Kapitel
- Martin Drucker – Das Ideal eines Rechtsanwalts
Inhaltsverzeichnis
Anlagen
V o r w o r t
Der 50. Todestag Martin Druckers im Februar diesen Jahres, war ein würdiger Anlaß, an diesen mutigen Leipziger Juristen zu erinnern [1].
Die Ephraim Carlebach Stiftung fühlt sich mit dem namhaftesten Leipziger Rechtsanwalt in ganz besonderer Weise verbunden.
Auch wenn Martin Drucker – wie bereits sein Vater – nicht mehr der jüdischen Gemeinde angehörte, war er zeitlebens stolz auf seine jüdische Herkunft. Juden gehörten ganz selbstverständlich zu seinem großen Freundes- und Mandantenkreis.
Martin Drucker gehört zu den wenigen mutigen Söhnen der Stadt Leipzig, die über Jahrzehnte aus unterschiedlichsten Gründen aus der Stadtgeschichte verdrängt und folglich heute zu Unrecht weitestgehend in Vergessenheit geraten sind.
Seinem couragierten Widerstand und seinem uneigennützigen Engagement für Verfolgte und Bedrängte ist es zu verdanken, daß die Stadt Leipzig in der deutschen Rechtsgeschichte zwischen 1933 und 1945 nicht nur mit fanatisierten Rassenwahn und menschenverachtender Naziideologie in Verbindung gebracht werden muß.
Der Name Martin Druckers kann deshalb vollkommen zu Recht in einem Atemzug mit den Leipziger Widerstandskämpfern Carl Goerdeler (1884-1945) und Walter Cramer (1886-1944) genannt werden.
Ich möchte an dieser Stelle all denjenigen danken, ohne die diese Publikation nicht zustande gekommen wäre.
Das ist zum einen natürlich Renate Drucker, welche mir mit viel Geduld immer wieder meine Fragen über den Lebensweg ihres Vaters, ihre ganz persönlichen Erinnerungen und das Schicksal ihrer gesamten Familie beantwortete.
Darüber hinaus ist an dieser Stelle Manfred Unger zu danken, welcher durch seine fundierten und ausgezeichnet recherchierten Beiträge über Martin Drucker den wesentlichsten Grundstein für diesen Beitrag gelegt hat [2].
Besonderen Wert erhält die vorliegende Publikation durch die erstmalige Veröffentlichung von Dokumenten aus drei entscheidenden Lebensabschnitten des Leipziger Rechtsanwalts, welche aus dem Privatarchiv von Renate Drucker zur Verfügung gestellt wurden. Zum einen wird ein eindrucksvoller Briefwechsel aus dem Jahr 1928 zwischen Drucker und seinem Berliner Kollegen Justizrat Albert Pinner (1857-1933) [3] publiziert, welcher die beabsichtigte Verlegung des Sitzes des DAV von Leipzig nach Berlin betrifft und das Engagement Martin Druckers als Präsident des Deutschen Anwaltvereins von 1924 bis 1932 beispielhaft widerspiegelt.
Aus der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft wird ein besonders brisantes Dokument erstmalig der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht: Das Urteil der Sächsischen Anwaltskammer vom 26. Januar 1935, mit welchem der frühere Präsident des DAV aus der Anwaltschaft ausgeschlossen werden sollte.
Auch wenn sich der Ehrengerichtshof bei der Reichsanwaltskammer später gezwungen sah, dieses Urteil im Berufungsverfahren wieder aufzuheben, ist es ein noch heute erschreckendes Dokument der von ungezügeltem Rassenhaß beherrschten Sprache nationalsozialistischer Juristen, wie sie Victor Klemperer in LTI so eindrucksvoll bloßgestellt hat.
Ein lediglich als Manuskript vorliegendes Referat „Der Anwalt in der neuen Zeit“, welches Martin Drucker kurz nach dem totalen Zusammenbruch des Hitlerregimes vor sächsischen Kollegen gehalten hat, muß als sein Vermächtnis betrachtet werden.
Diese letzte überlieferte Rede belegt sehr eindrucksvoll, daß der damals bereits über 75jährige Leipziger Rechtsanwalt unmittelbar nach Kriegsende seine ganze ihm verbliebene Kraft für den Aufbau einer demokratisch legitimierten und wahrhaft erneuerten Anwaltschaft eingesetzt hat.
Unter diesem Aspekt kann es eigentlich nur als Segen verstanden werden, daß Martin Drucker die Entwicklung nach 1947 nicht mehr erleben mußte.
Leipzig, im Oktober 1997
Hubert Lang
[1]Leipziger Volkszeitung vom 22. Februar 1997
[2]Vergleiche hierzu insbesondere: Martin Drucker Anwalt des Rechts; in: Anwaltsblatt 1/90 S. 3 ff. und: Leipziger Anwalt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und Präsident des Deutschen Anwaltvereins: Martin Drucker, in: Sächsische Heimatblätter 3/96, S. 173 ff.
[3]Der jüdische Rechtsanwalt Albert Pinner war Vorstandsvorsitzender des Berliner Anwaltsvereins. Er starb kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten.
