware. Vermisst wurden u. a. große Mengen von Fuchsfellen, die Singer aus Alaska importiert hatte. Es entstand aber und hielt sich das Gerücht, daß er von London aus beträchtliche Rauchwarenpackungen an bösgläubige Empfänger versendet habe. Nicht nur der Konkursverwalter und die Staatsanwaltschaft, die ein Verfahren wegen betrügerischen Bankrotts gegen den Flüchtigen einleitete, sondern fast der ganze Brühl, voran die geprellten Gläubiger, bemühten sich um die Ermittlung der verborgenen Vermögensmasse, aber vergeblich.
Als es um die Affäre Singer beinahe schon still geworden war, kam irgendwie und irgendwo im Brühl ein Raunen und Flüstern auf über Singersche Ware, die nach Leipzig gelangt sein sollte. Wer diesen Gerüchten nachzugehen, sich bemüßigte, sah sie wohl in Kaffeehausgerede oder Markthelferklatsch sich verflüchtigen. Und doch hinterließ das brodelnde Geschwätz am Ende einen festen Rückstand, der einer amtlichen Bearbeitung unterzogen werden musste:
Die Firma Lifschitz & Gelberg hat vor einigen Monaten eine Lieferung Alaska-Füchse von Josef Singer aus London bekommen!
Diese Behauptung wurde das Rohmaterial, das, kriminalpolizeilich behauen und staatsanwaltschaftlich poliert, eine recht lesbare Anklageschrift gegen die Kaufleute Lifschitz und Gelberg wegen Beihilfe zum betrüglichen Bankrott ergab.
Die Firma Lifschitz & Gelberg gehörte weder zu den alten noch zu den großen Brühlunternehmen, aber ihre Inhaber waren in dem damals üppig blühenden Rauchwarenhandel zu lebhaftem Geschäftsgang und damit zu Wohlstand gelangt. Sie hatten sich nicht auf eine bestimmte Fellart spezialisiert, sondern handelten mit allerlei, darunter auch umfänglich mit Füchsen. Mit Josef Singer hatten sie in Verbindung gestanden. Alles das unterschied die Firma in keiner Weise von vielen anderen Teilnehmern an dem gewaltigen Brühlverkehr. Mit größter Entschiedenheit bestritten sie, mit Singer in Beziehungen geblieben zu sein oder gar Ware von ihm erhalten zu haben. Auf ihre Geschäftsbücher konnten sie zu ihrer Entlastung sich freilich nicht berufen, denn es lag zu Tage, daß sie über fraudulöse[1] Ein- oder Ausgänge keine Eintragungen gemacht haben würden. Die Befragung der nicht zahlreichen Angestellten zeitigte nichts Bedenkliches. Als Mitwisser wären sie auch teilnahmeverdächtig gewesen.
Aber eine eindeutige, unwiderlegbare erscheinende Belastung erwuchs aus den Aussagen zweier durchaus beachtlicher Zeugen. In dem Gebäudeviereck, in dem das Lager der Firma Lifschitz & Gelberg sich befand, betrieb auch ein Rauchwarenhändler M., griechischer Nationalität, seine Geschäfte. Er genoß überall den Ruf eines gewissenhaften, zuverlässigen und anständigen Mannes. Nach seinen klaren und bestimmten Angaben hatte er mehrere Monate vor seiner Vernehmung, als er im Hofe des Grundstücks mit einem Landsmann sprach, ein für Lifschitz & Gelberg bestimmtes, mit Rauchwarenballen belastetes Fuhrwerk stehen sehen. Aus einem beschädigten Ballen habe ein Fuchsfell herausgehangen. Ohne irgendwelche Absicht habe er hingeschaut und auf dem Ballen die Worte: „Josef Singer, London“ gelesen. Seinen Landsmann habe er darauf hingewiesen. Keiner von ihnen habe Anzeige erstattet. Sie wollten mit der Angelegenheit Singer, die sie nicht berührte, nichts zu tun haben, er selbst stehe auch mit dem Hausgenossen Lifschitz & Gelberg auf bestem Fuße. Leider habe aber nach geraumer Zeit sein Landsmann unbedachterweise doch einmal den Vorfall gegenüber anderen Brühlleuten gelegentlich erwähnt, so daß nun er selbst als Zeuge herbeigeholt worden sei.
Der andere Grieche, gleichfalls eine einwandfreie Persönlichkeit, bestätigte in vollem Umfange diese Aussage.
Darauf mußte die Staatsanwaltschaft die Verhaftung der beiden Beschuldigten und nach Anklageerhebung die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Schwurgericht herbeiführen.
Angeregt durch Justizrat Broda als den Verteidiger des Lifschitz erklärte ich auf Wunsch der Familie des mir unbekannten Gelberg mich zur Übernahme seiner Verteidigung unter der in meiner Berufstätigkeit stets grundsätzlich festgehaltenen Voraussetzung bereit, daß ich seinen Unschuldsbeteuerungen zu vertrauen vermöge. Im Untersuchungsgefängnisse fand ich einen völlig gebrochenen Menschen. Über die Tragweite der belastenden Aussagen, die ich mit ihm durchging, war er sich klar. Er versuchte nicht, an ihnen zu deuteln, sie abzuschwächen oder gar als erlogen hinzustellen. Gerade deshalb machte auf mich tiefen Eindruck die Schlichtheit seiner wiederholten Versicherung, daß er unschuldig sei, daß er von der angeblichen Fuchssendung Singers nichts wisse.
Der Staatsanwalt selbst räumte mir in einer kollegialen Unterredung ein, daß es ihm nicht leicht falle, Gelberg nicht zu glauben, daß aber doch über die belastenden Aussagen der beiden Griechen nicht hinweggegangen werden könne.
Einen anderen Standpunkt vertrat Justizrat Broda. Auf seine bedeutsamen Erfolge als Geschworenenredner vertrauend, erklärte er, es müsse und werde gelingen, die Griechen als unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Diese Zuversicht wagte ich nicht zu teilen. Ich grübelte vielmehr über Möglichkeiten einer objektiven Entlastung. Nach ihr tastend, suchte ich kurz vor dem Verhandlungstermin die Geschäftsräume der Firma Lifschitz & Gelberg auf, unterhielt mich mit den Angestellten, ließ mir Bücher vorlegen, Ware zeigen. Ich wollte in die Atmosphäre eintauchen, in der mein Klient die Straftat begangen haben sollte. Ich suchte nicht, aber ich fand.
Im Schwurgerichtssaale, dessen Zuhörerraum großenteils von Brühlleuten und von Bekannten der Angeklagten besetzt und dessen Juristentribüne ebenfalls ungewöhnlich gut besucht war, weil die Eigenartigkeit der Beweislage sich herumgesprochen hatte, machte sich zwar von Anfang an eine starke Spannung fühlbar. Ihr entsprach aber nicht der ruhige Verlauf der von einem unbefangenen und sachlich amtierenden Vorsitzenden geleiteten Verhandlung. Die Angeklagten erklärten sich für nichtschuldig. Dem Vorhalte der Zeugenaussagen trat Lifschitz, vermutlich auf Brodas Rat, erregt und mit Schärfe entgegen; Gelberg blieb mit leiser Stimme dabei, er wisse nicht, was die Griechen wahrgenommen hätten, aber seine Firma habe keine Ware von Singer bekommen.
Als der erste der Belastungszeugen hereingerufen wurde, beantragte ich, ihn nicht vor, sondern ausnahmsweise nach seiner Vernehmung zu beeidigen, weil ich ihm einige Fragen vorzulegen haben würde, bei deren Beantwortung er sich nicht durch vorherige Aussage gebunden fühlen solle. Der Vorsitzende willfahrte mir.
Der Zeuge wiederholte ruhig und klar, was er über seine Beobachtungen bei den früheren Befragungen zu Protokoll gegeben hatte. Er war offensichtlich in keiner Weise an dem Fall Singer oder gar an einer Überführung der Angeklagten interessiert, vielmehr schien ihm sein Hineingeraten in die Zeugenstellung peinlich zu sein. Daß ihm mehr als vier der zwölf Geschworenen – zu Bejahung der Schuldfrage waren acht Stimmen erforderlich – nicht glauben würden, mußte als ausgeschlossen gelten. Vergebens bemühte sich Broda, ihn durch verbindliche, dann durch schroffe Vorbehalte zu erschüttern. Danach machte ich vom Fragerechte des Verteidigers Gebrauch.
„Herr Zeuge, Sie haben aus dem beschädigten Ballen ein Fuchsfell oder mehrere herausdringen gesehen. Wie war die Farbe?“ „Ein lebhaftes Rot, Fuchsrot, wie man ja sagt.“
„Aus welcher Art Stoff bestand die Verpackung des Ballens?“
„Aus derber weißer Leinwand.“
„Wo war die Beschriftung: ‚Josef Singer, London‘ angebracht?“
„Um den würfelförmigen Ballen liefen, wohl unter der Verschnürung, Pergamentstreifen mit diesem Firmen Ausdruck.“
Die Verhandlungsteilnehmer hatten dieses Interrogatorium[2] mit Verwunderung, die Geschworenen es vielleicht mißbilligend als einen törichten Versuch verfolgt, den trefflichen Zeugen irre zu machen. Der Vorsitzende äußerte ruhig: „Ich nehme an, daß der Herr Verteidiger uns darüber unterrichten wird, wohin diese Fragen zielen.“
Darauf erwiderte ich: „Zur Vorbereitung dafür bitte ich, mir zu gestatten, jetzt sofort an den Herrn Sachverständigen einige Fragen zu richten.“ Der Verhandlungsleiter war einverstanden.
Als Sachverständiger war der Chef einer der angesehensten Brühlfirmen, Herr Lentsch, geladen, ein Mann von umfassender Kenntnis seines Geschäftszweiges. Er hatte in diesem Falle wohl nur den Wert der Felle begutachten sollen. Aber ich hatte bemerkt, dass er bei meinen Fragen und noch mehr bei den Antworten des Zeugen stutzte. Ich fühlte, daß ich auf dem richtigen Wege war.
„Herr Sachverständiger: Singer hat, wie feststeht, Alaskafüchse beiseite gebracht. Wie ist deren Farbe?“
„Man wird sie bräunlich nennen. Das Fuchsrot ist der Farbton des europäischen Fuchses.“
„Ist Ihnen bekannt, in welcher Verpackung Alaskafüchse versendet werden?“
„Das kann natürlich auf verschiedene Art geschehen. Die Benutzung von Leinwand halte ich schon wegen des langen Seetransports für ausgeschlossen. Innerhalb Europas kommt das wohl vor.“
“Können Sie sich über die beschrifteten Pergamentstreifen äußern, die der Zeuge wahrgenommen hat?“
„Ich bin darüber befremdet. Derartiges habe noch nie gesehen. Es muss sich um eine Eigenart des Lieferanten handeln, wenn der Zeuge sich nicht getäuscht hat.“
In die allgemeine Verblüffung, die diesem Zwiegespräch folgte, warf ich mit fester Stimme die Bemerkung: „Insoweit hat der Zeuge sich nicht getäuscht!“ und fuhr fort: „Herr M., sah der Pergamentstreifen etwas so aus, wie dieser hier?“
Bei diesen Worten mitten vor den Richtertisch tretend, hielt ich dem Zeugen einen mehrfach zusammengelegten, etwa vier Zentimeter breiten gelblich-weißen Pergamentstreifen hin.
„Ja, ja,“ rief M. aus, „das ist ein solcher Streifen!“
„Und diesen Streifen“, so fuhr ich mit erhobener Stimme fort, „habe ich vor einigen Tagen auf dem Lager der Firma Lifschitz & Gelberg an mich genommen. Was ist darauf zu lesen, Herr Zeuge?“ Triumphierend erklang die Antwort:
„Hier steht’s ja: J.S.L. – J.S.L. – J.S.L. !“
Wahrscheinlich hielten Geschworene und Zuhörer, wenn auch nicht Richter und Staatsanwalt, mich nunmehr für wahnsinnig. Lieferte ich doch eine Art Urkundsbeweis zur Bekräftigung der Zeugenaussage und damit zur Schuld des Angeklagten. Aber kaum hatte die überall im Saale ausgebrochene Unruhe sich einigermaßen gelegt, als ich den Griechen erneut anging mit dem Vorhalte:
„Sie sagten, daß Sie an der Aufschrift des Streifens Singersche Ware erkannt hätten. Wie war das möglich?“
„Nun, J.S.L., J.S.L., daß heißt doch Josef Singer London!“
Darauf ich:
„Nein! Das ist Ihr Fehlschluß, der zu der Anklage geführt hat. Hiermit übergebe ich dem Gericht ein Wareneingangsbuch der Firma Lifschitz & Gelberg. In ihm ist eingetragen, daß vor sieben Monaten, in der Zeit, in der Herr M. seine Beobachtungen gemacht hat, die Firma in der Tat mehrere Ballen Fuchsfelle bekommen hat, nur nicht Alaskafüchse, sondern Schweizer Ware, und zwar von J.S.L., nämlich: Jakob Schweitzer, Lindau!“
Erstaunen, Erregung, Ausrufe im ganzen Saale. Broda brach in Begeisterung aus. Lifschitz frohlockte. Gelberg weinte.
Verwirrt, erschrocken, sah der Zeuge drein. Ihn fragte der Vorsitzende, der seine überlegene Ruhe bewahrt und rasch die Ordnung wieder hergestellt hatte, ob er die Angabe aufrecht erhalte, die Worte Josef Singer, London gelesen zu haben.
Mühsam, stockend entrang sich tiefer seelischer Erschütterung eine Antwort, die etwa besagte: er sehe ein, daß er nur jene drei Buchstaben bemerkt habe; weil damals die Affaire Singer in aller Munde gewesen sei, müsse sich bei ihm die Ausdeutung der Buchstaben suggestiv eingestellt haben; was nur Vermutung gewesen sei, habe sich im Laufe der Zeit als Tatsache in seiner Erinnerung festgesetzt.
Um der Form zu genügen, wurden noch einige belanglose Feststellungen über die Schweitzerschen Lieferungen getroffen. Dann erklärte der Staatsanwalt, daß er auf weitere Beweisaufnahme verzichte; ihm schlossen Verteidiger und Angeklagte sich an. Die Umständlichkeiten des schwurgerichtlichen Prozesses mußten zwar respektiert werden. Aber selten werden Fragenverlesung, Plaidoyers, Rechtsbelehrung, Geschworenenberatung, Spruchverkündung, Schlussantragstellung, Beratung des Gerichts, Urteilsverkündung sich mit solcher Schnelligkeit und Selbstverständlichkeit abgewickelt haben wie in der Sache gegen Lifschitz und Gelberg.
Während die Freigesprochenen von ihren Verwandten und Freunden umringt, den Saal verließen, tauschen wir Juristen noch einige Worte erhebender Berufsfreude darüber aus, daß dieses Verfahren hart am Justizirrtum vorbei in ein unbezweifelbar richtiges Urteil gemündet habe.
[1] betrügerisch, trugvoll
[2] Fragen, die auf Antrag des Beweisführers dem Zeugen vorzulegen sind.
Anmerkung: Leo Lifschitz wurde durch JR Gustav Broda verteidigt. Es erschienen mehrere ausführliche Gerichtsberichte über dieses Verfahren im Leipziger Tageblatt vom 26.03.1906, 03.04.1906, 04.04.1906, 05.04.1906, 04.06.1906, https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/newspaper/item/3GJ5YLA6BVY2LFS2EMFQHVY6JUMK6GQA?tx_dlf[highlight_word]=%22Paul%2BGelberg%22&issuepage=3&query=%22Paul+Gelberg%22&hit=3 (11.08.2022)
Quelle: SächsStA-L, 22381 Nachlass Martin Drucker, Nr. 04
V. „Schlucken – -„
In mein Arbeitszimmer trat eine etwa dreißigjährige, bürgerlich schlicht gekleidete Frau. Aus ihrem Gesicht sprach Ängstlichkeit, Verlegenheit, Schamgefühl. Mit gutem Anstande nannte sie ihren Namen und fügte hinzu, sie sei an mich gewiesen worden, um mich zu fragen, ob ich bereit sei, die Verteidigung ihres Mannes zu übernehmen, der sich beim Amtsgericht in Untersuchungshaft befinde. Auf meine Frage nach dem Gegenstande der Beschuldigung erwiderte sie unter tiefem Erröten leise und schüchtern: „wegen Diebstahls“, entnahm ihrer Handtasche ein Schriftstück in dem mir wohlbekannten, von den Strafjustizbehörden verwendeten Umschlage und sagte mit zitternder Stimme: „Bitte lesen Sie selbst.“
Diese Anklageschrift richtete sich gegen den Hauptlehrer Wenzel Br. aus Schluckenau[1] in Böhmen. Ihm wurde zur Last gelegt, daß er, vor einigen Tagen nach Leipzig gekommen, mehrmals den Lesesaal der Universitätsbibliothek aufgesucht und aus dort der Allgemeinheit zugänglichen Büchern einzelne Blätter herausgeschnitten, auch mit sich genommen habe. In flagranti ertappt, hatte er begreiflicherweise nichts zu seiner Entlastung vorzubringen vermocht und saß als der Flucht verdächtiger Ausländer unter der Anklage des Diebstahls und der Sachbeschädigung in Untersuchungshaft.
Als ich von diesem nur allzu einfachen Tatbestande Kenntnis genommen hatte, mußte ich meine Besucherin, die auf eine dringliche Aufforderung des Mannes aus Schluckenau herbeigeeilt war, darauf hinweisen, daß die Sachlage keine angemessene Aufgabe für einen Verteidiger darbiete. Darauf aber antwortete sie zu meiner Überraschung, daß ihr von dem die Akten bearbeitenden Assessor, den ich nicht kannte, die Zuziehung eines Verteidigers sehr nahegelegt und mein Name genannt worden sei. Das machte mich stutzig. Ich ließ mir deshalb zunächst Näheres über die Persönlichkeit und den Lebensgang des Mannes sowie die Umstände mitteilen, unter denen er nach Leipzig gelangt sei.
Was ich erfuhr, war nicht viel. Immerhin stieß ich auf ein möglicherweise mit günstigem Erfolge zu verwertendes Körnchen. Br., der die übliche Lehrerausbildung genossen hatte, war schon lange an einer herausgehobenen deutschen Schule in Schluckenau angestellt. Er unterrichtete in den oberen Klassen und galt als eine ausgezeichnete Kraft. Außerberuflich führte er ein zurückgezogenes Leben, hatte Freude an der Natur und beschäftigte sich außerordentlich viel mit Literatur, hatte auch hier und da selbst zur Feder gegriffen. Mit seiner erheblich jüngeren Frau führte er eine glückliche Ehe, die aber kinderlos geblieben war. Seit etwa einem Jahre hatte sich sein sonst immer gleichmäßig gütiges Wesen merkbar verändert. Er zeigte zeitweise eine auffällige Erregbarkeit bei unbedeutenden Anlässen, schien gegenüber den gewohnten Beschäftigungen, auch dem Unterricht, Unlust zu empfinden und blieb tagelang untätig und übellaunig. Diese Zustände klangen alsbald wieder ab und wichen der hergebrachten Lebensweise. Der ihm wohlwollende Rektor hielt ihn für überarbeitet und hatte ihm deshalb einen längeren Urlaub erteilt oder verschafft. Um sich zu erholen, war Br. nach Dresden abgereist; in der dortigen Gegend wollte er einen Ruheplatz ausfindig machen. Daß er und warum oder wie er nach Leipzig gefahren sei, wusste seine Frau nicht. Er hatte ihr zu ihrem Befremden darüber keine Nachricht gegeben.
Ich schloß aus alledem, daß Br. sich in einem jener Zustände befände, den man zwar unwissenschaftlich, aber gemeinverständlich als Nervenzusammenbruch bezeichnet. Dessen Vorhandensein konnte einen Milderungs-, aber kaum einen Schuldausschließungsgrund ergeben. Interesse und Berufspflicht führten mich zu dem Verhafteten.
Ich war damals noch ein junger Verteidiger. Aber ich hatte bereits die Erfahrung erworben, daß nichts den Einblick in die Gemütsart des Klienten tiefer fördert als die Prüfung seiner Stellungnahme zu ganz außerhalb der ihm beigemessenen Straftat liegenden Dingen und daß gerade aus solcher Beleuchtung der Persönlichkeit sich oft wertvollste Schlüsse auf die Schuld oder Nichtschuld im einzelnen Falle ziehen lassen. So ging ich also zunächst nur ganz kurz auf die Geschehnisse im Lesesaal ein, die er weder bestritt noch zugab, und lenkte ihn dann auf seine Lebensgeschichte. Dass sie nichts Bemerkenswertes bot, wusste ich. Darauf kam es mir auch nicht an, sondern nur auf die Darstellung, die er geben würde. Er sprach etwas müde, aber in der Ausdrucksweise gut. Dabei machte ich eine höchst auffallende Beobachtung. Seine Heimat nannte er „Schlucken“. Es konnte sich um einen Lapsus oder um eine im Dialekt gebräuchliche Abkürzung handeln. Aber alsbald traten in seiner Erzählung andere Worte auf, denen er die Endsilbe entzog. So etwa Zoolog statt Zoologie, Reisekoff statt Reisekoffer, Einerl statt Einerlei. Diese Wahrnehmung ließ mich aufhorchen. Ich hatte als Student und in meiner Anwaltszeit mich mit Psychologie und Psychiatrie beschäftigt, Kollegien darüber gehört und Handbücher studiert. Daher wusste ich, daß jenes sonderbare Unterdrücken der Endsilben zu den Symptomen der Paralyse gerechnet werde. Lag diese Krankheit in vorgeschrittener Entwicklung bei Br. vor, so war er für seine Tat nicht strafrechtlich haftbar.