Vorwort zur überarbeiteten Fassung
Das hier in einer grundlegend überarbeiteten Fassung vorgestellte Buch erschien 1997 anläßlich des 80. Geburtstages von Renate Drucker. Es fand viel Beachtung und war deshalb sehr schnell vergriffen. Eine analoge Neuauflage erschien aber trotzdem nicht sinnvoll.
Deshalb habe ich mich für die Präsentation der Überarbeitung auf meiner Homepage entschieden. Die Überarbeitung war geboten, weil das Buch leider zahlreiche Fehler unterschiedlicher Art aufwies. Sprachliche Ungereimtheiten sollten zur besseren Lesbarkeit ebenfalls so gut wie möglich beseitigt werden. Doch vor allem hat sich der Forschungsstand seit 1997 erheblich erweitert. Dieser sollte deshalb unbedingt eingearbeitet werden. Im Jahr 1997 stand mir nur das Manuskript der Lebenserinnerungen von Martin Drucker jun. zur Verfügung. Diese sind zehn Jahr später anläßlich des 90. Geburtstages von Renate Drucker von mir herausgeben worden. So konnten die Verweise jetzt entsprechend präzisiert werden, so dass sie der interessierte Leser nachlesen kann.
Darüber hinaus werden die Anlagen durch Briefe aus dem Nachlass Martin Druckers erweitert, welche aus der Nachkriegszeit und somit den letzten Lebensjahren Druckers stammen. Der Nachlass wurde inzwischen an das Sächsische Staatsarchiv Leipzig abgegeben, wo u. a. auch diese Briefe einsehbar sind.
Leipzig, im April 2022
Hubert Lang
Das Ideal mißt man vielleicht
am besten an den Opfern,
die es verlangt.
(Friedrich von Weizsäcker)
Die Vorfahren
Der Versuch die Persönlichkeit Martin Druckers über 50 Jahre nach dessen Tod heutigen Lesern nahe zu bringen, muss zwangsläufig mit seinen Vorfahren beginnen. Die Lebenseinstellung, der Mut und das lebenslange ganz selbstverständliche Engagement für hilfsbedürftige und die Gemeinschaft hatten bei ihm in ganz besonders intensiver Weise ihre Wurzeln in seiner Kindheit, in seiner Erziehung und dem familiären Umfeld.
Hierbei müssen die jüdischen Vorfahren des Vaters eine besondere Rolle spielen, denn von diesen wurde der Lebensweg des späteren Leipziger Rechtsanwalts entscheidend geprägt und beeinflusst.
Die Druckers waren sephardische Juden, die nach Holland auswanderten und von dort dann nach Kassel kamen. Hier ist der Urgroßvater Michael Levi Drucker (1761-1826) etwa Ende des 18. Jahrhunderts Hofjude beim Kurfürsten von Hessen gewesen. Die Urgroßmutter hieß nach den wenigen überlieferten Quellen Johanne, geborene Hirsch (1772-1839).
Aus dieser Ehe sind neben Siegmund (1801-1874), dem Großvater Martin Druckers, drei weitere Söhne nämlich: Gustav (04.07.1807 Kassel-29.01.1891 Paris), Jacob (16.08.1809 Kassel-09.11.1809 ebda.), Jacob (10.11.1810 Kassel- ? Battenberg) und zwei Töchter, Hedwig (30.11.1798 Kassel-07.06.1843 Braunschweig) und Therese (07.03.1800 Kassel-26.06.1843 Magdeburg), hervorgegangen. Aus den überlieferten Quellen ergibt sich, dass der Großvater Siegmund am 17. Juli 1801 ebenfalls in Kassel geboren wurde. Der jüngere Bruder Gustav ist nach Philadelphia ausgewandert, wo er 1838 Sarah Cordoza Cauffmann (1817-1896) heiratete und Vater von sieben Kindern wurde. Er kehrte nach 1848 mit seiner Familie wieder nach Europa zurück. In Paris wurden zwei weitere Kinder geboren. Sein ältester Sohn Michael (* 1839) war 1855 Handelsschüler in Leipzig.
Der 1810 geborenen Bruder Jacob lebte mit seiner Frau Hennel Weinberg in Battenberg/Hessen. Sie hatten eine Tochter Friedericke (1831-1907), die mit Salomon Oppenheimer verheiratet war und sechs Kinder zur Welt brachte.
Die ältere Schwester Therese heiratete 1832 in Magdeburg den Juwelier Jeremias Liebermann. Aus dieser Ehe gingen drei Söhne hervor. Ein Brief an die beiden von der Mutter Johanne aus Kassel (in Deutsch mit hebräischen Buchstaben!) und der Schwester Hedwig aus dem Jahr 1835 gehört zu den ältesten erhalten gebliebenen Dokumenten im Familienanschluss.
Zumindest zu dieser Zeit lebte auch Siegmund mit seiner Frau Emilie geborene Fränckel (1810-1842) in Magdeburg in der Knochenhaueruferstraße 9. Hier wurde am 30. Juli 1834 der Vater Martin Druckers geboren, welcher auch schon den Vornamen Martin (im weiteren: Martin Drucker sen.) erhielt.
Am 14. Dezember 1835 wurde noch in Magdeburg ein zweiter Sohn Max geboren, welcher jedoch bereits am 02.11.1840 in Braunschweig an Scharlachfieber starb und auf dem dortigen jüdischen Friedhof an der Hamburger Straße begraben wurde.
Im Juli 1836 traf die Familie Siegmund Druckers in der Stadt Braunschweig ein. Hier wurden am 12.09.1837 der dritte Sohn Heinrich und schließlich am 08.05.1841 die Tochter Johanne geboren. Die Mutter Emilie, geborene Fränckel, starb erst 32jährig am 22.07.1842. Sie war nach den Familienüberlieferungen eine auffallend schöne Frau gewesen, wie auch ein erhalten gebliebenes Miniaturbildnis noch heute bezeugt. Sie fand ihre letzte Ruhestätte, wie ihr Sohn Max, auf dem jüdischen Friedhof in Braunschweig. Der Grabstein hat die Zeitläufte überdauert. Die deutsche Inschrift lautet:
„Hier ruht die treue Gattin, zärtliche Mutter und Tochter, Schwester und Freundin, Frau Emilie Drucker geborene Fränckel, geboren am 05. Juni 1810 in Gott eingeschlafen am 22. Juni 1842“
Vermutlich übernahm nach dem frühen Tod der Ehefrau die unverheiratet gebliebene Schwester Siegmund Druckers, Hedwig, die Führung des Haushaltes. Doch auch sie starb ein Jahr später am 07. Juni 1843, erst 44jährig, in Braunschweig. Der 42jährige Vater hatte nun allein für den Lebensunterhalt und die Versorgung seiner drei Kinder zu sorgen. Die Tochter Johanne war gerade zwei Jahre alt.
Der Großvater soll nach den persönlichen Erinnerungen Martin Druckers die beiden fünf bzw. acht Jahre alten Söhne nach dem frühen Tod der Mutter zeitweilig zu einem Pfarrerehepaar in einem braunschweigischen Dorf gegeben haben. Über das spätere Schicksal der Tochter Johanne ist nichts bekannt. Nachweisbar ist nur, dass sich die Familie Drucker, bestehend aus einer weiblichen und drei männlichen Personen, im Jahr 1843 aus Braunschweig abmeldete.[1] Siegmund Drucker reiste dann mehrfach nach Frankfurt an der Oder, wo die Familie seiner verstorbenen Frau lebte. Vielleicht haben die Großeltern Fränckel weiter für die kleine Johanne gesorgt, um dem Vater die Gründung einer neuen Existenz zu erleichtern.
Seit dem 22. September 1843 wohnte Siegmund Drucker mit seinen beiden Söhnen Martin und Heinrich in Leipzig. Fünf Jahre später stellte er den Antrag auf Einbürgerung an die Stadtverordneten Leipzigs, nachdem er am 18. Juli 1848 aus der preußischen Staatsbürgerschaft entlassen worden war. Die Stadt Leipzig entsprach noch im gleichen Jahr dem Antrag und verlieh dem Großvater das Bürgerrecht.
Siegmund Drucker gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er war gewählter Repräsentant der ersten Gemeindeversammlung der Leipziger Gemeinde. In dieser Funktion gehörte er auch dem Komitee zu Errichtung der Gemeindesynagoge an, das sich am 27. November 1852 konstituierte.
Nur kurze Zeit vor ihm war Hermann Samson von Braunschweig nach Leipzig gekommen, um in der Reichsstraße 6-7 ein Handelsgeschäft zu eröffnen. In dessen Braunschweiger Firma war Siegmund Drucker lange Jahre Prokurist gewesen. Er übernahm diese Tätigkeit zunächst auch für das neu gegründete Leipziger Geschäft. Samson spielte bei der Gründung der Leipziger jüdischen Gemeinde ebenfalls eine sehr wichtige Rolle.[2]
Auch Albert Leppoc (1806-1875), der im März 1843 die Leipziger Jungfrau Emma Mayer geheiratet hatte,[3] war ein alter Geschäftspartner aus der Braunschweiger Zeit. Mit ihm eröffnete Siegmund Drucker in der Katharinenstraße 14 die Seidenhandlung „Leppoc & Drucker“. Über dieses Geschäft und die abenteuerlichen Geschäftsreisen seines Großvaters in die Türkei hat Martin Drucker später in seinen Lebenserinnerungen viel Bemerkenswertes und Anekdotisches aufgeschrieben. Die Firma entwickelte sich in Leipzig so erfolgreich, dass eine Einkaufsfiliale in Hongkong eröffnet wurde, um chinesische Seidenstoffe mit Echtheitsgarantie und andere asiatische Textilien zu importieren. Die Leitung dieser Niederlassung übernahm Siegmunds Bruder Heinrich (1837-1874), der jedoch seinen fernöstlichen Geschäftspartnern nicht gewachsen schien, wie die Familiengeschichte überliefert.
Heinrich soll nach den Familienerzählungen das Opfer eines groß angelegten Betruges geworden sein. Die hieraus entstandenen enormen Verluste von ungefähr 100000 Talern glich Siegmund Drucker ohne jegliche Verpflichtung gegenüber seinem Geschäftspartner Leppoc aus.
Vom einstigen Drucker’schen Vermögen war deshalb nicht viel übriggeblieben, als der Großvater starb. Heinrich ging später von Hongkong nach San Francisco, wo er „im besten Mannesalter“ gestorben sein soll.