Ein namhafter Psychiater, dem ich meine dilettantische Diagnose unterbreitete, hielt sie grundsätzlich für beachtlich, glaubte aber ohne eigene Anschauung des Patienten sich nicht festlegen zu können. Der zuständige Richter gestattete die ärztliche Untersuchung. Bereits nach zwei oder drei Tagen lag das Gutachten vor: Br. leide an Paralyse, die so weit entwickelt sei, daß zu ihrer Feststellung es keiner Anstaltsbeobachtung bedürfe. Br. sei in schuldausschließendem Umfange geisteskrank.
Trotz dieses Ergebnisses mußte nach der Strafprozeßordnung die Hauptverhandlung stattfinden, weil das Hauptverfahren bereits eröffnet war. Zu ihm zog der Richter auch noch den Gerichtsarzt zu. Er schloß sich aufgrund selbständiger Untersuchung dem Gutachten des Privatarztes an, ging sogar in seinen Folgerungen darüber hinaus, indem er sich – in Abwesenheit des Angeklagten – dahin aussprach, in längstens ein bis zwei Jahren werde der Tod eintreten.
Der Freigesprochene reiste unter dem Schutze seiner Frau nach „Schlucken“ heim. Inwieweit er selbst die Ursache seiner Straffreiheit erkannt hatte, war mir zweifelhaft. Die Frau nahm das Schicksal, daß ihn und sie nach dem ärztlichen Befund erwartete, mit Fassung auf sich. Sie äußerte, daß sie sofort die Pensionierung ihres Mannes herbeiführen und sich bemühen werde, die ihm noch beschiedene kurze Lebenszeit durch liebevolle Pflege erträglich zu gestalten.
Zum nächsten Neujahrstage bekam ich von Wenzel aus Schluckenau eine Karte, auf der mir in einer zwar klaren und festen, aber jeder Eigenart entbehrenden Kinderhandschrift, wie sie nicht selten von Schreibunterricht erteilenden Volksschullehrern beibehalten wird, Glückwünsche und Grüße übermittelt wurden.
Nicht nur der Text, sondern schon die Anschrift war in einem unbeschreiblich schwülstigen Stil und unter Verwendung neuer sprachlich unmöglicher Wortbildungen abgefaßt. Da war etwa von „heilgrüßiger Dankbarkeit“, von „Verehrungstreue“, von „danktiefster Wohlmeinung“ die Rede. So fand die von den Ärzten diagnostizierte Geisteskrankheit ihre Bestätigung. Aber ich freute mich nicht allein über die durch das Schriftstück mir bewiesene Anhänglichkeit, sondern besonders auch darüber, daß der frühere Klient sich anscheinend wohl und in ruhig heiterer Stimmung befand. Ich antwortete ihm mit einigen freundlichen Worten. Als das Jahr vergangen war, traf wieder ein Neujahrsglückwunsch ein: an Herzlichkeit und Dankbarkeit gleich dem ersten, aber auch an Verrücktheit der Fassung und des Wortschatzes. Um es kurz zu machen: so haben sich diese Kundgebungen über zwei Jahrzehnte erstreckt! Ich erfuhr durch sie dann auch, daß Br. seinen 70. Geburtstag froh begangen habe; später, daß seine geliebte Frau gestorben sei. Nach der Angliederung Böhmens an das Dritte Reich verstummte Br. Da er das biblische Alter überschritten hatte, wird er eines natürlichen Todes gestorben sein. Darüber, wie er die ihm von den sachverständigen Ärzten zugebilligte Lebensdauer um das Zehn- bis Zwanzigfache zu überschreiten vermocht hat, erhält der Jurist sich jeder Mutmaßung.
[1] Heute: Sluknow in Tschechien
Quelle: SächsStA-L, 22381 Nachlass Martin Drucker, Nr. 04
VI. Begegnung in Gedanken
Beim Königlich‑Sächsischen Landsturmbataillon XIX,6 in Danzig‑Neufahrwasser lernte ich im Frühjahr 1917 einen Kaufmann und Fabrikanten Meixner aus Plauen kennen, der gleich mir als Vizefeldwebel eingezogen war. Wir bewohnten gemeinschaftlich mit Erlaubnis des Kommandeurs, eines Oberstleutnants von Wuthenau, auf eigene Kosten ein gutes Zimmer in einem am Strande des kleinen Fischer‑ und Badeortes Brösen[1] gelegenen Hause (Villa Seestern), wechselten in unserem Dienste, der nach unserer felsenfesten Zi-vilüberzeugung gänzlich überflüssig war, mit militärisch stumpfer Pünktlichkeit ab und traten einander menschlich näher in kameradschaftlichen Gesprächen über Heim, Familie, Beruf und über die mutmaßliche Dauer des Krieges, den wir als verloren ansahen. Meixner ersehnte die Rückkehr in seine Friedensverhältnisse auch im Hinblick auf ein Augenleiden, das nach seiner Ansicht von den in Danzig verfügbaren Ärzten nicht sachgemäß behandelt wurde und ihm deshalb die Entlassung aus dem Dienste nicht eintrug. So ließ ich ihn in Mißmut zurück, als ich Ende November nach Belgien versetzt wurde. Monate waren seitdem vergangen, ich arbeitete, auf eine Reklamation des Reichsjustizministers für ein Jahr beurlaubt, wieder in Leipzig, als Meixner mich dort aufsuchte. Nach längerer klinischer Beobachtung war er wegen des Augenleidens endlich für dienstuntauglich erklärt, über dessen Charakter aber nicht näher unterrichtet worden. Der auf meine Veranlassung von ihm konsultierte berühmte Augenarzt Professor Dr. Goldschmidt[2] kam zu einer sehr ernsten Diagnose, die er in ihrer ganzen Tragweite nur mir bekanntgab. Danach war der Sitz der Krankheit im Gehirn zu suchen. Mit hochgradiger Wahrscheinlichkeit werde alsbald volle Erblindung eintreten und in ein bis zwei Jahren der Tod.
Meixner, dem Goldschmidt als ein unverzagter Kämpfer für das Leben eine ärztlich anzuwendende Behandlungsweise vorgeschrieben hatte, reiste halb getröstet heim. Er schrieb mir wohl noch einige Male, ließ aber dann nichts mehr von sich hören. In den Wirren des Novemberzusammenbruchs erstarb unser Meinungsaustausch wie so viele ungleich engere persönliche Beziehungen.
Es war an einem Sonnabend im Herbst 1921, als ich in Bad Elster meine dort zur Kur weilende Frau besuchte. Zwischen 4 und 5 Uhr nachmittags lustwandelten wir auf einem der langgestreckten bequemen Promenadenwege, die die hügelige Landschaft durchziehen. Unter den uns entgegenkommenden Spaziergängern fiel mir plötzlich ein Herr in Begleitung einer Dame in die Augen. Überrascht erkannte ich meinen Kameraden Meixner, machte meine Frau darauf aufmerksam und schickte mich schon zur Begrüßung an. Inzwischen hatte sich das Paar uns bis auf wenige Schritte genähert. Da bemerkte ich, daß ich mich getäuscht hatte. Der Herr war mir fremd.
Meine Frau und ich sprachen über den seltsamen Irrtum. Ich hatte jahrelang kaum an Meixner gedacht, erst durch sein plötzliches Erscheinen war mir seine Gestalt und sein Schicksal wieder ins Bewußtsein getreten. Der bedauernswerte Mensch, so äußerte ich mich, wird wohl nach Goldschmidts Vorhersage längst tot und begraben sein.
Einige Stunden nach dieser Begegnung suchten wir eine bekannte Gaststätte zum Abendessen auf. Wir hatten noch nicht lange Platz genommen, als ein mit uns etwa gleichaltriges Ehepaar eintrat und die Richtung nach unserem Tisch einschlug. Mich erblickend, stutzte der Herr, machte eine Bemerkung zu seiner Frau und trat auf mich mit den Worten zu: „Drucker, sind Sie es wirklich?“ „Meixner,“ rief ich, „also doch!“
Nachdem wir uns wechselseitig mit unseren Frauen bekannt gemacht hatten, ließen die Ankömmlinge sich bei uns nieder. Und nun ergab das Gespräch alsbald einige Vorgänge, die auf abergläubische Gemüter unheimlich wirken müßten. Ohne daß ich die täuschende Nachmittagsbegegnung erwähnt hatte, erzählten Meixners, sie hätten heute einen Wochenendausflug von ihrem nahegelegenen Wohnorte Plauen nach Bad Elster unternommen und seien etwa halb fünf eingetroffen. Im Geplauder sei Meixner auf seine Kriegsdienstzeit, auf sein Augenleiden, das sich nicht verschlimmert hatte, und auch auf mich zu sprechen gekommen. Deshalb hatte ihn der Zufall, mich nun in der Gastwirtschaft zu treffen, so heftig überrascht. Unseren Spazierweg hatte das Ehepaar nicht betreten!
Meine Frau erzählte unser Erlebnis. Wir verfielen alle in einiges Nachdenken über die merkwürdige Parallelität unserer spontan aufgetauchten Erinnerungen; jeder versuchte mit dem eigengearteten Tatbestand sich abzufinden.
Ich selbst lehnte und lehne noch heute jede metaphysische Deutung ebenso ab wie die bedingungslose Verweisung auf den „Zufall“. Zufall war allenfalls, daß das Ehepaar Meixner wie manchmal, den Ausflug nach Bad Elster nun gerade an einem Tage machte, an dem auch ich dort mich aufhielt. Aber daß wir Männer dann, räumlich nahe aneinandergerückt, mit unseren Gedanken uns gegenseitig erfaßten, erscheint mir nicht befremdlich. Heute wissen wir noch nicht, aber unsere späten Nachkommen werden einmal erkennen, wie eines Menschen Gedanken wort‑ und drahtlos sein Hirn verlassen und in die Vorstellungswelt des Mitmenschen aufgenommen werden, um den sie kreisten.
[1] Heute: Brezno, ein Stadtteil von Danzig am Ufer der Danziger Bucht
[2] Der Augenarzt Prof. Dr. med. Max Goldschmidt betrieb noch 1928 seine Privatklinik in der Albertstraße 26. Er hatte an der Leipziger Universität den Lehrstuhl für Ophthalmologie inne. Von den Nationalsozialisten wurde er zwangsweise in den Ruhestand versetzt.
Quelle: SächsStA-L, 22381 Nachlass Martin Drucker, Nr. 04
VII. Nachwort
Martin Drucker schrieb seine Lebenserinnerungen während der letzten Kriegsmonate. Er hielt sich in dieser Zeit wiederholt in Aue auf und flüchtete schließlich vor der drohenden Deportation ins Konzentrationslager nach Jena. Dort erlebte er mit dem Rest seiner Familie den Einmarsch der Amerikaner.
Es war eine Zeit der von den Nationalsozialisten erzwungenen Untätigkeit. Unter diesen Umständen folgte Martin Drucker der Bitte seiner Schwiegertochter, seine Erinnerungen zu Papier zu bringen. Andernfalls wäre der Leipziger Rechtsanwalt, der nicht zur Selbstreflektion neigte, wohl niemals auf die Idee gekommen, seine Memoiren zu schreiben. Auch jetzt erfolgte diese Niederschrift ausdrücklich nur für die Nachkommen, war also ursprünglich nicht zur Veröffentlichung gedacht. Es ist der noch heute in Leipzig lebenden Tochter Renate Drucker zu verdanken, dass nunmehr die Erinnerungen ihres Vaters einer breiten Öffentlichkeit erstmals zugänglich gemacht werden können.
Die außergewöhnlichen Umstände der Niederschrift erklären auch das abrupte Ende. Mit dem Einmarsch der Amerikaner in Jena und schließlich auch in Leipzig endete für Martin Drucker die Zeit der Untätigkeit. Sofort stellte der 76-jährige seine ganze Kraft für den Wiederaufbau eines demokratischen Rechtsstaates zur Verfügung. Es blieb ihm deshalb in seinen beiden letzten Lebensjahren keine Zeit mehr für Selbstbetrachtungen.
An dieser Stelle soll deshalb der weitere Lebensweg des jungen Mannes aus dem jüdisch-protestantischen Bildungsbürgertum bis an die Spitze der deutschen Anwaltschaft nachgezeichnet werden.
1. Student in Leipzig
Zur Leipziger Studienzeit hat Martin Drucker in seinen unvollständigen Erinnerungen nicht mehr notiert, dass er hier erstmals mit Antisemitismus in Berührung kam. Dieser wurde unter der Führerschaft des Berliner Hofpredigers Stöcker durch den auch an der Leipziger Universität existierenden „Verein deutscher Studenten“ propagiert. Es gab zunächst keine Studentenorganisation, die der extrem nationalen und vor allem antisemitischen Weltanschauung dieses Vereines etwas entgegensetzen konnte.
Der Student Drucker gründete deshalb in Leipzig die „Freie Wissenschaftliche Vereinigung“, die an zahlreichen anderen Universitäten bereits existierte. Es kam zu Beginn der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts zu ernsthaften Auseinandersetzen zwischen diesen beiden Studentenorganisationen. Drucker wurden als Vorsitzenden der „Freien Wissenschaftlichen Vereinigung“ wiederholt Maßregelungen seitens der Universitätsbehörden angedroht. Es wurde auch beanstandet, dass die Vereinigung sozialdemokratische Mitglieder habe. Aus dieser Zeit rühren insbesondere die bis zur Ermordung anhaltenden freundschaftlichen Beziehungen zu dem Altersgenossen Karl Liebknecht.
Der liberale Lehrkörper der Juristenfakultät hat jedoch immer wieder Eingriffe der Universität in die Meinungs- und Redefreiheit verhindert. So konnte der junge Martin Drucker damals im Akademisch-Philosophischen Verein ungehindert einen Vortrag über Kants Schrift über den ewigen Frieden halten und seiner pazifistischen und kosmopolitischen Anschauung öffentlich Ausdruck verleihen.
Martin Drucker legte im Januar 1893 die erste Staatsprüfung ab. Seine Doktorarbeit „Die Konstruktion der Auslobung im justitianischen Recht in der Bedeutung für das heutige gemeine Recht“ wurde von Emil Friedberg als Doktorvater betreut und am 28. März 1896 mit „magna cum laude“ bewertet.
Im Juni 1896 absolvierte Drucker schließlich auch die große Staatsprüfung an der Juristenfakultät der Leipziger Universität mit Bravour.
2. Ehemann und Familienvater
Am 22. November 1898 heiratete Martin Drucker in Kötschenbroda Margarethe Mannsfeld, die Freundin seiner Schwester Betty. Die Familie Mannsfeld hatte bis zu dem frühen Tod des Vaters, der in Leipzig Richter war, in der unmittelbaren Nachbarschaft der Druckers in der Braustraße gewohnt.
Schon 1896 hatte Betty Drucker den Bruder ihrer Freundin Margarethe, Carl Mannsfeld[1], geheiratet. So kam es zu einer „doppelten Verschwägerung“ der Familien Drucker und Mannsfeld, über deren Folgen noch zu berichten sein wird. Margarethe Mannsfeld war am 1. Juni 1873 in Leipzig geboren und also zwei Jahre älter als ihre Freundin Betty. Mit der Heirat wurde eine über 40-jährige Partnerschaft begründet, die harmonisch und glücklich war, obwohl der Charakter und die Mentalität der Eheleute durchaus unterschiedlich waren. Margarethe war eine sensible Romantikerin, die versuchte, unter den Bedingungen der damaligen Zeit auch als Hausfrau und Mutter ihren eigenständigen Weg zu gehen.
Für die Haushaltsführung war sie natürlich wie alle Mädchen ihres Standes ausgebildet. Die tagtägliche Abrechnung sämtlicher Ausgaben entsprach wohl nicht dem Wesen der jungen Frau, die zeichnerisches Talent besaß und mit ihrem Mann die Liebe zur Musik und zur Literatur teilte. Die älteste 1903 geborene Tochter Martina beschrieb sie in ihrer Erinnerung als sehr strenge Mutter, die energisch die Erledigung der Hausaufgaben überwachte.
Ihr Rollenverständnis als Mutter hat sich gewandelt, denn die 1917 als viertes Kind geborene jüngste Tochter Renate kann sich nicht erinnern, von ihrer Mutter jemals für schlechte oder gute Noten bestraft oder besonders belobigt worden zu sein.
Diese differierenden Erinnerungen der beiden Töchter sind wohl durch die einschneidenden Veränderungen, welche der Erste Weltkrieg auch für die Familie Drucker bedeutete, erklärlich. Die nach Kriegsende einsetzende Emanzipationsbewegung ließ auch Margarethe Drucker nicht unbeeindruckt. Sie war wohl eine der wenigen Frauen, welche bereits damals Franz Kafka zu ihren Lieblingsautoren zählte.
Margarethe Drucker konnte ihre persönliche Erfüllung deshalb auf Dauer nicht nur als sorgende Hausfrau und Mutter finden und versuchte deshalb, sich eigene kreative Freiräume zu schaffen. Der Romanist Wilhelm Friedmann, der Anfang der 20er Jahre, nachdem die Großmutter Ottilie Mannsfeld gestorben war, bei Druckers in der Schwägrichenstraße 5 zur Untermiete wohnte, hat diese Bemühungen besonders begünstigt. Der mit den größten deutschsprachigen Literaten dieser Zeit, insbesondere mit Stefan Zweig, befreundete Friedmann brachte mit seinem typischen Wiener Charme und seinem einnehmenden Wesen die ganze Familie Drucker auf seine Seite.
Im Kreis der zahllosen, ständig im Hause ein und aus gehenden Freunde ihrer heranwachsenden vier Kinder fand Margarethe Drucker ihre wahre Erfüllung. Sie besaß eine besondere Ausstrahlung, welcher sich insbesondere die jungen Freunde ihrer Kinder nicht entziehen konnten. So lange sie im Raum war, war sie stets der Mittelpunkt der Gesellschaft. Sie vermochte alle mit ihrem Charme, ihrem außergewöhnlichen Intellekt und ihrer manchmal überbordenden Phantasie zu faszinieren.
Wenn sich Martin Drucker bei diesen Zusammenkünften auch nur selten sehen ließ, wurde bei diesen Gelegenheiten offenbar, welchen besonderen Einfluss auch er auf die zahlreichen gleich gesinnten Freunde seiner Kinder hatte. Nur wenige Worte oder Gesten genügten oft, um den Freunden zu zeigen, welches väterliche Interesse der berühmte Anwalt an ihrer Entwicklung hatte.
Die zahlreichen Freunde der Kinder, zu denen unter anderem auch Hermann Mau und Fritz Nachod gehörten, wurden von den Eltern wie zur Familie gehörend aufgenommen. Ganz besonders galt das für einen Freund Peters aus seiner Schulzeit in Salem. Der jüngste Sohn hatte dort eine enge Freundschaft mit Heiner Ackermann geschlossen. Der aus angesehener Freiburger Patrizierfamilie stammende Junge war frühzeitig Waise geworden und unterstand der Betreuung eines Vetters. Dieser hat die Interessen des Kindes jedoch offenbar nicht genügend wahrgenommen. Jedenfalls fand Heiner bei der Familie Drucker in Leipzig die vermisste familiäre Liebe und Nähe. Er besuchte von 1928 bis 1933 die Schule Schloss Salem, wo er als ein hervorragender Sportler, insbesondere als 10.000 Meterläufer Ansehen genoss. Nach der Machtübernahme durch Hitler verschlechterte sich der psychische Zustand des Jungen so dramatisch, dass Martin Drucker eingreifen musste. So wurde Heiner zunächst Lehrling in einer Leipziger Versicherung, weshalb er neben seinem früheren Spitznamen „Poppele“ nun auch „Glasstift“ gerufen wurde. Heiner musste sich jedoch in psychiatrische Behandlung begeben und kam in eine geschlossene Klinik südlich von Leipzig zu Dr. Sernau, der ein guter Bekannter Martin Druckers war. Er ermöglichte es, dass Heiner Ackermann die Kriegszeit unbeschadet überstand.