1850 heiratete Siegmund Drucker Emma Pollack (1825-1888), die wie seine erste Frau aus Frankfurt an der Oder stammte. Aus dieser Ehe sind nochmals drei Kinder, nämlich Hedwig (1855-?), Paul und Therese, hervorgegangen. Therese wurde am 4. Dezember 1851 geboren und heiratete später einen Leipziger christlichen Kaufmann namens Theodor Frederking (1844-1914). Das Ehepaar hatte zwei Töchter: Lina verheiratete Köpp (1876-1944), die adoptiert wurde, und Charlotte. Therese Frederking starb am 20. Mai 1927. Ihr Grab befand sich auf dem Südfriedhof.
Am 18. Januar 1863 wurde der Sohn Paul geboren, der also nur wenige Jahre älter war als sein 1869 geborener Neffe. An ihn erinnert sich Martin Drucker jun. deshalb sehr lebhaft insbesondere aus gemeinsamen Kinderspielen. Überliefert ist in diesem Zusammenhang der „historische“ Ausspruch von Onkel Paul: „Martin, wir müssen Schweine sein!“ Der unverheiratet gebliebene spätere Kaufmann zog 1931 nach Altona. Er war dann Mitglied der Deutsch-Israelitischen Gemeinde in Hamburg. Am 19. Juli 1942 wurde der 79jährige aus Hamburg nach Theresienstadt deportiert, wo er bereits am 10. August starb. Renate Drucker erinnerte sich noch an den sympathischen alten Herrn, den sie anlässlich ihres Besuches bei Onkel Konrad in Hamburg kennen lernte. Im Mai 1946 erkundigte sich ein Freund der Familie aus Hitzacker nach dem Schicksal des „alten Onkels, der immer so vergnügt war, wenn er uns aufsuchte.“
Siegmund Drucker starb 73jährig am 24. August 1874. Sein Grab auf dem alten jüdischen Friedhof in der Berliner Straße blieb erhalten und wurde anlässlich des 80. Geburtstages seiner Urenkelin Renate Drucker im Jahr 1997 restauriert.
Martin Drucker jun. war damals noch keine 5 Jahre alt, aber er erinnerte sich sehr gut, dass ihn die Nachricht vom Tod seines Großvaters sehr traurig stimmte. Auf seinen Knien am Fenster in der Wohnung in der Nonnenmühlgasse sitzend und die Straße beobachtend, so gedenkt Martin Drucker jun. noch Jahrzehnte später liebevoll seines jüdischen Großvaters. Die zweite fast 25 Jahre jüngere Ehefrau Emma starb am 23. Dezember 1888 und fand ihre letzte Ruhestätte ebenfalls auf dem jüdischen Friedhof in der Berliner Straße.
„Wohl uns, daß unsere Eltern uns eine solche Ehe vorgelebt haben!“[4]
Auch über den Vater sind sehr persönliche Informationen durch die kurz vor Kriegsende zu Papier gebrachten Lebenserinnerungen Martin Druckers überliefert. Martin Drucker sen. besuchte, wie später sein gleichnamiger Sohn, die weit über die Stadtgrenzen hinaus gerühmte Thomasschule. Sein Abitur legte er dort zu Michaelis 1851 ab.
Sein innigster Wunsch, Musiker zu werden, bestimmte, obwohl er unerfüllt blieb, sein gesamtes Leben. Eine Doppelbegabung wie die des Vaters begegnet immer wieder in beeindruckender Weise in der Drucker’schen Genealogie. Einzigartig dürfte jedoch die Fähigkeit Martin Druckers sen. gewesen sein, die ausgeprägte musische und auch sprachliche Begabung fruchtbar mit seinem späteren Juristenberuf zu verbinden. Hierin dürfte ein wesentlicher Quell für die familiäre Harmonie und das eheliche Glück, wie sie der Sohn später gefühlvoll beschrieb, gelegen haben. Martin Drucker sen. besaß nach den Überlieferungen das absolute Gehör. Er spielte so ausgezeichnet Geige, dass er auf Veranlassung des damaligen Leiters des Konservatoriums Julius Rietz sogar aushilfsweise im Theaterorchester mitwirken durfte.
Der Großvater Siegmund war durchaus nicht amusisch eingestellt. Er hatte aber als Vater Sorge um die wirtschaftliche Zukunft seines begabten Sohnes. Deshalb ging Martin Drucker sen. zunächst nach Heidelberg, um dort Rechtswissenschaft zu studieren. Ein Entschluss, den er später nicht bereute und auf Grund seines außerordentlichen beruflichen Erfolges auch niemals bereuen musste.
Aus dieser Studienzeit blieb eine lebenslange Freundschaft mit dem Kommilitonen Conrad Rieger (1831-1910) aus der Bachstadt Köthen, der wie Drucker eine besondere Affinität zur Musik besaß. Der spätere Justizrat Rieger hat über viele Jahrzehnte das Musikleben seiner Vaterstadt Cöthen geprägt. Er stand im Briefwechsel mit Clara Schumann.
Die Blüthen aus dem Treibhause der Lyrik
In Heidelberg sollen nach den Erinnerungen des Sohnes auch die „Blüthen aus dem Treibhaus der Lyrik“ entstanden sein. Diese Sammlung parodistischer Gedichte des damals noch nicht 20jährigen Studenten Drucker hatte der Johann Ambrosius Barth Verlag in Leipzig 1855 anonym veröffentlicht. Martin Drucker sen. hat auch später trotz des Drängens seines Sohnes untersagt, seine Urheberschaft preiszugeben. Die dritte Auflage dieses amüsanten Werkes wurde mit Illustrationen eines jungen Künstlers versehen, der die Texte höchst trefflich rahmte. Dieser junge Künstler war kein geringerer als der damals noch unbekannte Max Klinger. Auf einer späteren Werkschau des Künstlers im Leipziger Bildermuseum am Augustusplatz wurden damals auch die „Blüten“ gezeigt, allerdings ohne den Autor der Dichtung zu offenbaren.
Die zweite Auflage 1882 erschien in etwas veränderter Fassung. Einige Gedichte fehlen, andere sind erstmals enthalten, so insbesondere die Parodien „Turner, Sänger, Schützen“ und „Das Lied ist Macht“. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass Martin Drucker sen. auch noch später aktiv an der Veröffentlichung der veränderten Auflage mitgewirkt hat.
Die „Blüten“ erschienen schließlich im Jahr 1904 in 4. Auflage. Wann die zweite Auflage erschien, konnte nicht ermittelt werden. Die drei anderen Auflagen werden noch antiquarisch angeboten. Dabei wird immer wieder neben Martin Drucker ein Adolf Zander als Mitverfasser angegeben. Worauf diese Angabe beruht, bleibt unklar. Die Staatsbibliothek Berlin gibt für ihre Exemplare an, dass der Mitverfasser der Komponist, Organist und Chorleiter Adolf Zander (1843-1914) gewesen sei. Das erscheint sehr unwahrscheinlich, da dieser beim Erscheinen der ersten Auflage 1855 erst zwölf Jahre alt war. Wahrscheinlicher ist, dass es sich um den späteren Augenarzt Adolf Zander (1832 Dresden – 21.08.1863 Chemnitz), handelt, der zur selben Zeit wie Martin Drucker sen. an der Leipziger Universität Medizin studierte. Die beiden könnten sich folglich als Studenten kennengelernt haben. Dieser Adolf Zander hat später als Augenarzt Fachbücher veröffentlicht und starb sehr früh – erst 31jährig – in Chemnitz an Typhus.
Die Universitäts-Sängerschaft zu St. Pauli in Leipzig
Von Heidelberg kam Martin Drucker sen. dann in seine Vaterstadt zurück, da die juristische Fakultät der hiesigen Universität zu dieser Zeit einen außerordentlich guten Ruf genoss. Nur folgerichtig war, dass sich der musikalisch hochbegabte Student Drucker hier dem ruhmreichen Universitätssängerschaft zu St. Pauli anschloss. In diesem Zusammenhang entstanden erste humoreske Dichtungen, die zunächst auch anonym gedruckt werden.[5] Weitere sogenannte Gelegenheitsdichtungen für die Pauliner sind leider später verloren gegangen bzw. vernichtet worden.
In den Jahren 1855/56 wurde Drucker sen. zum Sekretär des Paulus gewählt. Zur 450. Jahrfeier der Universität 1859 verfasste Drucker sen. den Text zu einem von Julius Rietz vertonten Festgesang, welcher in der Universitätsbibliothek bewahrt wird. Am 28.07.1862, Drucker sen, war inzwischen „Alter Herr“ des Paulus, wurde im Hotel de Pologne eine von ihm verfasste sogenannte Bieroper „Trichinierinnen“ uraufgeführt. Das Stück wurde zehn Jahr später zur Weihnachtsbescherung erneut aufgeführt. Bei dieser Gelegenheit trug Drucker zuvor zwei Schnarrtannelieder vor. Auch beim 25jährigen Paulinerjubiläum 1865 wurden Aufführungen von Drucker gezeigt.
Bedauerlicherweise wurde Druckers persönliches Exemplar des „Illustrirten Fest-Bädeker des Paulus“ vernichtet, den er anlässlich des 50. Stiftungsfestes 1872 verfasst hatte. In der Leipziger Universitätsbibliothek ist der Fest-Bädecker online einsehbar.
Anfang der 1850er Jahre war auch der spätere Landgerichtspräsident in Dresden, Emil von Bose (1832-1906), als Kassierer ein aktives Mitglied der Pauliner. Dessen Enkel Eduard von Bose (1898-1963) heiratete 1925 in Dresden Marie Mannsfeld (1899-1985), die Enkelin von Drucker sen.
In Dankbarkeit und tiefer Verehrung hatten die Pauliner Martin Drucker sen. einen sehr kostbaren Ring verliehen. In der von Prof. Richard Kötzschke herausgegebenen Geschichte der Universitäts-Sängerschaft zu St. Pauli in Leipzig heißt es: „Besonders verdiente Pauliner bekamen einen goldenen Ring, ja einer von ihnen, der Jurist M. Drucker, wurde zum Lohn für seine ausgezeichneten Bierzeitungen und für seine bewährte Treue sogar durch einen Brillantring ausgezeichnet.“ Als in der Generalversammlung im Sommer 1885 der Konvent darüber debattierte, künftig keine Juden mehr aufzunehmen, verzichtete er – wie einige andere Alte Herren – auf seine „Alte Herrenschaft“, schickte den Brillantring zurück und brach jede Verbindung zu den Paulinern ab. Drucker sen. jüdischer Anwaltskollege Karl Lebrecht (1857-1929) dagegen blieb dem Paulus als aktiver Alter Herr bis zu seinem Lebensende verbunden.