Gleiches kann von einem weiteren Freund leider nicht gesagt werden. Der hochbegabte Sohn des Leipziger Bankiers Breslauer war ein guter Klassenkamerad Peters an der Thomasschule. Die Familie emigrierte frühzeitig zunächst nach Rotterdam. Von dort erreichte die Familie Drucker dann die Nachricht, dass sich Bernhard Breslauer voller Verzweiflung vom Kirchturm gestürzt hatte.
Aus erhalten gebliebenen Briefen aus der Zeit nach 1945 geht hervor, dass die Verbindung zwischen Martin Drucker und den Freunden seiner Kinder auch später nicht abriss. Begierig suchten diese Freunde den Rat ihres großen Vorbildes. Es wurde für sie sehr wichtig, dass ihr Verhalten und ihre berufliche Entwicklung, gerade auch während des Nationalsozialismus, die Zustimmung Martin Druckers fanden.
Förmliche gesellschaftliche Zusammenkünfte waren bei Margarethe Drucker unbeliebt und sie versuchte immer wieder, sich solchen lästigen Verpflichtungen zu entziehen. Aber in diesem Punkt hatte sie – wenn auch weniger extrem – wieder eine Gemeinsamkeit mit ihrem Mann, der solche Dinge ebenfalls nicht besonders mochte.
Regelmäßige Besuche des nahe gelegenen Gewandhauses, wie auch der Leipziger Theater waren für die Eheleute eine wichtige Bereicherung. Durch die auch im Hause Drucker üblichen wöchentlichen Mittagstische für Studenten des Konservatoriums und der Akademie gab es darüber hinaus immer einen anregenden Kontakt mit dem künstlerischen Nachwuchs.
Der namhafte Münchner Kollege Max Friedländer verkennt die feine Ironie, die in der Beziehung der Druckers gepflegt wurde, wenn er in seinen Erinnerungen einen Ausruf Margarethes während einer der vielen öffentlichen Reden ihres Mannes interpretiert. Sie soll 1919 während der Rede begeistert zu Frau Estelle Dittenberger gesagt haben: Herrlicher Mann, herrlicher Mann! Friedländer irrt, wenn er hierin einen Beweis für eine undistanzierte Verehrung des Ehemannes durch Margarethe zu sehen glaubt.
Friedländer erinnert sich an Margarethe Drucker als eine charmante lebhafte Dame und glaubt, dass die Ehe später kriselte, weil die Ehefrau ihrem Mann nicht verzeihen konnte, dass er sich zu viel um den Deutschen Anwaltverein und zu wenig um sie kümmerte. Sicher hat die Ehe der Druckers auch Krisen gekannt, die zu einer zeitweisen Entfremdung führten. Die Gründe, welche Friedländer hierfür zu erblicken glaubt, sind aber mit Sicherheit unrichtig. Die Selbstständigkeit und die Freiräume, welche Margarethe in ihrer Ehe immer wichtig waren, widersprechen der Annahme, dass sie sich ausschließlich oder vordergründig nur als die Ehefrau Martin Druckers definierte.
Ihren 50. Geburtstag nutzte Margarethe Drucker, um ein deutliches Zeichen ihrer Emanzipation zu setzen. Die daheim gebliebene Familie erreichte an diesem Tag ein Telegramm folgenden Inhalts: Grüße vom Geburtstagsbubikind. Die 50-jährige hatte sich den herrschenden Konventionen zum Trotz an ihrem Geburtstag von dem als Belastung empfundenen langen Haar getrennt und sich einen modischen Bubikopf zugelegt. Die verhassten Haarklammern warf sie in weitem Bogen vom Balkon ihres Hotels auf die Straße. Dieser Befreiungsschlag führte später übrigens dazu, dass Margarethe Drucker in Leipzig ihren Friseur wechseln musste, da Herr Sorgler in der Beethovenstraße nicht bereit war, Haarschnitte bei Frauen zu tolerieren.
Da Margarethe Drucker nicht nur die Leidenschaft zu reiten mit ihrem Mann teilte, sondern auch Hunde liebte, spielten diese Tiere über viele Jahre im Familienleben eine dominierende Rolle. Als Wilhelm Friedmann in der Schwägrichenstraße wohnte, kamen zwei reinrassige schwarzhaarige Glatthaardackel namens Tristan und Waldi ins Haus. Tristan starb sehr früh, aber die Dackeldame Waldi trauerte und lachte über viele Jahre mit der ganzen Familie. Nachdem der Schmerz über den Tod Waldis verwunden war, wurde im Frühsommer 1932 eine etwa ein Jahr alte Tigerdogge angeschafft, die den stolzen Namen Nestor vom Eichberg führte. Dieser Hund wuchs natürlich enorm und musste tagtäglich mindestens sieben Stunden bewegt werden. Das führte dazu, dass die gesamte Familie, einschließlich des Herrn Justizrat, in die Betreuung dieses Familienmitgliedes eingebunden wurde. Nestor musste nach Kriegsbeginn Ende 1939 eingeschläfert werden, um ihm ein langes, qualvolles Ende zu ersparen.
Margarethe Drucker liebte die Natur. Ihr geradezu schlafwandlerisches Orientierungsvermögen wurde von ihrem Mann, der sich kaum irgendwo zurechtfand, immer wieder bewundert. So war es selbstverständlich, dass die Familie immer wieder Urlaubsziele wählte, die Berge und Wasser vereinten.
Als sich 1913 die Gelegenheit bot, in Niedergräfenhain ein leer stehendes ehemaliges Pfarrhaus als Wochenenddomizil zu nutzen, war sie es, die dafür sorgte, dass dieses Haus auf dem Lande gerade während des Ersten Weltkrieges zum Ruhepol für die gesamte Familie wurde. 1923 benötigte die Gemeinde das für ein Wochenenddomizil recht große Haus, um Arbeiter unterzubringen, weshalb der Pachtvertrag endete.
Der Beginn des Ersten Weltkrieges musste für den Pazifisten Martin Drucker eine schwere Belastungsprobe darstellen. Schon die Weigerung eine Offizierslaufbahn zu bestreiten, hatte unter seinen Standesgenossen Aufsehen und Unverständnis erregt. Als er dann im November 1915 in einer Leserzuschrift an das Leipziger Tageblatt nachwies, dass die an den Anschlagsäulen der Stadt erfolgte Einberufung seines Jahrganges rechtswidrig war, kam es zu einer Konfrontation mit dem Bezirkskommandeur Generalmajor Leimbach. Dieser war nur schwer wieder zu beruhigen. Dass Martin Drucker dann trotzdem eingezogen wurde, ist wohl auch auf seine öffentliche Unbotmäßigkeit zurückzuführen.
Seine Dienstzeit hat Martin Drucker später trotzdem in geradezu schwejkscher Manier unter dem Titel „Ginster“ zu Papier gebracht. Auf Intervention des Reichsjustizministeriums wurde er bald wieder nach Leipzig entlassen, um dort als Schriftführer des DAV dem von ihm verehrten Vorsitzenden Julius Haber in schwerster Zeit beistehen zu können.
Die für Martin Drucker so wichtige Möglichkeit, in der kurzen freien Zeit mit der Familie aufs Land zu flüchten, ergab sich dann erst wieder Ende 1932. Als Wilhelm Ostwald im April 1932 starb, standen in Großbothen die von ihm in idyllischer waldreicher Lage für seine Kinder errichteten Häuser teilweise leer. Andererseits besaß die Witwe Ostwalds nicht die finanziellen Mittel, um die Häuser zu erhalten. Deshalb wurde von Martin Drucker nach dem Tod Ostwalds im April 1932 das Haus „Glück auf!“ durch Vermittlung des Bruders Carl Drucker, der Assistent bei Wilhelm Ostwald gewesen war, von dessen Erben angemietet. Dieses Haus auf dem Land mit seinen insgesamt 16 Schlafplätzen erwies sich in den folgenden finsteren Jahren für die Familie und den außerordentlich umfangreichen Freundeskreis der Kinder als besonderer Glücksfall.
Während Martin Drucker gemeinsam mit Fritz Grübel über Monate in höchster Anspannung in Berlin in dem Aufsehen erregenden Prozess Petschek gegen Caro auftrat, widmete sich Margarethe Drucker mit viel Liebe für jedes Detail und unter strenger Beachtung der beschränkten zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel der Einrichtung des neuen Wochenenddomizils. Sie schuf für die Familie eine ländliche Idylle, einen Hort der Ruhe und Entspannung. Hier zogen die Druckers am Heiligen Abend 1932 ein.
Margarethe Drucker war ihrem Mann eine ebenbürtige Partnerin in einem Sinne, wie es damals noch nicht üblich war. Sie verfolgte die Arbeit ihres Mannes mit großem Interesse, wie Briefe aus der Zeit des Caro-Petschek-Prozesses belegen. Sie litt unsäglich, vielleicht sogar mehr als Drucker selbst, an den Verfolgungen, Diffamierungen und Repressalien, denen der Leipziger Rechtsanwalt nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt war. Diese ständigen Angriffe auf ihren Mann und insbesondere die brutale Gewalt gegen die Leipziger Juden, die sie in der berüchtigten Pogromnacht im November 1938 entsetzt miterleben musste, haben ihr Leben entscheidend verkürzt.
Margarethe Drucker, schon seit längerer Zeit herzkrank, starb erst 65-jährig am 21. Januar 1939. Sie fand ihre letzte Ruhestätte, ihrem Wunsch gemäß mit einem einfachen Holzkreuz versehen, auf dem Leipziger Johannisfriedhof.
Mit dem Tod seiner Frau ging für Martin Drucker ein weiterer, entscheidender Lebensabschnitt zu Ende. Margarethe fehlte ihm gerade in der nun folgenden dunklen Zeit, die noch so viel von ihm abverlangte. Aber auch die zahlreich auf dem Friedhof erschienenen Freunde und Freundinnen ihrer Kinder hatten Tränen in den Augen, als sie Abschied von dieser im wahrsten Sinne des Wortes besonderen Frau nehmen mussten.3.
3. Der erfolgreiche Rechtsanwalt (1898-1933)
Bereits am 17. Juni 1898 wurde Martin Drucker jun. als Rechtsanwalt vereidigt. Er konnte seine Tätigkeit in der weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Kanzlei seines Vaters, welche sich zu diesem Zeitpunkt noch in dem nicht mehr existenten Haus Neumarkt 29 befand, aufnehmen. Erst etwa um die Jahrhundertwende bezog die Anwaltskanzlei ihren endgültigen Sitz in der Ritterstraße 1-3.
Die Tätigkeitsschwerpunkte des jungen Anwaltes waren natürlich durch das Profil der anwaltlichen Arbeit des Vaters vorgeprägt. Hierzu gehörte zunächst insbesondere das damals noch relativ neue Internationale Markenrecht mit allen angrenzenden Rechtsgebieten.
So ist auch erklärlich, dass heute nicht mehr mit Bestimmtheit festgestellt werden kann, ob Drucker sen. oder jun. der Verfasser zweier rechtsvergleichender Aufsätze zum spanischen und zum portugiesischen Markenrecht im Jahr 1912/1913 war.[2] Keinesfalls beschränkte sich Martin Drucker jun. in seiner anwaltlichen Tätigkeit jedoch auf dieses Rechtsgebiet. Martin Drucker genoss insbesondere als Strafverteidiger besonderes Ansehen. Naturgemäß ist wegen der bereits damals üblichen Resonanz in der Presse diese Arbeit des Leipziger Anwalts heute noch am besten nachzuzeichnen. Es muss jedoch der Versuchung begegnet werden, eine Übergewichtung des strafrechtlichen Engagements Druckers vorzunehmen, denn er war im Unterschied zu anderen in dieser Zeit tätigen Kollegen, insbesondere des sicher namhaftesten Berliner Strafverteidigers Prof. Dr. Max Alsberg, keinesfalls so ausschließlich auf diese Rechtsmaterie fixiert. Aber trotzdem soll an dieser Stelle auf einige bedeutende, von ihm vertretene Strafsachen eingegangen werden. Entscheidenden Einfluss auf den Ruf des jungen Anwalts als exzellenter Strafverteidiger weit über Leipzigs Grenzen hinaus hatte die erfolgreiche Vertretung der Hauptangeklagten im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der 1838 als erste private Notenbank Sachsens gegründeten Leipziger Bank Ende Juni 1901[3]. Den Angeklagten war betrügerischer Bankrott vorgeworfen worden. Die außerordentlich verwickelten Hintergründe des Bankencrashs waren aber hier offensichtlich so, dass der Zusammenbruch von Berliner Großbanken zielgerichtet provoziert worden war.
Wie Dr. Fred Grubel, ein enger Mitarbeiter von Justizrat Drucker, sehr zutreffend feststellte, kam dem Leipziger Anwalt in dieser Sache damals nicht nur die exzellente Beherrschung des Strafprozesses zugute, sondern insbesondere seine Fähigkeit zur „scharfsinnigen Analyse komplizierter Wirtschaftsvorgänge und bis dahin kaum erprobter Gesetzesvorschriften.“[4] Der damals 33-jährige Rechtsanwalt erreichte durch sein Engagement einen Freispruch der Hauptangeklagten von dem Vorwurf des betrügerischen Bankrotts. In diesem Verfahren traf er auch mit seinem Kollegen Karl Rothe, dem späteren Leipziger Oberbürgermeister, zusammen, welcher als Direktor der Leipziger Hypothekenbank in das Verfahren involviert war. Die beiden Rechtsanwälte blieben ihr Leben lang freundschaftlich verbunden.
Martin Drucker kaufte von dem ersten nennenswerten Honorar, welches er aus diesem Prozess verdiente, für seine Frau einen Bechstein-Flügel. Dieser stand dann viele Jahre im Zentrum des offenen musikalisch-literarischen Familienlebens in der Schwägrichenstraße. Die Eheleute Drucker spielten darauf gemeinsam ebenso selbstverständlich, wie die zahlreichen Gäste und Freunde der Familie. Spontane Musikeinlagen gehörten in der musikliebenden Familie damals zum Alltag. Der geliebte Flügel konnte sogar trotz Lebensgefahr und mit gemeinsamer Anstrengung von Freunden und Bekannten am 27. Februar 1945 in letzter Minute aus den Flammen gerettet werden.
3.1. Verteidigung von Bruno Apitz und Rosa Luxemburg
Zu seinen heute noch bekannten Mandanten gehörte gegen Ende des Ersten Weltkrieges der damals gerade 17-jährige Bruno Apitz, der spätere Autor des Buchenwald-Romans „Nackt unter Wölfen“. Apitz war damals vor dem Reichsgericht mit weiteren Angeklagten vorgeworfen worden, in Leipzig durch Flugblätter und Reden zum Massenstreik aufgerufen zu haben, um die Aufnahme von Friedensverhandlungen zu erzwingen.
Aber auch Rosa Luxemburg verteidigte Martin Drucker etwa um 1917 auf persönliche Empfehlung ihrer langjährigen Freundin und Beraterin Mathilde Jacob in einem Prozess wegen Beleidigung eines Kriminalbeamten vor dem Reichsgericht.[5]
3.2. Elisabeth Förster-Nietzsche
Druckers hervorragender Ruf als Spezialist für Urheberrecht ist heute noch belegbar[6] durch ein Mandat, welches ihm im Jahr 1929 erteilt wurde. Als Elisabeth Förster-Nietzsche, die Schwester Friedrich Nietzsches[7], für das Nietzsche-Archiv eine außerordentlich verwickelte Auseinandersetzung um die Abrechnung von Honoraren mit dem Leipziger Alfred Kröner Verlag zu führen hatte, kam für sie selbstverständlich nur der beste Anwalt auf diesem Gebiet in Frage. Drucker war erfolgreich und der Verlag wurde durch Urteil des Landgerichts Leipzigs antragsgemäß zur Zahlung verpflichtet.
Seiner Gewohnheit entsprechend hat Martin Drucker einen bei ihm damals beschäftigten Referendar in die Bearbeitung des Mandates einbezogen. Dieser begabte Jurist hat sehr gute Arbeit geleistet, aber nach 1933 den Schriftverkehr mit der von ihm hochverehrten Mandantin hinter dem Rücken seines Chefs weitergeführt. Drucker wäre sicher sehr überrascht gewesen, wenn er erfahren hätte, dass sein Referendar seine Honorarrechnungen auf Richtigkeit prüfte und sich euphorisch über die Machtübernahme Hitlers und die herausgehobene Rolle, welche Elisabeth Förster-Nietzsche nunmehr spielte, geäußert hat. Der von seinem Chef ganz besonders geförderte Referendar begrüßt in einem persönlichen Brief an die verehrte Schwester Nietzsches die Maßnahmen gegen die „vaterlandslose Geschäftstüchtigkeit“ der Juden und schränkt dann allerdings großmütig ein: „Ich glaube nicht, dass Herr Drucker die ihm widerfahrene Behandlung verdient hat.“
Hier findet sich ein einziges Mal ein Hinweis, dass Druckers ausgeprägte Menschenkenntnis versagt hat. In Kenntnis dieser Äußerungen hätte er sich mit Sicherheit nach 1945 nicht so vehement für diesen ehemaligen Referendar eingesetzt. Seine Einschätzung der juristischen Begabung war aber vollkommen richtig, wie die spätere Karriere dieses Ungetreuen als Hochschullehrer in der Bundesrepublik eindrucksvoll bestätigt.
3.3. Der Caro-Petschek-Prozess
Ein „Gesellschaftsskandal“ beschäftigte die Kanzlei Drucker im Jahr 1932 besonders intensiv. Auch die Presse, insbesondere die Berliner Tageszeitungen, berichteten über den über mehrere Monate laufenden Prozess hauptsächlich aus zwei Gründen: Einerseits standen sich hier – leider jüdische, wie Fred Grubel in seinen Erinnerungen[8] schreibt – Personen des öffentlichen Lebens gegenüber, andererseits wurden deren Interessen durch zwei der namhaftesten und profiliertesten Anwälte dieser Zeit vertreten, nämlich Prof. Max Alsberg und Justizrat Martin Drucker.
Der Chemiker Nicodem Caro, der gemeinsam mit Adolf Frank das Verfahren zur Erzeugung von Kalkstickstoff aus Luft, das so genannte Frank-Caro-Verfahren, entwickelt hatte, wurde in diesem Verfahren von dem unbestritten namhaftesten Strafverteidiger Alsberg, von Rudolf Dix, dem Nachfolger Martin Druckers im Amt des Präsidenten des DAV, und dem früheren preußischen Justizminister Heine vertreten. Justizrat Drucker vertrat in diesem Verfahren den früheren Schwiegersohn Caros, Ernst Petschek. Dessen Vater Ignatz Petschek gehörte zu den größten tschechischen Braunkohlenhändlern und hatte auch wesentlichen Einfluss auf die mitteldeutsche Braunkohlenwirtschaft.
Zur Vorgeschichte des Verfahrens gehört, dass Caro nach der erfolgten Ehescheidung seiner Tochter von seinem früheren Schwiegersohn eine Mitgift von 300.000 Mark zurückforderte. Nachdem Petschek behauptet hatte, dass er sich an eine solche Zahlung nicht erinnern könne, sagte Caro, dass er sogar eine Quittung hierüber besäße. Petschek hat dann versucht, diese ominöse Quittung im Wege einer einstweiligen Verfügung sicherstellen zu lassen. Als der Gerichtsvollzieher im Hause Caro erschien, behauptete dieser, die Quittung soeben in der Toilette weggespült zu haben. Die wegen der Behauptungen Caros in ihrer Ehre verletzten Petscheks erstatteten nun Strafanzeige wegen Urkundenfälschung.
Caros Kontakte zu höchsten Regierungsstellen führten jedoch offenbar dazu, dass die gebotene Klageerhebung seitens der Staatsanwaltschaft rechtswidrig verweigert wurde. Petschek erhob daraufhin beim Berliner Kammergericht Klage mit dem Ziel, die Staatsanwaltschaft anzuweisen, Anklage gegen Caro wegen Urkundenfälschung zu erheben.
Die Angelegenheit erregte immer mehr öffentliches Aufsehen. Die zwischen Alsberg und Drucker zeitweise eskalierenden Auseinandersetzungen waren Berliner Tagesgespräch. Der Leipziger Anwalt wurde mehrfach als Sachse verhöhnt, obwohl er ein perfektes hochdeutsch sprach. In einem Zeitungsbericht wird Drucker in übelster Weise als Jude[9] verhöhnt. Es ist nicht bekannt, ob er diesen Bericht gelesen hatte, aber die antisemitischen nationalistischen Angriffe gegen ihn, wie auch seine Mandanten, sind mehrfach in der Familie besprochen worden.
Vor dem Berliner Landgericht standen sich in diesem „abscheulichsten Prozess aller Zeiten“[10] zwei Juristen gegenüber, die in ihrer Wesensart unterschiedlicher kaum sein konnten, die jedoch ihre wechselseitige kollegiale Hochachtung wiederum verband. Der jüdische Rechtsanwalt Max Alsberg liebte, ganz im Gegensatz zu Drucker, den großen dramatischen Auftritt. Er genoss es, bei diesem, wie auch bei anderen großen Strafprozessen, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Die unmittelbar nach der Machtergreifung gegen ihn einsetzenden Angriffe trafen ihn daher bis ins Innerste.
Eine unrühmliche Rolle in diesem Verfahren spielte im Übrigen auch der ebenfalls auf der Gegenseite agierende, aus Leipzig gebürtige Berliner Anwalt Dix. Der Nachfolger Druckers im Amt des DAV-Präsidenten griff die Gegenpartei mit scharfen nationalistischen Tönen, im Sprachgebrauch der Nationalsozialisten an, weil diese einen englischen Schriftsachverständigen als Zeugen benannt hatten. Unausgesprochen blieb allerdings, dass Alsberg in einer Nacht- und Nebelaktion alle namhaften deutschen Schriftsachverständigen für seine Partei verpflichtet hatte. So hatte Druckers Mandantschaft gar keine andere Möglichkeit, als einen ausländischen Sachverständigen zu benennen. Da Dix die verbalen, aber auch physischen Bedrohungen der Gegenseite durch die Nationalsozialisten in den Verhandlungspausen nicht verborgen geblieben sein können[11], ist sein Verhalten unentschuldbar. Diese nationalistischen Angriffe hatten keine Relevanz für die zu erörternden Sach- und Rechtsfragen. Sie dienten einzig dem Ziel, die Petscheks, aber auch deren Leipziger Vertreter in den Augen der Öffentlichkeit zu diffamieren.
Bemerkenswert bleibt, dass Drucker von seinen Mandanten trotz des letztendlich verlorenen Prozesses mit großer Dankbarkeit für seinen Einsatz bedacht wurde. Alsberg hingegen hat für seine Tätigkeit von Caro nicht einmal sein Honorar bezahlt bekommen.
3.4. Rosalie Ullstein, geborene Gräfenberg
Gemeinsam mit Max Alsberg war Martin Drucker im März 1931 im Zusammenhang mit dem Familieneklat, der das berühmte Haus Ullstein damals erschütterte, erfolgreich tätig gewesen. Als Franz Ullstein zum Missfallen seiner Familie Rosi Gräfenberg heiratete, setzte eine üble Verleumdungskampagne ein. In deren Zentrum stand die mit gefälschtem Material untermauerte Behauptung, dass Rosi Ullstein für Frankreich spioniert habe. Zu dieser Zeit war kaum ein Vorwurf denkbar, der eine Person des öffentlichen Lebens in Deutschland härter treffen konnte. In den daraufhin einsetzenden wechselseitigen Klagen vertraten die Rechtsanwälte Drucker, Alsberg und Dix die Beklagten Franz Ullstein und den Schriftsteller Josef Bornstein in einer Privatbeleidigungsklage, die der frühere Chefredakteur der „Vossischen Zeitung“, Professor Georg Bernhard, gegen diese angestrengt hatte.
3.5. Der angeklagte Staatsanwalt
Lange vor der Machtübernahme Hitlers im Jahr 1933 war Drucker in seiner anwaltlichen Tätigkeit wiederholt in politische Auseinandersetzungen mit den Nationalsozialisten involviert.
Besonderes Aufsehen hat der Fall des Weimarer Oberstaatsanwalts Frieders in ganz Deutschland ausgelöst. In Thüringen hatte im Ergebnis der Landtagswahlen vom 10.02.1924 der so genannte Ordnungsbund, bestehend aus den Deutsch-Nationalen, dem Landbund und der Deutschen Volkspartei, die Mehrheit um nur zwei Stimmen verfehlt. So wurde unter Einbeziehung der sieben Völkischen (Nationalsozialisten) Abgeordneten erstmals eine Rechtsregierung gebildet. Eine wesentliche Zielrichtung dieser Regierung war die Abrechnung mit den Linken, d.h. den Kommunisten und den Sozialdemokraten, die durch ungezählte politische Prozesse erfolgte. Einige davon haben damals für große Aufregung gesorgt. Hierzu gehörten die Verfahren gegen den früheren sozialdemokratischen Innenminister Hermann und den Staatsbankpräsidenten Loeb.
Die Zielstellung dieser politischen Abrechnungen wurde häufig verschleiert. Anders verhielten sich insbesondere die Völkischen immer dann, wenn die Angegriffenen Juden waren. Der Abgeordnete Dinter hatte bereits damals die Gründe hierfür wie folgt genannt: „Jeder Jude, auch wenn er noch so anständig und ehrbar ist, bildet eine Gefahr für den Staat.“
Der junge und außerordentlich erfolgreiche Präsident der Thüringer Staatsbank Loeb war Jude und sollte deshalb trotz seines Erfolges unbedingt entfernt werden. Da es hierfür keine sachlichen Ansätze gab, wurden die abwegigsten Gründe gesucht. Es bestand für die Regierung die ernsthafte Gefahr, dass enorme Schadenersatzverpflichtungen aus der grundlosen Entlassung Loebs entstehen könnten. So wurde schließlich der Weimarer Leiter der Staatsanwaltschaft Frieders, welcher erst 1922 von Trier nach Thüringen gekommen war, in diese Aktionen einbezogen. Ihm wurde vorgeworfen, in dem Ermittlungsverfahren gegen Loeb einen Meineid geleistet zu haben. Die bösartigen Angriffe erreichten ihren Höhepunkt, als die Völkischen öffentlich behaupteten, dass der Staatsanwalt der frühere „Jude Friedländer“ sei.
Der Prozess in dieser Sache führte zu Frieders‘ fragwürdiger Verurteilung wegen fahrlässigen Falscheides. Auch die weiteren Verfahren zur Aufhebung dieser Entscheidung belegen, dass sich bereits damals Gerichte zum willfährigen Werkzeug der Thüringer Rechtsregierung machen ließen. Schließlich wurde Revision vor dem Reichsgericht eingelegt, welche Martin Drucker für den Staatsanwalt Frieders vertrat. Am 11.01.1927 wies das Reichsgericht die Revision zurück. Nachdem auch mehrere Wiederaufnahmeanträge scheiterten, gab es für Frieders keine Hoffnung mehr, seine angegriffene Ehre wieder herzustellen, obwohl die Thüringer Rechtsregierung mit den Wahlen vom 30.01.1927 ihr vorläufiges Ende gefunden hatte. Der Berliner Staatswissenschaftler Prof. Ignatz Jastrow hat es deshalb unternommen, die völlige Unhaltbarkeit der Beschuldigungen gegen Frieders akribisch zu begründen und öffentlich zu machen.[12]
3.6. Der Fall Richard Tempel
Die Vertretung des Präsidenten der Sächsischen Landesversicherungsanstalt Richard Tempel durch Justizrat Drucker und Rechtsanwalt Nathanson in einem Ende 1930 durchgeführten Disziplinarverfahren verdient schon insoweit eine gesonderte Erwähnung, weil bereits damals die nationalsozialistische Presse dieses Verfahren nutzte, um die beiden „jüdischen“ Anwälte in unflätigster Weise zu diffamieren.[13] Alle bekannten antisemitischen Vorurteile wurden hier wiederholt: die krampfhafte Verdrehung der klaren gesetzlichen Bestimmungen durch den jüdischen Verteidiger und das angeblich horrende Honorar, welches der Justizrat für seine „Bemühungen“ erhalten soll. Besonders ausfällig wurde der mit „Mephisto“ (!) zeichnende Autor wegen der Tatsache, dass Justizrat Drucker doppelt verschwägert sei mit dem sächsischen Justizminister Dr. Mannsfeld. Diese Verwandtschaftsverhältnisse haben auch später immer wieder den ganz besonderen Zorn der Nationalsozialisten erregt. Der in der Anwaltschaft hoch angesehene Leipziger Rechtsanwalt war es, wie dieses Beispiel besonders krass zeigt, bereits vor 1933 gewöhnt, antisemitischen Angriffen ausgesetzt zu sein.
3.7. Publikationstätigkeit
Auch auf dem Gebiet des Strafprozesses beließ es Martin Drucker nicht bei der reinen Anwaltstätigkeit, sondern meldete sich auch wiederholt in der einschlägigen Fachpresse zu Wort.
Als im Jahr 1909 die Universität und die Stadt Leipzig des 500. Jahrestages der Gründung der alma mater lipsiensis gedachte, legte die Juristische Gesellschaft Leipzig eine Festschrift[14] vor.
Neben namhaften Juristen wie Adelbert Düringer und Johannes Mittelstaedt hat sich auch Martin Drucker mit dem Aufsatz „Die Verteidigung nach dem Entwurfe der Strafprozessordnung“ an dieser Publikation beteiligt.
Im September 1908 war der Entwurf der neuen Strafprozessordnung amtlich bekannt gemacht worden. Es ist ein wahrer Genuss noch heute zu lesen, mit wieviel humorvoller Ironie sich Drucker hier mit der weitgehenden Rechtlosigkeit des neu eingeführten „Verdächtigen“ – ganz im Unterschied zum „Beschuldigten“! – auseinandersetzt. Gegen eine Vorverurteilung des Beschuldigten und gegen die Beschneidung von prozessualen Rechten der Verteidigung wandte sich der Leipziger Rechtsanwalt vehement nicht nur in diesem Aufsatz, sondern auch später immer wieder in anderen Veröffentlichungen, insbesondere natürlich in der Juristischen Wochenschrift.[15]
Die Gruppe der Strafverteidiger im DAV wählte Drucker zu ihrem Vorsitzenden, so dass er auch in dieser Position die Interessen seiner Kollegen vehement in der Öffentlichkeit vertrat.
3.8. Der Wirtschaftsjurist
Die juristische Kompetenz Martin Druckers erschöpfte sich jedoch keinesfalls im Marken- und Strafrecht. Zentraler Schwerpunkt der Anwaltskanzlei, zu der seit März 1919 neben Dr. Kurt Eckstein auch der jüdische Rechtsanwalt Dr. Erich Cerf gehörte, waren vielmehr wirtschaftsrechtliche Fragen und Probleme im umfassendsten Sinne.
Justizrat Drucker wurde wegen seines anerkannten Sachverstandes bereits sehr früh in verschiedene Vorstände und Aufsichtsräte von Leipziger Unternehmen berufen. Hierzu gehörten auch ein führender Konzern der Kosmetikbranche, die Spedition Eitner und natürlich mehrere Rauchwarenfirmen. Hier muss das Engagement Druckers für die Chaim Eitingon AG und deren Tochtergesellschaft, die Kurt Wachtel AG, besonders genannt werden. Aber auch für das renommierte Unternehmen Harmelin war der Leipziger Anwalt über viele Jahre beratend tätig. Bis zuletzt war Drucker auch im Aufsichtsrat der Leipziger Allgemeinen Deutschen Creditanstalt (ADCA) tätig.
3.9. Ehrengerichtsverfahren
Frühzeitig beschäftigte er sich darüber hinaus auch mit Fragen des Standesrechts und übernahm die Vertretung von Kollegen in Ehrengerichtsverfahren. Belegt ist u. a. die Vertretung von Max Alsberg im Jahr 1913 vor dem Ehrengerichtshof der deutschen Rechtsanwälte beim Reichsgericht. Der namhafte Berliner Strafverteidiger wurde im Ergebnis der mündlichen Verhandlung im Reichsgericht am 11.10.1913 freigesprochen.
Als dem Leipziger Geschäftsführer des Börsenvereins Kurt Runge 1926 die Zulassung zur Anwaltschaft versagt wird, übernahm Drucker auch dessen Vertretung. Er erreichte vor dem Ehrengerichtshof die Aufhebung dieser Entscheidung, weil tatsächlich kein Versagungsgrund gemäß § 5 Ziff. 4 RAO vorlag.
4. Sprach- und musische Begabung
Neben seinem herausragenden juristischen Scharfsinn verfügte Martin Drucker wie sein Vater aber auch über musische und ausgeprägte sprachliche Begabung. So brillierte er zur Überraschung seiner Zuhörer des Öfteren in spontaner freier Rede in lateinischer und griechischer Sprache.
Als einer der ihm auf diesem Gebiet ebenbürtigen Gesprächspartner kann der in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts weit über Leipzigs Grenzen berühmte Leipziger Strafverteidiger Kurt Hezel angesehen werden. Dieser Kollege hatte einen Stammtisch von Literaten und Künstlern, die Bungonen, gegründet. Drucker war aktives Mitglied dieser Gemeinschaft, welcher auch der namhafte Literaturwissenschaftler Georg Witkowski angehörte. In seinen jetzt öffentlich zugänglichen Erinnerungen[16] ist nachzulesen, wie es bei diesen Stammtischen im Leipziger Ratskeller jeden Donnerstag nach dem Gewandhauskonzert zuging. Hiernach flogen die Reden von allen Seiten „geladen mit kühnen Gedanken und oft in deutschen, noch öfter in lateinischen und griechischen Versen.“
Im Nachlass Druckers ist eine handschriftliche Einladung Hezels vom 01.10.1919 zu den Zusammenkünften mit folgendem Inhalt überliefert: „Bungonen versammeln sich heute Donnerstag 2. Okt. vollzählig 9 Uhr Abends bei Kitzing & Helbig, Petersstraße, zwecks endgültiger Bestimmung der Sitzungsstätte. Ausbleiben strafbar! – Hezel“
In einem Nachruf[17] wird Kurt Hezel als der Mann bezeichnet, welcher die Brücke schlug zwischen Kunst und Recht. Der Vertraute und Verteidiger von Frank Wedekind, Richard Dehmel und Otto Erich Hartlebens war „der juristische Mittelpunkt des künstlerischen Deutschlands“. Seine beispiellose geradezu sprachschöpferische Beredsamkeit wurde von Martin Drucker zeitlebens in hohen Ehren gehalten.[18]
In einer geradezu euphorischen Lobpreisung hob der Kollege Hans Bachwitz im Leipziger Tageblatt vom 1. Februar 1925 hervor, dass Justizrat Drucker auch als trefflicher Kenner des englischen und des französischen Rechts gelte. Er sei aber auch „ein heiterer Gesellschafter und liebenswürdiger Intellekt, dessen Witz stadtbekannt ist. Man könnte ihn für einen Schriftsteller von Rang halten, für einen ironischen Philosophen voll Güte und Menschenkenntnis.“
Im Jahr 1919 wurde Justizrat Drucker schließlich auch das Notariat verliehen. Die notarielle Tätigkeit bedeutete natürlich auch damals bereits, insbesondere nach dem Tod des Vaters, eine bessere finanzielle Absicherung der Kanzlei Drucker, Eckstein, Cerf.
5. Martin Drucker und der Deutsche Anwaltverein
Bereits für Martin Drucker sen. gehörte es zur Selbstverständlichkeit, sich über die eigenen beruflichen Interessen hinaus auch für die gemeinsamen Belange der Anwaltschaft zu engagieren. Wie bereits der Vater, gehörte der Sohn dem Vorstand des Leipziger Anwaltvereins (LAV) an.
50 Jahre nach der Vereinsgründung wurde in der aus diesem Anlass erschienenen Festschrift[19] hervorgehoben, dass der Vorstand des LAV besonders stolz darauf ist, dass die beiden Druckers in so intensiver Weise an dessen Entwicklung beteiligt waren.
Wörtlich heißt es dann: „Mit ganz besonderer Genugtuung erfüllt es den Leipziger Anwaltverein, … dass es unserem Verein vergönnt war, dem deutschen Anwaltstande in Justizrat Dr. Drucker den opferwilligen und erfahrenen Führer von durchdringendem Verstande und nie ermüdendem Sinn für die Ideale unseres Berufes zu präsentieren.“
Acht Jahre vor der Gründung des LAV hatte sich im Jahr 1871 im Haus der Koncordia in Bamberg der Deutsche Anwaltverein (DAV) gegründet, welcher bis 1932 seinen Sitz in Leipzig hatte.
In dem Maße, in dem sich die materielle Lage vieler deutscher Anwälte verschlechterte, wurde der Ruf laut, dass der DAV sich stärker für die Interessen der Anwaltschaft einsetzen möge. Einen gewissen Höhepunkt erreichten diese Debatten auf dem Anwaltstag in Mannheim im Jahr 1907. Martin Drucker wurde der Vorsitz in dem neu gegründeten Geschäftsausschuss übertragen, welcher für die eingehende Aufklärung über die Bedeutung und Tragweite des Gesetzentwurfs, betreffend die Justizreform, gebildet wurde.
Es sollte u. a. die Zuständigkeit der Amtsgerichte erweitert werden, was die Lage der Anwälte, welche in Preußen und Bayern nur am Amtsgericht zugelassen waren, entscheidend hätte verbessern können. Dabei ging es in der Gesetzgebungsphase auch um die Frage, ob die Kammern der Amtsgerichte künftig mit Einzelrichtern besetzt oder als Kollegialgerichte tätig werden sollten. Auf dem Anwaltstag in Mannheim hielt Rechtsanwalt Dr. Max Hachenburg ein Grundsatzreferat über die Lage der deutschen Anwaltschaft. Als wenige Wochen später der Gesetzesentwurf der Regierung veröffentlicht wurde, musste die Anwaltschaft zur Kenntnis nehmen, dass dieser keinerlei Rücksicht auf die Beschlüsse des Anwaltstages nahm. Daraufhin wurde ein außerordentlicher Anwaltstag nach Leipzig einberufen. Hier sprach Max Hachenburg erneut und unterbreitete gemeinsam mit Rechtsanwalt Hinrichsen aus Güstrow eine entsprechende Resolution, die angenommen wurde. Auch diese Beschlüsse waren wiederum für die von der Reichsregierung dem Reichstag vorgelegte Novelle zur Gerichtsverfassung und zur Zivilprozessordnung ohne Auswirkungen. Die deutsche Anwaltschaft, gespalten in Amtsgerichts- und Landgerichtsanwälte, fühlte sich durch die Nichtbeachtung ihrer Meinung brüskiert.
Diese Tatsache und die immer weiter wachsende Not der deutschen Anwaltschaft führte zwangsläufig zu einer Veränderung des Selbstverständnisses des DAV, der aus seiner jahrzehntelangen vornehmen Zurückhaltung erwachte und die Sicherung der materiellen Basis seiner Mitglieder mehr in den Vordergrund stellen musste. Die somit dringend notwendige straffere Organisation und Umprofilierung des DAV verlangte eine Umbesetzung seines Vorstandes, in welchem bislang hauptsächlich die Reichsgerichtsanwälte, als die Elite des Standes, vertreten waren. Der DAV brauchte aber zur Lösung der dringlichsten Probleme der deutschen Anwaltschaft keine „vornehmen Repräsentanten“, die weit entfernt von den Problemen der Kollegen im Lande waren. Er benötigte vielmehr Vertreter, die die Sorgen und Nöte ihrer Kollegen kannten und teilten und demzufolge bereit waren, für deren Beachtung in der Öffentlichkeit mit aller Kraft zu kämpfen.
Zur Bewältigung dieser Probleme standen auf dem XIX. Anwaltstag 1909 in Rostock endgültig Entscheidungen zur umfassenden Reform des DAV an. In dieser Umbruchsituation wurde der 40-jährige Martin Drucker als ein aus der Sicht der deutschen Anwaltschaft geeigneter Vertreter erstmals in den Vorstand des DAV gewählt. Er hatte die Hochachtung der Teilnehmer des Anwaltstages mit einer in Vorbereitung des Anwaltstages erschienenen Broschüre über die damals diskutierte Strafprozessreform erworben, die laut Friedländer „ein Muster von Scharfsinn und praktischem Weitblick war.“ Von ihm ist in diesem Zusammenhang folgende Anekdote überliefert: Der Berliner Kollege von Gordon, welcher Drucker schon aus der gemeinsamen Verteidigertätigkeit um den Leipziger Bankenzusammenbruch kannte, sagte auf dieser Versammlung, dass er gestern Abend im Bett eine sehr vergnügte Stunde gehabt habe. Schallende Heiterkeit im Auditorium über ein solch offenherziges Geständnis war die Folge. Der Redner fuhr, nachdem sich die Lachsalve gelegt hatte, fort: „Ich habe nämlich im Bett die Broschüre des Kollegen Drucker gelesen.“[20]
Auch Hachenburg, Adolf Heilberg und Conrad Haußmann wurden zu neuen Vorstandsmitgliedern bestimmt. Gleichzeitig wurde die Position eines Geschäftsführers des DAV neu geschaffen, in welche Heinrich Dittenberger gewählt wurde. Eine weitere maßgebliche Satzungs-änderung wurde 1909 dadurch vorgenommen, dass die Vertreterversammlung neu eingeführt wurde. Dieser war seitens des Vorstandes der Haushaltsplan vorzulegen, sie entschied über die Mitgliedsbeiträge und sie wählte auch den Vorstand. Diese Reform sicherte in den kommenden Kriegs- und Inflationsjahren das Überleben des Deutschen Anwaltvereins.