Nach dem juristischen Staatsexamen war Martin Drucker sen. als Hilfsarbeiter (Auskultator) bei dem stadtbekannten Advokaten Karl August Klein tätig, der damals ehrenamtlicher Vorsteher der Stadtverordneten war. In dessen Haus kam es zu einer für den weiteren Lebensweg Druckers entscheidenden Begegnung mit der Tochter Marie.
Marie Klein war am 19. Dezember 1841 geboren worden. Sie lebte mit mehreren Geschwistern in der angesehenen höheren Bürgerfamilie in auskömmlichen und sorgenfreien Verhältnissen. Als Tochter des Stadtverordnetenvorstehers hatte sie das besondere Privileg genossen, die sogenannte Ratsfreischule am Fleischerplatz zu besuchen. Von der für damalige Verhältnisse gerade für Töchter außergewöhnlichen Bildung hat auch der Sohn Martin später noch profitiert. Marie Klein besaß eine besondere Beziehung zu deutscher Literatur und hatte, wie damals üblich, auch so erfolgreichen Klavierunterricht erhalten, dass sie mit ihren Kindern zu deren Vergnügen vierhändig spielen konnte.
Die Liebe zu Marie Klein zwang Martin Drucker sen. zu einer folgenschweren, aber offenkundig niemals bereuten Entscheidung. Er reiste am 7. Februar 1865 von Leipzig nach Dresden. Dort erhielt er mit ausdrücklicher Zustimmung seines Vaters in der Kreuzkirche die Taufe und vollzog so den Übertritt zum Christentum.
Damit wurde der Weg frei für eine segensreiche Verbindung zwischen einem Abkömmling sephardischer Juden und der Tochter von über viele Generationen in Altenburg tätigen engagierten Christen. Die Trauung wurde am 25. Februar 1865 in St. Nikolai vollzogen. Der Brautvater, der langjährige Stadtverordnetenvorsteher und erfolgreiche Advokat Karl Klein, lebte zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr. Er war 62jährig am 7. Dezember 1862 verstorben. Die Mutter der Braut, Constanze Klein, entstammte der in den Annalen Altenburgs mehrfach ruhmreich verzeichneten Familie Dölitzsch. Sie wurde am 17. November 1807 als zweite Tochter des Altenburger Musikdirektors Johann August Dölitzsch (1779-1858) geboren.
Besonders zu erwähnen ist hier aber ihr Bruder, der Geheime Justizrat Arthur Ottomar Olympius Dölitzsch, der es später als Advokat zu einiger Berühmtheit brachte. Zuvor hatte er jedoch bereits als Student an der Leipziger Universität in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts für einige Unruhe gesorgt. Er war nicht nur ein „alter 48er“, sondern war einer der damals von der Obrigkeit polizeilich gesuchten führenden Revolutionäre im Thüringer Raum. Nach den Erzählungen seiner Schwester führte er mit seinem Schwager Karl Klein, der sich politisch zu einer konstitutionell gemäßigten Demokratie bekannte, häufige kontroverse politische Dispute.
Martin Drucker ist nicht nur durch seine Berufswahl in die Fußstapfen dieses bemerkenswerten Ahnen getreten. Auch mit seinem Engagement für den Deutschen Anwaltverein setzte er die Ideen des Rechtsanwaltes Ottomar Olympus Dölitzsch fort, denn dieser vertrat am 25. August 1871 bei der Gründung des DAV in Bamberg die Advokaten des Herzogtums Sachsen-Altenburg.[6]
Am 21. Dezember 1857 erhielt Martin Drucker sen. von der alma mater lipsiensis das juristische Doktordiplom, welches 50 Jahre später in Goldschrift erneuert wurde.
Die erste Praxis des Advokaten Martin Drucker sen. gemeinsam mit seinem Freund Heinrich Roßbach (1835-1891) [7] befand sich seit 1861 am Markt 8, dem bekannten Barthels Hof. Da Drucker sen. zeitweise als sogenannter Patrimonialrichter für einen Rittergutsbezirk bei Wurzen tätig war und ihm durch die Leipziger Universität die Befugnisse eines „Protestnotars“ verliehen worden waren, entwickelte sich die Kanzlei, damals noch Expedition genannt, sehr gut.
Vom Justizministerium das sogenannte Vollnotariat zu erlangen, war jedoch bereits damals viel wichtiger und natürlich auch finanziell einträglicher. Das Vollnotariat wurde jedoch nur sehr beschränkt, und wie behauptet wurde, nur bei politischem Wohlverhalten verliehen.
Wie dem auch gewesen sei, Martin Drucker machte sich sein außerordentliches Sprachtalent und eine besondere Ausnahmeregelung zu Nutze, um trotzdem das Vollnotariat zu erlangen. Ein Kandidat konnte nämlich damals eine Prüfung ablegen, mit welcher er seine Fähigkeit zur Aufnahme von notariellen Urkunden in einer modernen Fremdsprache nachwies.