Nach dem Anwaltstag in Rostock schied Drucker aus dem Vorstand des LAV aus und widmete sich von diesem Zeitpunkt an mit seiner ganzen Kraft den Interessen der deutschen Anwaltschaft. Drucker übernahm im Vorstand zunächst das Amt des Schriftführers. An der mit dem Anwaltstag in Rostock 1909 in Angriff genommenen Umprofilierung des DAV hatte er von Anfang an maßgeblichen Anteil.
Ein Jahr später übernahm er den Vorsitz in dem neu eingerichteten Vorstandsausschuss für Strafrecht und Strafprozessrecht. In dieser Position hat Drucker die Interessen der deutschen Strafverteidiger in den jahrelangen Diskussionen um die Reform des Strafprozesses vehement und nachdrücklich vertreten.[21]
Der DAV wurde seit dieser Zeit immer mehr zum wirklichen Interessenvertreter der deutschen Anwaltschaft. Das war durch die grundlegende Verlagerung der Schwerpunktaufgaben des DAV möglich, die in der Folge auch zu einem erheblichen Anstieg der Mitgliederzahlen führte.
Mit der Neuwahl des Vorstandes trat Julius Haber[22], ein am Leipziger Reichsgericht zugelassener Kollege, an die Spitze des DAV.
Eine besondere Rolle bei der Neuprofilierung des DAV hat die von dem unvergessenen Freund Druckers Julius Magnus hervorragend betreute Juristische Wochenschrift gespielt. Martin Drucker hat der Juristischen Wochenschrift als dem Sprachrohr des DAV seine ganz besondere Aufmerksamkeit gewidmet.
1920 wurde Martin Drucker zum Stellvertreter des Vorsitzenden und schließlich 1924 zum ersten Vorsitzenden gewählt. Diese Position erhielt später die Bezeichnung Präsident. Im Jahr 1923 legte Drucker im Auftrag des Deutschen Anwaltvereins dem Reichsjustizminister einen Gesetzentwurf vor, welcher die Zulassung der Anwaltschaft zur Vertretung vor den Verwaltungsgerichten regeln sollte. Dieser Entwurf konnte damals jedoch nicht durchgesetzt werden. Zu dieser Zeit gehörte es keinesfalls zur Selbstverständlichkeit, dass der Anwalt als berufsmäßiger Parteivertreter überall und ausnahmslos tätig werden konnte. Der damalige Stellvertreter des Vorsitzenden des DAV hat für die Durchsetzung dieses Grundsatzes immer wieder gestritten und so Pionierarbeit für das heutige Verständnis anwaltlicher Berufsausübung geleistet.
Mit der „Renaissance von 1909“ wuchsen jedoch auch die Aufgaben des Vorstandes. In der Vorzeit war der Gesamtvorstand nur sporadisch zusammengekommen. Jetzt musste zwangsläufig ein engerer Leipziger Vorstand gebildet werden, der fast wöchentlich tagte. Für eine Sitzung des Gesamtvorstandes mussten regelmäßig zwei volle Tage eingeplant werden. Der Vorstand musste aber nicht nur wegen der Häufung der Aufgaben, sondern vielmehr deswegen erheblich erweitert werden, weil er zahlreicher werdende, unterschiedlichste Interessengruppen innerhalb der Anwaltschaft zu vertreten hatte. Der Vorstand war immer wieder gezwungen, zwischen den sehr hart geführten Auseinandersetzungen zwischen Landgerichts- und Amtsgerichtsanwälten zu schlichten.
Es war bei der zunehmend schwieriger werdenden Lage für den Vorstand kaum möglich, die hochgeschraubten Erwartungen der Vereinsmitglieder zu befriedigen, welchen die tagtägliche Arbeit der DAV-Führung weitestgehend verborgen blieb. In der Folge trafen manchmal harte und ungerechte Vorwürfe die Leipziger Mitglieder des Vereinsvorstandes.
Durch Hachenburg[23] ist folgende Anekdote aus dieser Zeit überliefert: „Dittenberger hat ein Töchterchen von sieben Jahren. Das fragte ihn, wohin er geht und was geschieht. Der Vater nannte dem Kinde die Namen der bekannten Leipziger Herren: ‚Erst spricht Dr. Drucker, dann Dr. Hahnemann, dann Dr. Brücklmaier, dann ich.‘ – ‚So,‘ unterbrach ihn die Kleine, ‚Ihr redet. Ich habe geglaubt, Ihr arbeitet.'“
Martin Drucker meldete sich in diesen Jahren als Vorstandsmitglied des DAV wiederholt und energisch zu Wort, weil er die freie Berufsausübung der Anwaltschaft bedroht sah. Schon auf dem Anwaltstag 1894 hatte sich die deutsche Rechtsanwaltschaft mit der Frage einer möglichen Zulassungsbeschränkung auseinandergesetzt, nachdem in Folge der Freigabe der Advocatur 1879 die Zahl der zugelassenen Rechtsanwälte sprunghaft gestiegen war. Der Anwaltstag schloss sich dem vorgelegten Gutachten an und sprach sich damit gegen jegliche Zulassungsbeschränkungen aus. Die Diskussion um die Einführung eines numerus clausus war jedoch keineswegs ad acta gelegt. Auch die Anwaltstage 1905 und 1907 befassten sich eingehend mit dieser Thematik und sprachen sich gegen einen numerus clausus aus. Im Jahr 1911 überstieg die Zahl der in Deutschland zugelassenen Rechtsanwälte erstmals die 10.000er Grenze. Der Anwaltstag in diesem Jahr hatte sich demzufolge auch mit der Grundsatzfrage zu befassen: „Empfehlen sich gesetzgeberische Maßnahmen gegen eine Überfüllung des Anwaltsstandes?“ Dem energischen Auftreten des damaligen DAV-Präsidenten Julius Haber und des namhaftesten Standesrechtlers Max Friedländer war es zu verdanken, dass sich der Anwaltstag in Würzburg gegen die Einführung eines numerus clausus aussprach, weil alle derartigen Maßnahmen für „unnötig und im Interesse der Rechtspflege und des Standes für schädlich“ gehalten wurden. Nachdem Martin Drucker an die Spitze des DAV getreten war, sollte sich an der von seinen Vorgängern vertretenen Auffassung zum numerus clausus nichts ändern.
Als jedoch der namhafte Berliner Anwalt und spätere Nachfolger Druckers als DAV-Präsident Rudolf Dix auf dem Anwaltstag 1927 in einer mit viel Beifall bedachten Rede erstmals den Standpunkt vertrat, dass Freigabe und Freiheit der Advocatur keinesfalls in einem untrennbaren logischen Zusammenhang ständen, zeichnete sich ein Umschwung in der herrschenden Meinung der DAV-Mitglieder ab. In der 1928 anlässlich des 70. Geburtstages von Adolf Heilberg für diesen herausgegebenen Festschrift trafen die konträren Auffassungen von Dix und Drucker aufeinander.
Während Dix seine auf dem Anwaltstag im Vorjahr bereits artikulierte Argumentation der Trennung von Freigabe und Freiheit der Advocatur wiederholte und ausbaute, sprach Drucker in seinem Beitrag[24] die Hoffnung aus, dass die Beschlüsse des Anwaltstages von Würzburg Bestand haben werden:
„In noch schwererer Stunde hat die ausgleichende und einigende Seele des Gesamtkörpers sich bejaht, als vor anderthalb Jahrzehnten das Numerus-Fieber im Anwaltsstande um sich griff. Damals war in einigen Bezirken schon das bedenkliche Symptom der Bildung von Sondergruppen aufgetreten, die sich ausschließlich unter dem Feldgeschrei „Schließung des Standes“ zusammenfanden, als noch rechtzeitig die Leitung des Deutschen Anwaltvereins die kontradiktorische Verhandlung der Einzelmitglieder herbeiführte. Der Würzburger Anwaltstag entschied gegen den numerus clausus. Dieser Beschluss, gegen den die Anwaltschaft ein Wiederaufnahmeverfahren ohne Beibringung neuer Tatsachen und Beweismittel niemals zulassen wird, wäre nicht zustande gekommen, wenn die Anhänger der streitenden Ansichten sich in Tendenzvereinen gegeneinander organisiert hätten. Wettrüsten bedeutet dauernde Friedensbedrohung auch im Reiche des Geistes und des Glaubens.“
Bis zum Ende seiner Amtszeit hat sich der Präsident des DAV immer wieder vehement gegen jegliche Zulassungsbeschränkungen ausgesprochen, weil diese nach seiner Auffassung zwangsläufig mit der Einschränkung der Freiheit der Advocatur verbunden sein müssten.
Die Tätigkeit im Deutschen Anwaltverein hatte jedoch auch unmittelbare Rückwirkungen auf das Profil der Anwaltskanzlei Martin Druckers. Immer häufiger wurde er von Kollegen in Fragen des Standesrechts um Rat und Hilfe gebeten. Auch wenn er in dieser Materie nicht so stark schriftstellerisch hervortrat wie z. B. Max Friedländer[25], hatte seine Meinung in Standesfragen für die deutsche Anwaltschaft besonderes Gewicht.
Als während der Inflation die Frage der Reformation der Gebührenordnung auf der Tagesordnung stand, hat sich der DAV-Vorstand unter Druckers Führung dafür eingesetzt, diese Regelung vollständig abzuschaffen und die freie Vereinbarung des Honorars den Anwälten selbst zu überlassen.
Ein kollegialer Rat, den Drucker einem Kollegen bereits im Jahr 1930 zu einer Standesfrage erteilt hatte, sollte nach 1933 nationalsozialistischen Anwälten ein willkommener Vorwand sein, um den Leipziger Rechtsanwalt auszuschalten. Hierauf wird später noch ausführlich zurückzukommen sein.
Bereits zu Beginn der 20er Jahre entbrannte unter den Mitgliedern eine leidenschaftlich geführte Diskussion um die Verlegung des Sitzes des DAV von Leipzig nach Berlin. In der Inflationszeit überstürzte sich die Gesetzgebung und viele Kollegen hofften, dass eine größere Nähe des DAV-Vorstandes auch einen größeren Einfluss der deutschen Anwaltschaft auf die Regierung und das Parlament bringen könnte.
Auf dem außerordentlichen Anwaltstag 1925 in Berlin spitzte sich die Debatte auf sehr unangenehme Weise zu. Die zahlreich vertretenen Berliner Kollegen versuchten, das Gremium für politische Diskussionen zu missbrauchen. Es bedurfte des energischen und geschickten Eingreifens seitens des Präsidenten Drucker, damit der Anwaltstag nicht zum völligen Fiasko geriet.
Manche Teilnehmer, wie auch Hachenburg, änderten damals ihre Meinung und kamen zu dem Schluss, dass es schon seinen guten Grund und Sinn habe, dass Berlin nicht Sitz des DAV sei. Trotzdem endeten die Auseinandersetzungen um die Sitzverlegung auch nach diesem Anwaltstag nicht.
Aus dem erhalten gebliebenen Briefwechsel des DAV-Präsidenten mit dem Berliner Kollegen Albert Pinner im Jahr 1928[26] ist zu entnehmen, mit welchen sachlichen Argumenten sich Drucker bereits damals im Interesse der gesamten deutschen Anwaltschaft gegen eine Sitzverlegung nach Berlin wandte.
Als Martin Drucker im Oktober 1929 seinen 60. Geburtstag beging, war das Anlass, ihm für seine Verdienste um den Deutschen Anwaltverein mit einem öffentlichen Glückwunschschreiben auf der Titelseite der Juristischen Wochenschrift[27] zu danken. Die im Original auf Pergament geschriebene Ehrung wurde von allen Vorstandsmitgliedern unterzeichnet und dem Jubilar feierlich überreicht.
Die Berliner Kollegen nutzen allerdings sogar diesen Anlass, um den Präsidenten des DAV wegen seiner ablehnenden Haltung zur Sitzverlegung sachlich ungerecht anzugreifen. Pinner behauptet in einem Aufsatz zu Druckers 60. Geburtstag, dass dieser keine sachlichen Gründe, sondern nur eine Antipathie gegen Berlin habe.[28]
Im April 1932 wurde die Verlegung des Sitzes des DAV von Leipzig nach Berlin beschlossen. Drucker hat deshalb wie angekündigt seine Wiederwahl abgelehnt.
Dass die Tätigkeit des DAV-Vorstandes immer wieder mit heftigen emotionalen Auseinandersetzungen verbunden war, belegt ein weiterer Vorgang aus dem Jahr 1932[29]. Der Berliner Rechtsanwalt Soldan hatte am 07.03.1932 an Justizrat Schatz als Mitglied des DAV-Vorstandes einen verleumderischen Brief geschrieben. Hiernach sollte sich Justizrat Schatz von anderen Vorstandmitgliedern, insbesondere dem Präsidenten, missbrauchen lassen. Schatz wird als gewissenlos bezeichnet, weil er eine handgreifliche Lüge nicht nachprüfe und seine Mitwirkung zu ihrer Verbreitung verweigere. Soldan droht, dass über die Ehrenhaftigkeit der Vorstandmitglieder „in Gerichtsverhandlungen, Versammlungen und Drucksachen“ Beweis erhoben werden solle. Die Beschuldigten beantragen bei der zuständigen Rechtsanwaltskammer wegen dieser Vorwürfe umgehend ehrengerichtliches Einschreiten gegen sich selbst. Da die Behauptungen Soldans greifbar ohne jeden Anhalt waren, wurden diese Verfahren ohne Ergebnis eingestellt.
Drucker war stets bemüht, sich die Betroffenheit von derartigen persönlichen Angriffen in der Öffentlichkeit, aber auch in der Familie nicht anmerken zu lassen. Trotzdem blieb er hiervon natürlich nicht vollkommen unberührt. Die Bemerkung in den Erinnerungen Friedländers, wonach der Präsident einmal einen Nervenzusammenbruch erlitten habe, deutet darauf hin.
Trotz der jahrelangen Kontroversen, insbesondere mit der Berliner Anwaltschaft, welche Drucker zu den „trübsten Erfahrungen seiner Amtszeit“ zählte, wurde er auf Grund seiner außerordentlichen bleibenden Verdienste um den Deutschen Anwaltverein und den gesamten Berufsstand von der Abgeordnetenversammlung einstimmig zum Ehrenpräsidenten mit Sitz und Stimme im Vorstand des DAV ernannt.
Daraufhin erhielt Martin Drucker ein Schreiben der Sächsischen Rechtsanwaltskammer, in welchem der Vorstand seinen Dank ausspricht. Wörtlich heißt es dann:
„Es bleibt der Stolz der Sächsischen Anwaltschaft, dass unter Ihrer Leitung der Deutsche Anwaltverein sich zu einer achtungsgebietenden Höhe entwickelt hat; nicht zum wenigsten Ihr Verdienst ist es, dass er aus einer bloßen Zusammenfassung der Berufsgenossen zu einem lebendigen Körper geworden ist.“
Max Hachenburg gibt in seinen Memoiren[30] seine persönlichen Erinnerungen an den hochgeschätzten Freund und Kollegen aus der Zeit der Präsidentschaft Druckers im Deutschen Anwaltverein wie folgt wieder:
„Er besitzt nicht die abgeklärte Ruhe Habers, nicht die Konzilianz Kurlbaums, dafür aber eine rastlose Arbeitskraft, eine unbeugsame Energie und einen scharfblickenden, rasch zugreifenden Verstand. Ich habe niemanden getroffen, der mit solcher Schlagfertigkeit und, wenn nötig, mit einer guten Dosis Ironie eine Versammlung leitet …“
Der Münchner Vorstandskollege Max Friedländer kommt in seinen Erinnerungen wiederholt auf Drucker zurück. Seine Aussagen sind allerdings nicht so unkritisch, teilweise aber in sich widersprüchlich. So schreibt er im Zusammenhang mit dem notwendigen Wechsel im Vorstand aus Anlass der Sitzverlegung:
„Wir besaßen in Drucker eine Persönlichkeit, deren überragende Qualitäten, deren unübertreffliche Sach- und Personenkenntnis nicht so leicht zu ersetzen waren.“
An früherer Stelle hatte er den Leipziger Kollegen als den „bedeutendsten Kopf, den wir in der Anwaltschaft damals hatten“ und „wohl einer der vielseitigsten und feinsten Köpfe, die die deutsche Anwaltschaft bisher hervorgebracht hat“ bezeichnet. Dann jedoch beschreibt er an anderer Stelle aus seiner Sicht „einen Kardinalfehler Druckers: er war zwar ein geistig überragender, äußerst gewandter, aber kein guter Vorsitzender, weil ihm die äußere Ruhe und wirkliche Objektivität fehlte. Er nahm immer und meist sichtbar Partei, oft nur durch einen Witz zeigend, wo er stand, und seine ironische Art reizte seine Gegner, namentlich diejenigen, die ihm geistig in keiner Weise gewachsen waren.“
In der Auseinandersetzung um das Verhältnis zur Richterschaft wirft Friedländer dem DAV-Präsidenten vor, in seiner Position einen Skandal, der durch die überspitzte Kritik eines Kollegen entstanden war, nicht abgewendet zu haben.
Erklärbar werden diese Aussagen wohl im Wesentlichen durch die abweichende Wesensart der beiden Vorstandskollegen. Friedländer suchte die Harmonie und den Kompromiss, während Drucker seine Auffassung klar und deutlich gegen abweichende Auffassungen vertrat. Das tat er auch dann, wenn eine Mehrheit gegen seine Meinung stand. Von dem DAV-Präsidenten Drucker war keine neutrale oder unparteiische Haltung zu erwarten und dazu war er wohl auch nicht verpflichtet. Es ist nicht überliefert, dass sich Martin Drucker einmal über die Mehrheitsmeinung des Vorstandes hinweggesetzt hätte. Die Tatsache, dass er nach seinem Ausscheiden aus dem DAV-Vorstand per Akklamation zum ersten und bis heute einzigen Ehrenpräsidenten gewählt wurde, widerlegt wohl faktisch die zumindest punktuell negative Bewertung Druckers durch Friedländer.
Für die nächsten 13 Jahre war der Leipziger Rechtsanwalt Martin Drucker von jeglicher aktiver Anteilnahme an den Standesinteressen der deutschen Anwaltschaft ausgeschlossen.
Seinen weltanschaulichen Überzeugungen entsprechend hat sich Martin Drucker, wie seine Frau Margarethe, über viele Jahre auch politisch engagiert. So war er von 1919 bis 1926 Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei, in welcher er vor seiner Wahl zum Präsidenten des DAV auch sehr aktiv tätig war. Im Jahr 1926 erklärte er seinen Austritt, weil sich die Parteiführung wiederholt bei Abstimmungen im Reichstag aus taktischen Motiven von den Grundsätzen des Parteiprogramms entfernt hatte. Martin Druckers Gespür für die politischen Verhältnisse wurde in der Zeit seiner Zugehörigkeit zur DDP und durch seine Erfahrungen als DAV-Präsident entscheidend geschärft. Bereits im November 1932 war für ihn klar, dass die Machtübernahme durch die Nazis unmittelbar bevorstand. Hindenburg hatte dem Leipziger Oberbürgermeister Gördeler zu dieser Zeit angeboten, Reichskanzler zu werden. Dieser hatte jedoch das Verbot der NSDAP zu seiner Bedingung gemacht. Die Abendzeitungen meldeten dann, dass von Schleicher zum Reichskanzler bestimmt worden war.[31]
6. Diskriminierung, Verfolgung, Berufsverbot
Kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten verlor der jüdische Sozius Erich Cerf das Notariat und seine Zulassung als Rechtsanwalt. Weil Martin Drucker ihn und den Referendar Dr. Fritz Grübel trotzdem weiter beschäftigte, wurde er scharf angegriffen[32].
Im Zusammenhang mit dem Boykottaufruf der Nationalsozialisten am 1. April 1933 wurde Martin Drucker im Landgericht Chemnitz während einer Verhandlung in „Schutzhaft“ genommen. Der in der „Frankfurter Zeitung“ vom 4. April 1933 erschienene Bericht über diesen Vorgang gibt ein weiteres Mal einen Eindruck von der souveränen Haltung des Leipziger Rechtsanwalts selbst in dieser Ausnahmesituation.