Die französische, italienische, englische Sprache beherrschte der Advokat Drucker sen. vorzüglich, doch auch spanisch und portugiesisch sprach er hinreichend. Drucker meldete sich also zur Ablegung der erforderlichen Prüfung gleich in zwei Sprachen, nämlich in Französisch und Italienisch, beim Justizministerium an. Er legte beide erfolgreich in einer Klausur vor dem Präsidenten des Leipziger Landgerichts ab. Auf diese Weise hatte bereits der junge Drucker das Vollnotariat erlangt und damit die wohl entscheidende materielle Basis für die weitere Entwicklung der Anwaltskanzlei gelegt, die sich nach mehreren Umzügen seit 1900 bis zuletzt in der Ritterstraße 1-3 befand.
Die Tatsache, dass Martin Drucker sen. durch seine Tätigkeit als Protestnotar, welche sein Sohn in den Erinnerungen sehr anschaulich beschreibt, in der ganzen Stadt herumkam, um fällige Wechsel zuzustellen, brachte den Leipziger Anwalt auf eine grandiose Idee, welche noch über viele Jahre Gesprächsthema unter den Leipziger Juristen war. Oberjustizrat Drucker hatte durch seine sensible Nase im Laufe der Jahre nämlich festgestellt, dass sich viele Leipziger Stadtviertel und Straßenzüge durch ihren markanten Geruch unterscheiden ließen. Er fing deshalb an, diese Erkenntnisse zu sammeln, zu registrieren und zu ordnen. Im Ergebnis dieser Arbeit entstand zur Erheiterung der meisten seiner Kollegen ein Stadtplan, welcher dann im Anwaltszimmer des Landgerichts mit dem Titel „Die Stadt Leipzig, nach Gerüchen gegliedert“ aufgehängt wurde. Drucker sen. hatte hierauf die Gerüche durch unterschiedliche Farben kenntlich gemacht, so dass ein außerordentlich buntes Gesamtbild der Stadt Leipzig entstand. Martin Drucker jun. merkt in seinen Erinnerungen hierzu an, dass diese amüsante Geschichte nicht nur Beifall gefunden habe, sondern auch von einzelnen als eine Verhöhnung der Stadt verkannt wurde, was natürlich niemals in der Absicht seines Vaters gelegen habe. Noch kurz vor Kriegsende 1944 erinnert sich der zu dieser Zeit in Berlin lebende Staatsrechtler Heinrich Triepel aus seiner Referendarzeit höchst amüsiert an diesen einmaligen Stadtplan Leipzigs vom Anfang der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts.
Die Geschwister
Den Eheleuten Drucker wurde zunächst am 24. März 1866 ein Sohn geboren, der in Erinnerung an die so früh verstorbene Großmutter väterlicherseits Emil getauft wurde. Leider wurde das Trauma der Mutter Wirklichkeit, als der Erstgeborene gerade 3jährig an Diphtherie starb. Er teilte das Schicksal vieler Kinder dieser Zeit. So war auch die Tochter ihrer ältesten Schwester Adelheid (1840-1924) , die mit dem Altenburger Arzt Dr. Gustav Rothe (1822-1910) verheiratet war, 1867 als Dreijährige an Diphtherie gestorben. Dieser Onkel konnte später zu mindestens fremden Kindern das Leben retten, denn er erfand eine Serumbehandlung, die später verbessert und ausgebaut, eine erfolgreiche Behandlung der Diphtherie ermöglichte. Der Schmerz über den frühen Verlust des Sohnes Emils begleitete die Mutter ihr Leben lang und übertrug sich auch auf die beiden nachgeborenen Kinder, wie Martin Drucker jun. in seinen Erinnerungen schreibt.
Am 23.02.1868 wurde das zweite Kind, die Tochter Johanna, geboren. Sie heiratete später den Leipziger Architekten Johannes Boguslaw Sickert (1864-1945), den Sohn des letzten deutsch-wendischen Pfarrers Johann August Sickert (sorbisch: Jan Awgust Sykora) in Schmölln/Bischofswerda. Johanna starb am 15.10.1936 nach langer schwerer Krankheit Leipzig. Aus dieser Ehe gingen zwei Söhne hervor: der Rechtsanwalt Ludwig Sickert (1894-1938) und der Musiker Hermann Sickert (1898-1918), der seinen Beruf wegen einer im Krieg zerschossenen Hand nicht mehr ausüben konnte und sich vermutlich das Leben nahm.
Martin wurde als drittes Kind am 6. Oktober 1869 morgens um 7.00 Uhr in dem leider nicht mehr existierenden Wohnhaus in der Nürnberger Straße 12 in der I. Etage geboren. Einer seiner Taufpaten war der Leipziger Arzt Dr. med. Martin Kurzwelly. Es könnte demzufolge auch angenommen werden, dass der Vorname von ihm und nicht etwa vom Vater übernommen wurde.
Nach Martins Geburt kam am 26.07.1875 die Schwester Betty zur Welt. Mit der 6 Jahre jüngeren Schwester blieben Martin und seine Familie in einer besonders innigen und intensiven lebenslangen Verbindung, wie erhaltene liebevolle Nachkriegsbriefe zwischen den Geschwistern belegen. Betty heiratete 1896 den späteren sächsischen Justizminister Carl Mannsfeld, dessen Schwester Margarethe wiederum Martin zur Frau nahm. Diese „kreuzweise“ Verschwägerung sollte später in politisch motivierten Angriffen gegen die beiden Schwäger Martin Drucker und Carl Mannsfeld eine große Rolle spielen.