Die in Berlin weilende jüngste Tochter Renate war, nachdem sie die Nachricht von der Verhaftung ihres Vaters im Radio gehört hatte, höchst beunruhigt und versuchte vergeblich, Familienmitglieder, Leipziger Freunde und das Anwaltsbüro telefonisch zu erreichen, um Näheres zu erfahren. Margarethe Drucker befand sich zu diesem Zeitpunkt – wie immer am Wochenende – in Großbothen. Da sie telefonisch nicht erreichbar war, eilten Kollegen und Freunde, die von der Verhaftung Druckers hörten, auf schnellstem Wege dorthin, um ihr beizustehen und zu beraten, was zu tun sei. Als sie dort ankamen, trafen sie zu ihrer Überraschung auch den Justizrat an. Der sofort einsetzende internationale öffentliche Protest hatte die neuen Machthaber veranlasst, den Ehrenpräsidenten des Deutschen Anwaltvereins sehr schnell wieder auf freien Fuß zu setzen. Sogar die „New York Evening Post“ hatte am 3. April 1933 über den Vorgang auf der Titelseite berichtet. Es war sehr typisch für den rücksichtsvollen Martin Drucker, dass er seiner Frau von der Verhaftung in Chemnitz überhaupt nichts gesagt hatte und diese die unheilvolle Nachricht deshalb erst im Nachhinein von den beunruhigten Besuchern erfuhr.
Auch wenn zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen konnte, was die nächsten zwölf Jahre bringen würden, hat der realistische Sinn Druckers für das, was nach der im Januar 1933 erfolgten Machtübernahme bevorstand, vielleicht manchen das Leben gerettet. Hierzu gehört auch, dass er seinen jüdischen Sozius Dr. Erich Cerf schon sehr früh in seinem Entschluss bestärkte, Deutschland mit seiner Familie zu verlassen. Die Auswanderung wurde vorbereitet und die Familie Cerf erhielt alle nur denkbare Unterstützung seitens der Kanzlei, um ihr die Basis für den Neuaufbau einer Existenz in Palästina zu ermöglichen. So ging auch das eigentlich unentbehrliche Kanzleiauto mit auf die weite Reise. Erich Cerf und sein hochgeachteter Seniorpartner Drucker blieben weiter in Briefverbindung. Doch der in deutscher Kulturtradition verhaftete frühere Sozius konnte in seiner neuen Heimat nie wieder richtig Fuß fassen. Erst nach dem Kriegsende war es ihm vergönnt, als engagierter Anwalt in Wiedergutmachungssachen wieder in seinem geliebten Beruf tätig werden zu können.[33] Aber auch anderen langjährigen jüdischen Mandanten, die Drucker in dieser Zeit fragten, wie sie sich verhalten sollten, nahm er jede Illusion von einem baldigen Ende der Hitlerherrschaft und riet dringlichst zur Auswanderung.
So schrieb der zuletzt in London lebende Jacob Sachs, dass Drucker über viele Jahre der Anwalt der namhaften Rauchwarenfirma J. B. Sachs & Co. war, die sein Vater zu Beginn dieses Jahrhunderts am Brühl gegründet hatte. Als in der ersten Hälfte des Jahres 1935 die Nazis zu ihm kamen, um seine Bibliothek zu kontrollieren, nahmen sie einige Bücher von jüdischen Schriftstellern mit. Jacob Sachs wurde verhaftet. Weder seine Familie noch sein Büro wussten, wo er war. Nach fünfstündigem Verhör wurde er nachts um 1 Uhr wieder entlassen. Jacob Sachs wurde später telefonisch angekündigt, dass die Gestapomänner wiederkommen werden, da sie ihre Handschuhe in seiner Wohnung vergessen hätten. Er ging sehr nervös zu Rechtsanwalt Drucker und fragte ihn, was er tun solle. Er antwortete: „Ich rate Ihnen, Deutschland sofort zu verlassen.“ Auf den Einwand, dass er erst in einigen Wochen vorbereitet sein werde auszuwandern, erwiderte der Justizrat sehr klar: „Sie müssen sofort gehen, denn alle Juden, die hier bleiben, werden von den Nazis getötet.“ Daraufhin ist Jacob Sachs mit dem Auto seines Schwagers, des stadtbekannten Arztes Dr. Abraham Adler, nach Prag geflohen.
Im Februar 1939 musste Martin Drucker seinem früheren Mandanten Jacob Sachs nach London mitteilen, dass er „durch neuere Gesetzgebung“ verhindert sei, irgendwelche anwaltliche Tätigkeit für ihn auszuüben.
Im Jahr 1934 erschien ein „Verzeichnis nichtarischer Rechtsanwälte Deutschlands“. Diese Broschüre wurde auf Grund freiwilliger Angaben gedruckt. Es bezeugt die positive Grundhaltung Druckers zu seinen jüdischen Vorfahren, dass er sich obwohl schon sein Vater konvertiert war, in die Reihen der nunmehr geächteten Kollegen einordnete und seinen Namen in das Verzeichnis aufnehmen ließ.
7. Entzug des Notariats
Unter dem Datum vom 1. November 1933 erhielt Martin Drucker ein Schreiben vom Sächsischen Ministerium der Justiz, wie es andere seiner Notariatskollegen in dieser Zeit auch erhalten haben, mit folgendem Inhalt:
„Der Herr Reichsstatthalter hat durch Verfügung vom 11. August 1933 den Rechtsanwalt Justizrat Dr. Martin Drucker in Leipzig auf Grund von § 3 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 (RGBl. I S. 175) in Verbindung mit Ziff. 2 zu § 1 des Gesetzes in der Dritten Durchführungsverordnung vom 6. Mai 1933 (RGBl. I S. 245) von dem Amte als Notar enthoben.“
Die Amtsenthebung jüdischer Notare war erst der Beginn der Verfolgung. Sie traf diese – wie beabsichtigt – sehr empfindlich in ihrer Existenz.
Martin Drucker war aber von den zitierten Regelungen eigentlich nicht betroffen, da damals nur die sogenannten „Volljuden“ aus allen Beamtenstellungen entfernt werden sollten. In seinem Lebenslauf berichtet Drucker nach 1945, dass man ein Bittgesuch von ihm erwartet habe, um die Rücknahme des Notariatsentzuges zu erreichen. Zu einer solchen Demütigung war er jedoch nicht ehrvergessen genug.[34]
Der Wegfall des Notariats und der Weggang des Sozius Erich Cerf zeigten sehr schnell gravierende Folgen, da sich die Auftrags- und Ertragslage erheblich verschlechterte. Eine damals in der Kanzlei Drucker Eckstein Cerf angestellte Stenotypistin, Frl. Irmgard Lehmann, erklärte sich, als die Reduzierung des Personals unausweichlich wurde, als die Jüngste bereit, freiwillig zu gehen, obwohl sie sich in der Kanzlei in der Ritterstraße sehr wohl gefühlt hatte und die Arbeit sehr interessant war. Irmgard Lehmann war in der Zeit zwischen 1931 bis 1935, die ersten drei Jahre als Lehrling, bei Justizrat Drucker tätig gewesen. Sie berichtet, wie gerne sie für den väterlichen und fürsorglichen Chef gearbeitet habe. Martin Drucker gab seiner jungen Angestellten ein hervorragendes Zeugnis mit, welches ihr helfen sollte, sehr schnell eine neue Anstellung zu finden.
8. Diffamierung durch einen Kollegen
Martin Drucker hat sich keine Illusionen gemacht, dass sein energisches Eintreten für eine freie Advocatur und seine immer wieder öffentlich vertretene humanistisch-liberale Lebenshaltung ihm auch ganz persönlich Feinde geschaffen hatte.
Diese fanden sich nach der Machtübernahme jedoch offenkundig weniger in den Kreisen der Berliner Anwaltschaft, wo man sie hätte vermuten können, sondern vielmehr unter seinen Leipziger ‚Kollegen‘. Einer von ihnen hat die Chance sofort genutzt, die ihm die Machtergreifung Hitlers gab, Justizrat Dr. Martin Drucker als gehassten Konkurrenten auszuschalten. Bei Sichtung des über diesen Kollegen erhalten gebliebenen Archivmaterials[35] ergibt sich eine geradezu faustische Konstellation von gut und böse. Dieser Anwalt kann zu Recht als das ‚braune Gegenbild‘ des humanistischen und feinsinnigen Martin Drucker angesehen werden.[36]
Dieser Dr. Johannes Fritzsche erstattete am 9. Juli 1934 folgende Anzeige:
„Hiermit erstatte ich gegen den Rechtsanwalt Justizrat Dr. Martin Drucker in Leipzig Anzeige wegen Verfehlung nach § 28 ff. der Rechtsanwaltsordnung und beantrage, die Akten zur Einleitung des Ehrengerichtsverfahrens an die Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht abzugeben.“[37]
Mit dieser Anzeige setzte Fritzsche eine bereits gegenüber Druckers Sozius Eckstein klar ausgesprochene Drohung um. Ihm gegenüber hatte er erklärt, dass er „Drucker nach dem Konzentrationslager in Colditz schaffen lassen“ und „er werde Dr. Drucker außerdem bei der Anwaltskammer anzeigen, damit er aus der Anwaltschaft ausgeschlossen würde.“[38]
Nach den Erklärungen des Hamburger Rechtsanwalts Dr. Darboven, welcher den Mut hatte, die Vertretung Dr. Druckers in dem daraufhin eingeleiteten ehrengerichtlichen Verfahren zu übernehmen, hatte diese Anzeige ihre Motivation darin, dass sich Justizrat Drucker aus sachlichen Gründen geweigert hatte, zu einer Verhandlung vor dem Gauwirtschaftsleiter zu erscheinen. Darüber hinaus soll sich Dr. Drucker geweigert haben, sich in einem gerichtlichen Verhandlungstermin mit Nationalsozialisten an einen Tisch zu setzen.
Das Engagement Druckers in Strafverfahren vor 1933, deren Gegenstand nicht mehr feststellbar war, in denen Fritzsche selbst jedoch keine Rolle spielte, hatte ebenfalls den Zorn des Nazianwalts erregt.
Das daraufhin eingeleitete ehrengerichtliche Verfahren gegen Martin Drucker ist durch erhalten gebliebene Dokumente gut nachvollziehbar. Hierzu gehören insbesondere das Urteil des Ehrengerichts der Sächsischen Anwaltskammer vom 26. Januar 1935 und die Berufungsbegründung hiergegen von Dr. Darboven vom 13. Mai 1935.[39]
Zum Vorwand für dieses Verfahren musste ein kollegialer Rat herhalten, welchen Justizrat Drucker bereits im Jahr 1930 dem Kollegen Curt Goldstein erteilt hatte. Der Kollege hat sich an den damaligen DAV-Präsidenten gewandt, da dieser auch als langjähriger Rechtsberater des französischen Konsulates in Leipzig bekannt war und die Sache deutsch-französische Verhältnisse betraf. Hieraus konstruierte der Sächsische Ehrengerichtshof vier Jahre später den ungeheuerlichen Vorwurf des Landesverrats.
„Lasciate ogni speranza voi ch’entrate!“[40]
Mit diesem italienischen Zitat Dantes wandte sich Dr. Darboven an seinen Mandanten Drucker, als sie den Gerichtssaal zur Verhandlung in dem ehrengerichtlichen Verfahren betraten, denn er hatte gerade festgestellt, dass ausgerechnet der persönliche Erzfeind und Anzeigenerstatter Dr. Fritzsche zu den beisitzenden Richtern gehörte.[41] Zwangsläufig wurde die Verhandlung mit einem Befangenheitsantrag seitens Dr. Darbovens gegen Fritzsche eröffnet, welcher jedoch prompt abgelehnt wurde. Folgerichtig befasst sich auch die Berufungsschrift gegen das Urteil eingehend mit dieser Problematik. Ohne auf diese rechtlichen Erörterungen einzugehen, stellt der angerufene Ehrengerichtshof später lapidar fest, „dass das Ehrengericht das Ablehnungsgesuch, das der Angeklagte gegen den Beisitzer Rechtsanwalt Dr. Fritzsche angebracht hatte, nicht nach denjenigen rechtlichen Gesichtspunkten beurteilt hat, die nach der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts wie des Ehrengerichtshofs dabei zu beachten sind.“ Und weiter heißt es: „Darauf braucht indes nicht näher eingegangen zu werden.“[42]
Der Ehrenpräsident des Deutschen Anwaltvereins wurde durch das Sächsische Ehrengericht für schuldig befunden und mit Urteil vom 26. Januar 1935 aus der Anwaltschaft ausgeschlossen.[43] Aus der Berufungsbegründung Dr. Darbovens ergibt sich, dass das Urteil von Fritzsche persönlich verfasst wurde, obwohl dieser nicht Berichterstatter war. Auch hierdurch wird der Verdacht bestätigt, dass dieser Nazianwalt einen ganz persönlichen Rachefeldzug gegen Justizrat Drucker führte. Zum Schluss des Urteils soll Fritzsche nach den Erinnerungen Friedländers handschriftlich geschrieben haben: „Er ist ein Schandfleck der deutschen Anwaltschaft.“[44]
Max Friedländer gibt über den Verlauf der Berufungsverhandlung vor dem Ehrengerichtshof folgende Darstellung:
„Der Schandfleck legte Berufung zum Ehrengerichtshof ein, der jetzt nach Berlin verlegt war und aus 4 Nazianwälten und 3 Reichsgerichtsräten bestand. Die letzteren waren natürlich unabhängige Richter. Die Verhandlung verlief so, dass an einer Freisprechung, die von den Reichsgerichtsräten allein herbeigeführt werden konnte (da zu einer Verurteilung qualifizierte Majorität erforderlich war), kaum zu zweifeln war. Rätselhaft wurde die Sache erst, als der Oberreichsanwalt als Ankläger das Wort ergriff und eine Lobrede auf Drucker hielt (er selbst erzählte mir, dass selbst bei offiziellen Festlichkeiten noch niemand ihn so in den Himmel gehoben habe). Dann aber wurde der Ankläger plötzlich unruhig, lief vor seinem Pult hin und her und erklärte unvermittelt: Eine Strafe müsse natürlich sein und er stelle das Strafmaß in das Ermessen des Gerichts.“[45]
Die Entscheidung des Ehrengerichtshofes änderte das Urteil der Sächsischen Anwaltskammer dahingehend ab, dass gegen Martin Drucker die Strafe des Verweises und eine Geldstrafe von 1.000,00 RM verhängt wurde. Für das merkwürdige Verhalten des Staatsanwaltes gibt Friedländer im Weiteren folgende Erklärung ab:
„Drucker freute sich nicht über dieses Urteil und als ihm ein Kollege zu seinem Erfolg gratulierte, lehnte er dies wütend ab. Darauf sagte der Kollege, der über die Interna der Sache gut Bescheid wusste: ‚Seien Sie froh, Drucker, dass Sie nicht freigesprochen wurden. Die Gestapo war im Hause. Der Oberreichsanwalt wusste es und die Reichsgerichtsräte werden es auch gewusst haben. Wären Sie freigesprochen worden, so würden Sie jetzt nicht mehr hier sitzen und schmollen!'“
Nach ungesicherten Informationen soll Mutschmann persönlich befohlen haben, Justizrat Drucker sofort durch die Gestapo zu verhaften, falls dieser freigesprochen werden sollte.
Der Hamburger Rechtsanwalt Dr. Darboven, den Martin Drucker aus seiner Tätigkeit im Vorstand des Deutschen Anwaltvereins gut kannte, verdient für sein entschlossenes und furchtloses Auftreten in dieser Sache besonderen Respekt. Obwohl er wusste, dass er sich hierdurch selbst gefährdete, hatte er anlässlich eines Besuches in Leipzig spontan die Vertretung seines hochgeschätzten Kollegen Drucker übernommen. Der Berliner Anwalt Carl Horn hatte zuvor Druckers Bitte um Vertretung in dieser Sache abgelehnt.[46]
Der Anzeigenerstatter Fritzsche hatte sein Ziel, Martin Drucker auszuschalten, vorerst nicht erreicht. Es steht jedoch zu vermuten, dass er auch an anderen, späteren Repressionen gegen Drucker unmittelbar und aktiv beteiligt war. Es ist nur schwer nachvollziehbar, wie der schmächtige, nicht mehr junge Martin Drucker diese permanente physische und psychische Anspannung ertragen hat.
Obwohl Justizrat Drucker die stetige Bedrohung zu diesem Zeitpunkt bereits bewusst gewesen sein muss, wollte er im Frühjahr 1934 die Vertretung von Richard Hofmann, der wegen Hochverrats vor dem berüchtigten Volksgerichtshof angeklagt war, übernehmen. Der Präsident des Landesgerichts Leipzig Lorenz warnte den Vorsitzenden des I. Senats des Volksgerichtshofes in einem Schreiben vom 27. April 1934 deshalb nachdrücklich vor diesem „talmudistischen Genie“: „Persönlich halte ich den Justizrat Dr. Drucker für einen anständigen Mann, er ist aber einer der überaus klugen, geistreichen und gewandten Juden, die aus ihrer spitzfindigen und eben talmudistischen Geistesart nicht herauskönnen.“[47]
Die Tatsache, dass Martin Drucker allen Verfolgungen zum Trotz das Ende des Hitlerregimes erleben konnte, lässt die Vermutung zu, dass einflussreiche Personen versuchten, den Justizrat zu schützen und vor der Deportation ins Konzentrationslager und der Ermordung zu bewahren. Hierfür gibt es jedoch keine konkreteren Anhaltspunkte.
9. Der 65. Geburtstag
In dem bereits erwähnten Ostwald’schen Haus „Glück auf!“ in Großbothen empfing die Familie am 6. Oktober 1934 eine Gruppe der damals namhaftesten Juristen Deutschlands, an ihrer Spitze den hochbetagten ehrwürdigen Geheimrat Adolf Heilberg.[48] Der für den Jubilar vollkommen überraschende Besuch in Großbothen, ein Verdienst des ältesten Sohnes Heinrich und des treuen Assistenten Fritz Grübel, war deshalb für Drucker eine menschliche Wohltat, da er zu dieser Zeit durch das bereits geschilderte ehrengerichtliche Verfahren des Zuspruches der verehrten Kollegen besonders bedurfte.
Heilberg überreichte dem von der unerwarteten Ehrung tief berührten Martin Drucker eine anlässlich des 65. Geburtstages von Julius Magnus herausgegebene Festschrift. Die in aller Heimlichkeit, fast konspirativ, entstandene Festschrift vereinte die Koryphäen der deutschen Anwaltschaft. Ganz besondere Bedeutung hatte für den Jubilar der in die Festschrift aufgenommene Beitrag des bereits mehrfach genannten Strafverteidigers Max Alsberg „Das Plaidoyer“. Er wurde dadurch an diesem Tag an die vergangenen Zeiten erinnert, als Alsberg und er sich brillante, scharfsinnige und von der Presse bejubelte Rededuelle geliefert hatten. Der Beitrag wurde von der Witwe postum zur Veröffentlichung in der Festschrift übergeben, denn Alsberg hatte sich, um weiteren Demütigungen und Repressalien zu entgehen, am 11. September 1933 das Leben genommen.
Die Versuche der neuen Machthaber, auch den standhaften und mutigen Leipziger Rechtsanwalt Martin Drucker auszuschalten, gingen immer weiter. Die Nazis gingen nun dazu über, die Klienten zu zwingen, ihre Mandate bei Justizrat Drucker zu kündigen. So musste ein kosmetischer Konzern gegen seinen Willen jegliche geschäftliche Verbindung abbrechen, da andernfalls mit einem totalen Boykott sämtlicher Produkte in allen Parfümgeschäften und durch alle Friseure gedroht worden war.
Martin Drucker schreibt später, dass er die durch diese Machenschaften zugefügten wirtschaftlichen Schädigungen nur mit größten Schwierigkeiten ertragen konnte: „… ich sah das Ende meiner Widerstandsfähigkeit herannahen.“ Das ist einer der wenigen Belege dafür, dass die stetige Bedrohung nicht spurlos an dem Leipziger Rechtsanwalt vorüberging. Er ließ sich ansonsten kaum jemals anmerken, dass ihn die Attacken im Innersten trafen.
10. Verteidigung von Verfolgten des Naziregimes
Umso erstaunlicher ist es, dass Justizrat Drucker sogar noch nach dem Beginn des Krieges 1942 vor dem Amtsgericht Leipzig den Freispruch des wegen Diebstahls angeklagten litauischen Zwangsarbeiters Galeckas durchsetzte. Als er dann auch noch die volle Auszahlung des Lohnes für den Arbeitseinsatz des Angeklagten während der Untersuchungshaft forderte, ereiferte sich der OLG-Präsident über die „typisch liberalistische Denkweise“ Druckers wie folgt:
„Dr. Drucker, dessen Berufsausübung schon früher Anlass zur Beanstandung gegeben hat, hätte als Mischling besondere Veranlassung zur Zurückhaltung gehabt. Sein völlig verfehltes Eintreten für einen Litauer ist aber eines Anwalts unwürdig.“[49]
Häufig war nach dem Beginn des barbarischen Krieges und der Deportationen der jüdischen Bürger Leipzigs der Rechtsanwalt Martin Drucker die letzte und einzige Möglichkeit auf Hilfe und Rettung. Nur wenige dieser Fälle sind überliefert. Ein ganz besonders dramatischer Fall betraf Susanne Aizen,[50] die am 4. März 1924 in Leipzig geboren war. Seit Januar 1942 war sie Kassiererin im Lichtspieltheater „Filmeck“ im Barfußgäßchen, bis sie am 12. September 1942 exakt um 12.10 Uhr mittags auf Grund einer Denunziation vorläufig festgenommen wurde. Ihr Vater war ein jüdischer Kaufmann, von dem die „deutschblütige“ Mutter geschieden war. Der Vater war nach Polen abgeschoben worden. Eine Berufsschule konnte Susanne nach Abschluss der Volksschule wegen ihrer Abstammung nicht besuchen. Sie lernte ein paar Monate in der bekannten jüdischen Firma Max Held Kontoristin. Susanne Aizen war nach Auffassung der Gestapo Geltungsjüdin und hatte demzufolge den Judenstern zu tragen und den Zusatznamen „Sara“ zu führen. Beides hatte sie jedoch nicht getan. Ein weiterer Vorwurf entstand dem 18-jährigen Mädchen daraus, dass sie im November 1941 einen Sohn geboren hatte, dessen Vater ein „deutschblütiger“ Wehrmachtsangehöriger war. Das war nach Auffassung des anklagenden Oberstaatsanwaltes Rassenschande. Die verzweifelte Mutter des minderjährigen Mädchens wandte sich an Martin Drucker, der das Mandat übernahm und bereits mit Schriftsatz vom 23. September zu den Vorwürfen Stellung nahm. Die Ausführungen bestätigen ein weiteres Mal, dass es der Leipziger Rechtsanwalt verstand, die Nazijuristen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Die Rassengesetze waren nicht nur in ihrem Inhalt barbarisch, sie waren auch so unprofessionell formuliert, dass sie nicht in jedem Einzelfall die gewünschte Zielstellung erreichen konnten. Martin Drucker brachte die Staatsanwaltschaft in der mündlichen Verhandlung am 28. September 1942 so in Bedrängnis, dass der Staatsanwalt Dr. Gläsemer die Vertagung der Hauptverhandlung zur weiteren Vorbereitung beantragen musste. Nach dem Protokoll der mündlichen Verhandlung folgt in der erhalten gebliebenen Akte ein lapidares Schreiben der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeistelle Leipzig an den Herrn Oberstaatsanwalt beim Landgericht vom 20. Januar 1943 folgenden Inhalts:
„Betr.: Susanne Sara Aizen
Die Obengenannte ist am 11.1.1943 im Konzentrationslager Auschwitz verstorben. Ich bitte um Kenntnisnahme.“
Immer wenn der Leipziger Rechtsanwalt in dieser Zeit in das Gerichtsgebäude in der Elisenstraße 64 (heute Bernhard-Göring-Straße) ging, fürchtete die Familie, dass der Vater noch im Gerichtssaal von der Gestapo verhaftet werden könnte. Auch die verbliebenen Angestellten der Kanzlei in der Ritterstraße waren sich bewusst, dass sich ihr beliebter Chef in ständiger Gefahr befand, verhaftet und in ein Konzentrationslager geschafft zu werden.
11. Restriktionen gegen die Kinder
Martin Drucker hatte in der Zeit des Nationalsozialismus nicht nur die geschilderten Verfolgungsmaßnahmen und Repressionen zu erleiden. Er verlor während der Bombenangriffe seine Kanzlei in der Ritterstraße mit der bereits vom Vater aufgebauten kostbaren juristischen Bibliothek. Auch die Druckersche Wohnung in der Schwägrichenstraße wurde mit fast allem Hab und Gut während der Bombenangriffe vernichtet.
Die Nationalsozialisten versuchten nicht nur Martin Drucker selbst auszuschalten, sondern sie verfügten auch immer wieder neue repressive Maßnahmen gegen seine Kinder, die über das für sie als sogenannte 1/4 Juden selbst nach den Rassegesetzen zulässige Maß hinaus gingen. Seine beiden Söhne Heinrich und Peter teilten das entsetzliche Schicksal vieler hoffnungsvoller junger Männer: Sie starben in dem sinnlosen barbarischen Krieg. Die beiden Töchter wurden in ihrer Ausbildung und ihrer Berufsausübung gehindert. Der 1905 geborene Sohn Heinrich hatte wie sein Vater bereits an der Thomasschule zu den größten Hoffnungen Anlass gegeben. Ihn drängte es später zum Studium der Philosophie, besonders bei Theodor Litt. Sein Wissensdrang führte ihn auf Abwege zur Soziologie, so dass er schließlich am Leipziger Institut bei Hans Freyer landete. Dieser ließ ihm bereits 1933 den Zutritt zum Institut verwehren. Im November 1942 heiratete er, da das Gerücht umging, dass auch den „25%igen Juden“ künftig die Ehe per Gesetz untersagt werden sollte, kurz entschlossen die katholische Postangestellte Ursula Quinte. Aus dieser Ehe sind zwei Söhne hervorgegangen. Die beiden Enkelkinder waren für Martin Drucker in seinen letzten Lebensjahren Trost, Freude und Hoffnung. Obwohl die akademische Karriere des Sohnes Heinrich wegen seiner Abstammung beendet war, war er doch ‚geeignet‘, als Landesschütze an die Ostfront eingezogen zu werden. Tagtäglich schrieb Heinrich an seine junge Frau düstere Briefe. Als diese ausblieben, war die ganze Familie beunruhigt.
Schließlich erreichte Ursula Drucker im Februar 1945 in Aue, wohin sie mit ihren beiden Kleinkindern geflüchtet war, der Brief eines ihr unbekannten Stabsgefreiten Kosub. Der Unbekannte teilte ihr mit, dass er Heinrich auf der Hauptstraße nach Berlin-Breslau im Graben an einem Ort namens Oberau in der Nähe von Lüben in Niederschlesien tot gefunden habe. Er schickte von ihr stammende Briefe, die er in der Hose des Toten gefunden hatte. Heinrich wurde in Oberau beerdigt. Nach den geschilderten Umständen musste die Familie annehmen, dass Heinrich seiner Uniform beraubt und ermordet worden war.
Ebenso tragisch endete das Leben des wesentlich jüngeren, 1914 geborenen, hochbegabten Sohnes Peter. Er fiel am 12.07.1942 in Afrika bei El Alamain. Am Morgen noch hatte er der Familie in Leipzig eine Karte von Kreta geschrieben. Wenige Stunden später wurde er mit seiner Kompanie per Flugzeug zum Kriegseinsatz geflogen, wo er am gleichen Tag umkam. Peter war der Naturwissenschaftler der Familie und stand so in der Tradition seines Onkels Carl. Er studierte zunächst 1932 in Göttingen, aber schon ab 1933 in Leipzig, insbesondere bei Heisenberg. 1936 brach er sein Studium ab, da er keine Chance sah, dieses unter der nationalsozialistischen Herrschaft noch beenden zu können. Er kam durch die Vermittlung seines Hamburger Onkels Conrad als Stift in eine Firma für Import-Export. Peter hoffte dadurch später nach Südamerika auswandern zu können. Diese Hoffnungen zerschlugen sich jedoch mit dem Kriegsbeginn.
Der 1903 geborenen Tochter Martina wurde nach dem erfolgreichen Abschluss ihres Medizinstudiums in Leipzig untersagt, ihren geliebten Beruf als Kinderärztin auszuüben. Auch für diese Schikane gab es natürlich keine gesetzliche Grundlage. Sie arbeitete deshalb einige Zeit bei dem namhaften jüdischen Arzt Dr. Abraham Adler in dessen Praxis in der Bosestraße. Später wurde sie nach Schlawe in Hinterpommern dienstverpflichtet. Nach dem Einmarsch der Russischen Armee musste sie als Ärztin in einem Kriegsgefangenenlager arbeiten. Ihre Rückkehr nach Leipzig war eine schreckliche Odyssee, wie sie viele andere Flüchtlinge und Vertriebene zu dieser Zeit erleben mussten. Obwohl ihr allgemeiner Zustand bei ihrer Ankunft in Leipzig erschreckend war, wie sich die jüngere Schwester Renate noch heute erinnert, war ihr sehnlichster Wunsch, endlich als Kinderärztin arbeiten zu dürfen. Als solche ist sie sogar heute noch manchen Leipzigern aus Kindheitstagen in Erinnerung. Die spätere Sanitätsrätin arbeitete aufopferungsvoll für ihre kleinen Patienten, denn auch sie verstand ihren Beruf, wie ihr Vater, als lebenslange Berufung. Die nach schwerer Krankheit im Jahr 1992 in Leipzig verstorbene Tochter Martina hat dem Namen ihres Vaters im besten Sinne des Wortes Ehre gemacht.[51]
Renate, die wesentlich jüngere zweite Tochter Martin Druckers, besuchte, wie ihr Bruder Peter, das angesehene Gymnasium in Salem am Bodensee. Sie fühlte sich dazu berufen, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten und wollte Rechtsanwältin werden. Für diese berufliche Laufbahn gab es für sie jedoch nach 1933 keinerlei Chance mehr. Sie studierte daher Geschichte und Germanistik und hatte damit, wie heute mit Gewissheit gesagt werden kann, ihre wahre Berufung gefunden. Zwischen 1938 und 1941 war auch sie aus rassischen Gründen vom Studium an deutschen Universitäten ausgeschlossen. Selbstredend gab es auch für diesen Ausschluss in den „Rassegesetzen“ keine Basis. 1942 setzte sie ihr Studium bei ihrem besonderen Förderer Walter Stach in Straßburg fort, wo sie Ende 1944 zum Thema „Die althochdeutschen Glossen in der lex salica“ promovierte.
Als Historikerin hat sie sich bleibende Verdienste um den Aufbau und die Bewahrung des Universitätsarchivs erworben, welches sie zwischen 1950 und 1977 bis zu ihrer Pensionierung engagiert leitete. Ganze Generationen von Studenten erinnern sich bis heute lebhaft an ihre Lehrveranstaltungen auf dem Gebiet der historischen Hilfswissenschaften an der Leipziger Universität. Anlässlich ihres 80. Geburtstages[52] verlieh ihr die Leipziger Universität in Würdigung ihrer besonderen Verdienste für die Freiheit des Gedankens die Ehrenbürgerschaft. Am 23. Oktober 1997 wurde Renate Drucker für ihr Lebenswerk mit dem Verdienstorden des Freistaates Sachsen geehrt. Martin Drucker wäre mit Bestimmtheit sehr stolz auf seine Jüngste gewesen.
12. Versetzung in den „Ruhestand“
Unter dem Datum vom 22. April 1943 teilte der Oberlandesgerichtspräsident dem Landgerichtspräsidenten mit, dass er zu prüfen habe, „ob der jetzt 73 Jahre alte Rechtsanwalt Justizrat Dr. Drucker gemäß § 3 der VO vom 01.03.1943 in den Ruhestand zu versetzen ist.“[53] Gleichzeitig merkte er an, dass gegen Dr. Drucker wieder einmal ein strafrechtliches Verfahren bei der Dienststrafkammer anhängig sei und abschließend heißt es dann: „Ich beabsichtige, dem Verfahren auf Versetzung in den Ruhestand den Vorzug vor dem ehrengerichtlichen Verfahren zu geben und bitte deshalb um besonders beschleunigte Durchführung der Erörterungen.“
In dem daraufhin angefertigten „Vorschlag wegen Versetzung in den Ruhestand“ stellt der Landgerichtspräsident Lorenz u. a. fest:
„Ob das anhängige ehrenstrafrechtliche Verfahren ein Grund für seine Versetzung in den Ruhestand ist, kann von hier aus nicht beurteilt werden. Ob lediglich die Tatsache, dass Dr. Drucker Mischling 1. Grades ist, einen Grund zur Versetzung in den Ruhestand gibt, muss der höheren Entschließung überlassen werden. Das Verhalten Dr. Druckers seit 1933, insbesondere die Art seiner Berufsausübung und Berufsauffassung seit diesem Zeitpunkt geben zu Beanstandungen keinen Anlass.“
Die beabsichtige Versetzung in den Ruhestand war auch Anlass, Erörterungen über die Vermögensverhältnisse Martin Druckers anzustellen, denn es war zu klären, ob der Rechtsanwalt einer Versorgung aus Mitteln der Reichsrechtsanwaltskammer „bedürftig und würdig“ sei. Drucker gab hierzu an, dass die Versorgung seines 38-jährigen Sohnes Heinrich und seiner 26-jährigen Tochter Renate noch auf seinen Schultern ruhe, da sie als Mischlinge 2. Grades bislang kein eigenes Einkommen finden konnten. Auch seine gerade schwangere Schwiegertochter sei vollkommen vermögenslos. Die von der Sozietät abgeschlossene Lebensversicherung trete für den Fall des Ausscheidens auch nicht ein, so dass auch hieraus keinerlei Versorgung zu erwarten sei, sondern nur weitere Prämienzahlungen erfolgen müssten. Martin Drucker war trotz seiner lebenslangen erfolgreichen anwaltlichen Tätigkeit in seinen letzten Lebensjahren praktisch ohne Existenzgrundlage. Sein Vorkriegsvermögen (gemeint war hier natürlich der Erste Weltkrieg) hatte er wie andere pflichtschuldigst in Kriegsanleihen angelegt und durch den Verfall der Währung verloren. Es entsprach jedoch unabhängig davon auch nicht dem Wesen Martin Druckers, und auch nicht dem seiner Frau Margarethe, Vermögen anzuhäufen. Die vor 1933 sehr gut laufende Kanzlei musste auch viele Köpfe ernähren und ansonsten wurde Geld insbesondere dann sehr großzügig ausgegeben, wenn es um die umfassende Ausbildung seiner Kinder ging. Die Domizile in Niedergräfenhain und später in Großbothen konnte sich die Familie nur wegen der außerordentlich günstigen Mietverhältnisse leisten. Aber auch das war ein „Luxus“, den der Justizrat sich und seiner Familie gerne gönnte. Die Anschaffung von Grundbesitz jedoch war ihm vollkommen wesensfremd.
Trotz festgestellter Vermögenslosigkeit wurde Martin Drucker ohne Versorgung auf Grund der genannten Verordnung, welche als „lex Drucker“ bekannt wurde, per 01.01.1944 in den Ruhestand als Rechtsanwalt versetzt. Ein einmaliger Vorgang, da ein freiberuflich tätiger Anwalt, der eben nicht Staatsbeamter ist, naturgemäß auch nicht durch den Staat per Dekret in den Ruhestand versetzt werden kann. Der Termin für die Versetzung in den Ruhestand musste nochmals verschoben werden, da die Kanzlei in der Ritterstraße 1-3 während des Bombenangriffes am 4. Dezember 1943 in Flammen aufging. Niemand wurde damals in die Innenstadt gelassen, um zu löschen oder noch irgendetwas zu retten. Das Haus selbst war gar nicht getroffen worden. Es war durch das Feuer des gegenüberliegenden Hauses schließlich abgebrannt. Als Martin Drucker in Aue und Jena seine Erinnerungen aufschrieb, wurde ihm oft bewusst, welche wichtigen Dokumente und lieb gewordenen Erinnerungen damals unwiederbringlich verloren gegangen sind. Die Kanzlei wurde daraufhin in die Wohnung in der Schwägrichenstraße verlegt, da auch die Wohnung des treuen Sozius Eckstein ausgebombt war. Am 29.12.1943 teilte der Oberlandesgerichtspräsident mit, dass die Versetzung in den Ruhestand auf den 1. April 1944 verschoben worden sei. Nur der Tatsache, dass Eckstein seinen langjährigen Seniorpartner Drucker trotzdem weiter im Rahmen des Möglichen etwas verdienen ließ, ist es zu verdanken, dass die Familie nicht vollständig ohne Einkommen war, zumal sämtliche Rücklagen längst verbraucht waren. Als Ende Mai 1944 bei Martin Drucker eine Aufforderung einging, einen Personalbogen auszufüllen, kam es erneut zu einem unerfreulichen Briefwechsel mit dem Landgerichtspräsidenten, da sich der „Rechtsanwalt im Ruhestand“ beharrlich weigerte, dieser Forderung nachzukommen. Da ihm eine aufsichtsrechtliche Ahndung angedroht wurde, bat der Justizrat um Angabe der gesetzlichen Bestimmungen, nach welchen er weiterhin unter der Aufsicht des Reichsjustizministers stehe.
Seinen 75. Geburtstag am 06. Oktober 1944 verbrachte Martin Drucker bei der Arztfamilie Duseberg in Aue, wohin seine Schwiegertochter mit ihren beiden Kindern gegangen war. Auch wenn Heilberg 10 Jahre zuvor zu Drucker in Großbothen gesagt hatte, dass niemand wissen könne, was die nächsten Jahre bringen werden, hatte sicher keiner der damals Anwesenden auch nur eine vage Vorstellung von dem, was dann tatsächlich kam.
Martin Drucker hatte allzu früh seine einzigartige Frau Margarethe verloren, der jüngste Sohn Peter war 1942 gefallen, der Älteste war an der Ostfront, die altehrwürdige Kanzlei war zerstört, die berufliche Existenz schien für immer vernichtet. Ein trauriger 75. Geburtstag. Doch die Dusebergs, die Tochter Renate und Ursula Drucker, die ihren Schwiegervater abgöttisch verehrte, versuchten, den Tag so würdig wie unter den Kriegsbedingungen nur irgend möglich zu gestalten.
Trotzdem war auch zu diesem Zeitpunkt für Martin Drucker noch nicht alles ausgestanden. Im Februar kam die Nachricht vom Tod des Sohnes Heinrich und die Schwiegertochter Ursula kam mit ihren beiden kleinen Söhnen zurück nach Leipzig. Hier erfuhren sie kurze Zeit später, dass ihre Ängste um die in Dresden lebenden Mannsfelds nicht unbegründet waren. Nach dem verheerenden Bombenangriff am 13. Februar 1945 war die geliebte Schwester Betty schwer verletzt mit zertrümmerter Hüfte, ohne Papiere und ohne Schuhe auf der Straße gefunden worden. Der neben ihr liegende Carl Mannsfeld war tot. Sie wurde in die Klinik ‚Sonnenstein‘ gebracht, wo sie darum bat, die Druckers in Leipzig zu informieren, denn der Rest der Familie war durch den Bombenangriff auf Dresden ebenfalls zerstreut und obdachlos. Der Tod seines Schwagers, des früheren sächsischen Justizministers, war für Justizrat Drucker noch immer nicht die letzte Todesnachricht. Nach Kriegsende gingen bei Druckers, wie in vielen anderen Familien, noch sehr lange derartige traurige Briefe von langjährigen Freunden und Kollegen ein. Umso glücklicher war Martin Drucker, wenn ihn eine Nachricht von ehemaligen Kollegen aus dem Ausland erreichte, die vor dem nationalsozialistischen Rassenwahn aus Deutschland geflohen waren.
Sicher war es für Martin Drucker in dieser Situation ein großer Trost, dass die Schwester, die liebevolle ‚Bettchentante‘, überlebt hatte. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1957 blieben ihre beiden Nichten auf das Engste mit ihr verbunden.
Am 23. Februar 1945 ging schließlich auch die Wohnung in der Schwägrichenstraße in Flammen auf. Die Situation an diesem Tag, wie sie Renate Drucker sehr anschaulich beschreibt, mutet geradezu kafkaesk an, denn kaum jemand war dieser Situation noch gewachsen. Nur wenige Erinnerungsstücke wurden in letzter Minute wahllos aus der Wohnung im Erdgeschoss gerettet. Kurz bevor die Balken herab brachen, wurde auch der zerlegte Flügel, auf dem Margarethe Drucker so gern gespielt hatte, noch auf die Straße gebracht. Die Familie kam zunächst getrennt provisorisch bei Freunden und Bekannten unter. Ein früherer Mandant war bereit, der Familie Drucker eine freie Wohnung in einem seiner Häuser zu vermieten. Deswegen musste er in dem berüchtigten Amt zur Förderung des Wohnungsbaus in der Harkortstraße 1 vorsprechen, um die hierfür erforderliche Genehmigung zu erhalten. Im Nachbarzimmer hielt sich der Rechtsanwalt Zuberbier, der Leiter dieses Amtes, der über viele Jahre direkt über Druckers gewohnt hatte, auf. Als er mit anhörte, worum es ging, drohte er dem früheren Klienten Martin Druckers mit „Maßnahmen der Partei“. Drucker selbst wolle er nun umgehend ins Konzentrationslager schaffen lassen. Sofort gewarnt, entzog sich die Familie dem Zugriff der Leipziger Verfolger und floh zu Freunden nach Jena. Dort wartete Martin Drucker das nahe Ende des Krieges ab. In dieser Zeit der relativen Ruhe und Besinnung gab er endlich dem Drängen seiner Schwiegertochter nach und begann, seine Erinnerungen aufzuschreiben. Das Leben ohne Geld, Lebensmittelkarten und Verdienstmöglichkeiten war in Jena für die ganze Familie außerordentlich schwierig. Als die Amerikaner nach Jena kamen, bot Drucker dem neuen Oberbürgermeister sofort seine Arbeitskraft für den Wiederaufbau an. Dieser Brief blieb im Nachlass erhalten.
Ein Angebot der einmarschierten Amerikaner, nach dem Westen zu gehen und in Frankfurt am Main eine neue Kanzlei aufzubauen, war sicher sowohl lukrativ, als auch verlockend. Trotzdem widerstand der 75-jährige Jurist diesen Angeboten. Es entsprach seiner innersten Überzeugung, dass er dort für den Wiederaufbau sorgen musste, wo er hingehörte: in Leipzig.
13. Die letzten Jahre
Nach der Befreiung Leipzigs durch die Amerikaner war, wie Martin Drucker nach seiner Rückkehr erfuhr, ein Jeep vor dem völlig zerbombten Wohnhaus Schwägrichenstraße 5 vorgefahren. Die Amerikaner suchten Drucker, um ihn zum ersten Bürgermeister Leipzigs zu ernennen. Wegen seiner Abwesenheit fiel die Wahl auf Rechtsanwalt Dr. Vierling, welcher kurze Zeit später durch Erich Zeigner abgelöst wurde.
Die Rückkehr von Jena nach Leipzig gestaltete sich unter den katastrophalen Bedingungen nach dem totalen Zusammenbruch außerordentlich schwierig. Die Familie wartete in Jena auf ein Zeichen aus Leipzig, dass sie wiederkommen könne. Martin Drucker erhielt dann tatsächlich Nachricht, dass er zurückkehren müsse, ‚um in den Wiederaufbau eingeschaltet zu werden.‘ Es war jedoch schließlich erst Anfang Juni möglich, Martin Drucker mit einem Auto aus Leipzig von Jena abzuholen und in seine Heimat- und Geburtsstadt zurückzubringen. Hier bezog die ganze Familie eine Wohnung in der Brandvorwerkstraße 80. Diese war nur spärlich, mit zum Teil geborgten Möbeln eingerichtet, denn die aus der Wohnung in der Schwägrichen- straße geretteten und untergestellten Möbelstücke waren später durch eine Luftmine vernichtet worden. Die Schwiegertochter Ursula, die ihre beiden Kleinkinder zu versorgen hatte, führte auch den Haushalt. Die Tochter Renate hatte einen Lehrauftrag an der Leipziger Universität erhalten. Sie konnte jedoch noch nicht lesen, da die geschichtlichen Fächer zu diesem Zeitpunkt noch ‚gesperrt‘ waren.
Nachdem auch die Tochter Martina im Dezember 1945 aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, wurde sie als Assistenzärztin im Universitätskinderkrankenhaus angestellt. Als Martin Drucker zurückkam, war er bereits wieder in die Liste der beim Amtsgericht zugelassenen Rechtsanwälte eingetragen. So kam es auch, dass hier als Kanzleisitz die Schwägrichenstraße 5 angegeben war, obwohl dieses Gebäude nicht mehr bestand. Die von seinem Sozius Eckstein mühevoll wieder eingerichtete gemeinsame Kanzlei befand sich vielmehr nun im Europahaus am Karl-Marx-Platz 7.
In seiner Abwesenheit hatten die Amerikaner in einer geheimen Wahl durch alle nicht faschistischen Rechtsanwälte einen Bezirksausschuss für Rechtsanwälte und Notare in Leipzig wählen lassen, zu dessen Präsidenten Martin Drucker bestimmt worden war. Er engagierte sich sofort in der Kommission zur Überprüfung und Wiederzulassung von Rechtsanwälten in Sachsen. Martin Drucker wurde darüber hinaus zum Vizepräsidenten der Sächsischen Rechtsanwalts- und Notarkammer gewählt und musste deshalb alle zwei Wochen nach Dresden reisen. Offenkundig in dieser Funktion wurde er etwa im Herbst 1946 gebeten, einen Vortrag zum Thema „Der Anwalt in der neuen Zeit“ vor sächsischen Rechtsanwälten zu halten.[54]
Drucker schreibt in dieser Zeit, dass er in seiner ganzen Anwaltspraxis noch niemals dermaßen mit Arbeit in Anspruch genommen worden war, die er nicht einmal in siebzig Wochenstunden bewältigen könne. In den vielen überlieferten Briefen aus dieser Zeit wird das ganze entsetzliche Elend deutlich, das die 12-jährige Naziherrschaft hinterlassen hatte. Immer wieder muss Martin Drucker an Freunde, Bekannte und Kollegen schreiben, wie es ihm und seiner Familie ergangen ist. Eingehende Briefe enthalten Todesnachrichten oder bringen überraschend Lebenszeichen von lange verschwundenen Kollegen oder gar tot geglaubten engen Freunden.
In diesen traurigen Briefwechsel fällt dann für Martin Drucker doch ganz unerwartet ein Lichtblick, als er ein Lebenszeichen von Gertrud Landsberg aus England erhält. Die wenigen erhaltenen Briefe von der „liebsten Freundin“ legen ein berührendes Zeugnis darüber ab, welch ganz unerwartetes spätes Glück Martin Drucker mit diesem Wiederfinden erlebte. Drucker hatte die zum Dr. phil. promovierte Lehrerin als Mandantin im Jahr 1924 kennen gelernt. Die junge Frau ließ sich damals in einem sehr unerfreulichen und belastenden Verfahren von ihrem Ehemann Prof. Ernst Bergmann scheiden. In den weiteren Jahren war eine enge Freundschaft entstanden, die auch die Kinder von Gertrud Landsberg mit einschloss. Auch wenn sich die beiden durch die Verfolgung Getrennten nicht mehr wiedersahen, war es einer der letzten großen Glücksmomente Druckers, mit dieser guten Freundin zumindest brieflich alte gemeinsame Erinnerungen austauschen zu können.
Der Wiederaufbau des Deutschen Anwaltvereins und die Herausgabe der Juristischen Wochenschrift beschäftigen Martin Drucker bereits wieder in zahlreichen Briefen an ehemalige Vorstandskollegen. Er schätzt die Möglichkeiten hierfür gerade in der russisch besetzten Zone aber sehr schnell und realistisch als gering ein.
Am 28. März 1946 feierte die Leipziger Juristenfakultät Drucker aus Anlass seines Goldenen Doktorjubiläums. Er war sehr überrascht darüber, dass so viele Kollegen dieses Jubiläum zum Anlass nahmen, ihm zu gratulieren. Besonders berührt hat ihn das Glückwunschschreiben des nunmehrigen Landgerichtspräsidenten Neu, mit dem er sich durch gemeinsame leidvolle Erfahrungen sehr eng verbunden fühlte.
Auf Drängen seiner Schwiegertochter bemühte sich Martin Drucker um die Anerkennung als „Opfer des Faschismus“ bei der Stadt Leipzig. Das hatte zumindest zwei Beweggründe: Einerseits wollte Ursula Drucker sicher, dass die Verfolgung und der mutige Widerstand ihres verehrten Schwiegervaters auch ganz offiziell anerkannt würde, andererseits war mit einer solchen Anerkennung auch eine bessere Versorgung verbunden, die der schwer arbeitende Drucker dringlichst benötigte, da im Ergebnis des Krieges das gesamte Hab und Gut verloren gegangen war. In diesem Zusammenhang bekam Justizrat Drucker einen ersten Eindruck von dem, was später kommen sollte, er aber nicht mehr erleben musste. Der bald 77-jährige Justizrat sprach in dieser Angelegenheit in der zuständigen Kommunalabteilung vor. Am 6. September 1946 teilte ihm der Rat der Stadt Leipzig lapidar mit, dass seine Anerkennung als Opfer des Faschismus nicht möglich sei, weil die gesetzlichen Bestimmungen dies nicht zuließen.
Nach 1945 hat sich Martin Drucker auch bemüht, die Juristische Wochenschrift, die für seine persönliche Arbeit über Jahrzehnte so bedeutungsvoll gewesen war, wieder zu beleben. Hierzu trat er in damals natürlich sehr langwierigen und schwierigen Schriftverkehr unter anderem auch mit Dittenberger, der zu dieser Zeit Richter am Amtsgericht in Kitzingen war. In einem Schreiben vom 16. Juni 1946 teilt Martin Drucker dem früheren Senatspräsidenten Delbrück resigniert mit:
„Meine von Ihnen erwähnten Bestrebungen, den DAV wieder aufzurichten, kommen leider nicht von der Stelle, hauptsächlich deshalb nicht, weil die Genehmigung der Besatzungsmächte zur Gründung von Vereinen und insbesondere solchen, die sich über die Zonengrenze weg erstrecken sollen, nicht zu erlangen ist. Unsere Bemühungen werden fortgesetzt.“
Gleichermaßen erfolglos blieben Druckers Bemühungen um die Wiederbegründung des Leipziger Anwaltvereins. Bereits im August 1945 hatte der Leipziger Anwaltsausschuss, dem er vorstand, die Satzung zur Genehmigung eingereicht. Diese wurde jedoch durch die Besatzungsbehörde ohne Gründe nicht erteilt.
Der erhaltene private Briefwechsel aus den letzten Lebensjahren zeigt erschütternd die hoffnungs- und trostlose Lage nach dem Zusammenbruch des Hitlerregimes. Drucker sieht die Zukunft in seinen Antwortbriefen wohl sehr realistisch. Trotzdem versucht er immer seinen Briefpartnern Hoffnung zu geben. Es bleibt bis heute unverständlich, wie der nun bereits über 77 Jahre alte Justizrat Drucker die enorme Arbeitsbelastung unter den schwierigsten Arbeits- und Lebensbedingungen bewältigt hat. Die Korrespondenz der letzten beiden Jahre behandelt immer wieder Erkrankungen. Eine verschleppte Lungenentzündung zwang Martin Drucker ins Krankenbett. Dieser Erkrankung erlag der große Leipziger Rechtsanwalt schließlich am 23. Februar 1947.
Nach Druckers Tod schreibt Max Friedländer an Erich List, welcher einen warmherzigen Nachruf für seinen früheren Chef geschrieben hatte:
„Nicht mit Unrecht fragt der Engländer gern, wenn von einer Persönlichkeit die Rede ist; hat er Humor? Druckers Größe ist ohne seinen Humor nicht voll zu verstehen, ich meine dieser ist von seiner Gesamtpersönlichkeit nicht wegzudenken. Sein Gedankenflug ging so schnell und präzis, dass er in der unerwarteten Situation sofort alle Möglichkeiten der Gedankenverbindung entdeckte oder spürte, keine Vieldeutigkeit übersah und so den Witz schon auf der Zunge hatte, wenn der andere noch kaum dass Stichwort ausgesprochen hatte.“[55]
Mit diesen Worten ist Friedländer seinem verehrten Kollegen wohl am nächsten gekommen.
Das Grab Martin Druckers und seiner Frau Margarethe auf dem Johannisfriedhof wurde, wie die vieler weiterer bedeutender Leipziger Persönlichkeiten, später bei der Umgestaltung zum Friedenspark beseitigt. Im Unterschied zu dem erwähnten NSDAP-Anwalt Fritzsche, der in Lindenthal als ‚Widerstandskämpfer‘ geehrt wird, erinnert deshalb in Leipzig nichts an diesen außerordentlich mutigen Anwalt. Dem Engagement von Dr. Fred Grubel ist es zu verdanken, dass im Oktober 1989 anlässlich des 120. Geburtstages erstmalig Vertreter des Deutschen Anwaltvereins und des Kollegiums der Rechtsanwälte der damals noch existierenden DDR zu einer Gedenkveranstaltung in Leipzig zusammen kamen. Sowohl Manfred Unger als auch der eigens aus New York angereiste Fred Grubel würdigten sehr einfühlsam das Lebenswerk Martin Druckers. In den nachfolgenden Wirren der Wiedervereinigung verfiel jedoch die gerade wieder aufgefrischte Erinnerung an diesen mutigen Leipziger Juristen sehr schnell wieder dem Vergessen.
[1] Vergleiche hierzu insbesondere: Erika von Bose: Carl Emil Mannsfeld (1865-1945) Sächsischer Justizminister vom Juli 1929 bis März 1933 – eine biographische Skizze. In: Sächsische Justizgeschichte, Band 7, Von Weimar bis zur Gegenwart, Dresden 1998
[2] In: Europäisches Markenrecht, Dritter Teil: Vergleichende Darstellung der Markenrechte von den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Spanien, Portugal mit dem Deutschen Recht; Dr. Walter Rothschild, Berlin und Leipzig 1912/13
[3] Dieser Tag ist als „schwarzer Dienstag“ in die Bankengeschichte eingegangen
[4] Vergleiche: Vorwort von Dr. Fred Grubel zum Faksimiledruck der Festschrift Martin Drucker 1934; Scientia Verlag Aalen 1983.
[5] Vergleiche hierzu: Rosa Luxemburg im Gefängnis, Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 1987, S. 73
[6] Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, Bestand: GSA 72/BW 5043
[7] Vergleiche hierzu: Volker Ebersbach, Noch Gräber können lügen, in: Leipziger Blätter 18, S. 16 f.
[8] Fred Grubel, Jüdisches Leben und Leiden in Leipzig, Erinnerungen 1908 bis 1939, Vorabdruck Leipzig 1997, S. 54 ff.
[9] Dr. Werner Arendt: Abrechnung mit den Petscheks, in: Das kleine Journal, Berlin vom 11.11.1932. Der Verfasser schrieb 1933 über diesen Prozess auch in der Weltbühne
[10] so gleichlautend in: Dresdner Neuste Nachrichten, Bochumer Anzeiger, Kasseler Neuesten Nachrichten, Forster Tageblatt vom 07.11.1932
[11] so berichtet das Acht Uhr Abendblatt Berlin vom 13.08.1932 wie folgt über eine Verhandlungspause: … eine Reihe von Nationalsozialisten, teils in Uniform, ergreifen bezeichnenderweise für Caro Partei und erklären, man müsste den Petscheks infolge ihrer unerhörten Provokation doch endlich den Mund stopfen. Es kommt zu bedrohlichen Szenen und mehrere Wachtmeister müssen eingreifen, um eine eventuelle „Attacke“ gegen die Petscheks und ihre Vertreter zu verhindern.
[12] Dr. Ignatz Jastrow, Der angeklagte Staatsanwalt, Dr. Walther Rothschild, Berlin 1930
[13] Tempel rollt weiter! in: „Der Freiheitskampf“ vom 16.12.1930, S. 3. Siehe auch: Ein Disziplinarprozess gegen den Präsidenten der Sächsischen Landesversicherungsanstalt Richard Tempel, in: Kölnische Zeitung vom 09.12.1930, Nr. 671
[14] Festschrift der Juristischen Gesellschaft in Leipzig, Verlag von Veit & Comp. Leipzig 1909
[15] Vergleiche hierzu u.a.: Martin Drucker; Neuester und allerneuester Strafprozess; in: Juristische Wochenschrift 1924, S. 241 ff.
[16] Georg Witkowski, Von Menschen und Büchern. Erinnerungen 1863-1933, Leipzig 2003, S. 263 f.
[17] Juristische Wochenschrift 1922, S. 418
[18] Vergleiche hierzu auch: Ernst Mamroth, Aus den Erinnerungen eines alten Verteidigers. In: Festschrift für Martin Drucker, Leipzig 1934, S. 69
[19] 50 Jahre Leipziger Anwalt-Verein, Leipzig 1929
[20] in Max Friedländer, Erinnerungen (bislang nur veröffentlicht auf der Internetseite der Bundesrechtsanwaltskammer: www.brak.de)
[21] Vergleiche hierzu insbesondere: Gerhard Jungfer, Martin Drucker als Strafverteidiger, Anwaltsblatt 2003, S. 209
[22] Das Grab Julius Habers befindet sich noch heute auf dem Leipziger Südfriedhof
[23] Hachenburg, Erinnerungen; a.a.O. S. 276
[24] Der Beitrag Martin Druckers „Auf dem Wege zum Anwaltstande“ wurde auch in der Zeitschrift der Anwaltskammer im Oberlandesgerichts-Bezirk Breslau Nr. 1/1928 veröffentlicht.
[25] Vergleiche hierzu insbesondere: Eberhard Haas/Eugen Ewig: Max O. Friedländer (1873-1956) Wegbereiter und Vordenker des Anwaltsrechts; in: Heinrichs/Franzki/ Schmalz/Stolleis, Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993
[26] in: Hubert Lang: Martin Drucker – Das Ideal eines Rechtsanwalts, Leipzig 1997, S. 91 ff. (im folgenden kurz: Lang; Drucker)
[27] Juristische Wochenschrift H. 41, S. 357
[28] Berliner Anwaltsblatt 1929, S. 191
[29] Akten zu Justizrat Johannes Schatz: HSTAD, Bestand SAK Nr. 556, 1901
[30] Max Hachenburg, Lebenserinnerungen eines Rechtsanwalts, Düsseldorf 1927
[31] Vergleiche hierzu: Fred Grubel, Erinnerungen a.a.O., S. 56
[32] „So geht die Sache nicht!“ in: Leipziger Tageszeitung für nationalsozialistische Politik, Kultur und Wirtschaft vom 19.08.1933
[33] Vergleiche hierzu: Judaica Lipsiensia, Leipzig 1994, S. 295 ff.
[34] So beschreibt Martin Drucker die Situation in einem nach 1945 niedergeschriebenen Lebenslauf, Nachlass Martin Drucker.
[35] Vergleiche hierzu insbesondere: Personalakte, Staatsarchiv Leipzig, Landgericht Nr. 1424
[36] Vergleiche hierzu: Ohne Beispiel: Der Leipziger Rechtsanwalt Dr. Johannes F. – Mitglied des NS-Rechtswahrerbundes Nr. 95; in: Juristische Zeitgeschichte 5, Baden-Baden 1999, S. 200 ff.
[37] Zitiert nach der Berufungsbegründung des Rechtsanwalts Darboven vom 13.05.1935, S. 2; Institute of Contemporary History and Wiener Library Limited London, Index Number: P.II.b. 138
[38] Zitiert nach Darboven; a.o.O., S. 4
[39] Die Entscheidung des Ehrengerichtshofes über die Berufung Martin Druckers vom 01. Oktober 1935 befindet sich im Bundesarchiv, Abt. Potsdam, Sign. EGH dt. RA, Nr. 3181
[40] „Lasst jede Hoffnung hinter Euch, ihr, die ihr eintretet!“ (Dante, Göttliche Komödie; Hölle 3, 9; Letzter Vers der Inschrift über der Höllenpforte)
[41] Vergleiche hierzu: Interview mit Dr. Friedländer im November 1954, Institute of Contemporary History and Wiener Library Limited London, Number: P.II.b. 5
[42] Urteil des EGH vom 01.10.1935; a.o.O.; Seite 2
[43] Das Urteil ist vollständig abgedruckt in: Lang; Drucker, S. 96 ff.
[44] Über den Ausschluss aus der Rechtsanwaltschaft berichtete auch das Pariser Tageblatt vom 30.01.1935 (Justizrat Drucker aus dem Anwaltsstand ausgeschlossen) und vom 01.02.1935 (Das „Verbrechen“ des Justizrats Drucker)
[45] Reichsanwalt Dr. Karl Schneidewin vertrat ausweislich des vorliegenden Urteils die Staatsanwaltschaft
[46] In einem Schreiben vom 22.01.1946 äußert Horn gegenüber Drucker Gewissenbisse wegen seiner damaligen Entscheidung.
[47] Zitiert nach der Personalakte Martin Druckers; Staatsarchiv Leipzig, Landgericht Leipzig Nr. 1387
[48] Der Nachfolger Druckers im Amt des DAV-Präsidenten Rudolf Dix hatte Heilberg noch anlässlich dessen 75. Geburtstages am 14. Januar 1933 den Titel „Nathan der Weise der deutschen Rechtsanwaltschaft“ verliehen. Der Präsident der Schlesischen Anwaltskammer und der Breslauer Stadtverordneten war nur zwei Monate später von den NS-Horden aus Breslau vertrieben worden.
[49] Vergleiche hierzu: Personalakte Martin Druckers; a.o.O.
[50] Staatsarchiv Leipzig, Amtsgericht Leipzig Nr. 1265
[51] Vergleiche hierzu: Gerald Wiemers, Martina Drucker zum 100. Geburtstag; in: Universität Leipzig, Heft ?/2003, S. ?
[52] Vergleiche hierzu: Gerald Wiemers, Renate Drucker zum 80. Geburtstag; in: Universität Leipzig, Heft 4/97, S. 11
[53] Personalakte a.o.O. Blatt 24
[54] Dieser Vortrag ist vollständig abgedruckt in: Lang; Drucker, S. 105 ff.
[55] Brief ohne Datum von Max Friedländer an Erich List, zitiert nach einer Abschrift aus dem Nachlass Martin Druckers