Am 24. November 1876 wurde Carl geboren, der als Assistent von Wilhelm Ostwald arbeitete, eine Professur an der Leipziger Universität inne hatte und durch seine wissenschaftlichen Arbeiten als Physik-Chemiker weit über Deutschlands Grenzen hinaus anerkannt war. Er heiratete 1917 Gertrud Flatow (1882-1965), die aus einer alteingesessenen jüdischen Familie die aus Stuhm/Pommern nach Berlin verzogen war.
Prof. Carl Drucker verlor 1933 sofort seine Professur an der Leipziger Universität. Die Eheleute konnten noch rechtzeitig nach Schweden auswandern, wo Carl eine Professur an der Universität in Uppsala inne hatte. Carl Drucker starb dort am 17.03.1959. Das gepflegte Grab der Eheleute befindet sich auf einen Friedhof in Uppsala. Gertrud Flatow war in Uppsala eine anerkannte Malerin, deren Gemälde auch von Museen angekauft wurden.
Am 16.07.1878 wurde in die bereits recht große Familie eine weitere Tochter geboren: Marie. Sie heiratete am 12.02.1905 den Mediziner Richard Burian (1871-1954). Aus dieser Ehe sind drei Kinder hervorgegangen. Die einzige Tochter Maria Louise (1908-1993), genannt Isa, stand wegen ihrer außergewöhnlichen Schönheit und Ausstrahlung immer im Mittelpunkt. Sie heiratete in erster Ehe 1933 auf dem Schiff vor der Emigration in die USA den Juristen Rudolf Littauer (1905-2002), einen Freund der Familie aus Leipzig, um diesem die Einreise zu ermöglichen. Diese Ehe wurde wenig später wieder geschieden und Isa Burian heiratete 1936 Morgan Huntington (* 1909). Aus dieser Ehe gingen drei Söhne hervor.
Der älteste Sohn Max Hermann Burian (1906-1974) war ein angesehener Augenarzt in Iowa/USA. Der jüngste Sohn Karl Wolfgang (1913-nach 1922) starb in Belgrad an Tbc, wo der Vater zu dieser Zeit einen Lehrstuhl für Physiologie inne hatte. Die Mutter Marie war schon am 12.08.1919 gerade erst 41jährig in Leipzig gestorben.
Am 28.12.1879 wurde Conrad geboren, der später als Bankier in Hamburg sehr erfolgreich tätig war. Dort heiratete er 1912 die Engländerin Bertha Freyer (1889-1970). Mit seiner Frau emigrierte er noch vor Kriegsausbruch nach England, wohin bereits die am 10.06.1914 geborene einzige Tochter Joan nach 1933 ausgewandert war. Nach Kriegsende kehrte er nach Hamburg zurück, wo er 1947 von einem englischen Jeep überfahren wurde. Er starb an den Folgen dieses Unfalls 1950 in London.
Die große Familie Drucker lebte zur Zeit von Conrads Geburt in der Zeitzer Straße 24, der heutigen Karl-Liebknecht-Straße. Druckers blieben auch künftig, trotz mehrfacher Umzüge, dem Leipziger Süden verbunden.
Als einer der aktiven Mitbegründer und langjähriges Vorstandsmitglied des Leipziger Anwaltvereines hat Martin Drucker sen. seinem Sohn auch das Engagement für den Anwaltsstand beispielhaft vorgelebt. Der Vater war, wie später der Sohn, auch als langjähriger Rechtsberater des französischen Generalkonsulats in Leipzig tätig. Ihm wurde für sein außerordentliches persönliches Engagement für Frankreich, vor allem in Rechtsstreitigkeiten, welche im Gefolge der Besetzung von Elsass-Lothringen nach 1871 mit dem Deutschen Reich entstanden, im Jahr 1905 das Ritterkreuz der französischen Ehrenlegion verliehen. Diese hohe Ehrung blieb wie durch ein Wunder im Familienbesitz erhalten. Im Jahr 1912 wurde Martin Drucker sen. mit dem hohen Titel eines Oberjustizrates geehrt.
Ein Jahr zuvor wurde er im Zusammenhang mit seinem 50jährigen Anwaltsjubiläum seitens des Landgerichtspräsidenten „als scharfsinniger gut unterrichteter Anwalt der besten Stufe“ beschrieben. Eine etwaige Auszeichnung aus Anlass des Jubiläums wurde warm befürwortet.
Martin Drucker sen. starb am 15. November 1913 79jährig in Leipzig. Seine letzte Ruhestätte fand er, wie auch seine am 29. Oktober 1921 gestorbene geliebte Frau auf dem Leipziger Südfriedhof. Das Grab, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft sich auch die Ruhestätte der Familie Frederking befand, wurde leider zu einem nicht bekannten Zeitpunkt eingeebnet.
Die Kindheit
Martin Drucker jun. beschrieb in seinen 1945 niedergeschriebenen Aufzeichnungen seine Kindheit als frei von jeglichen antisemitischen Erlebnissen. Eine Erfahrung fanatischer religiöser Intoleranz ganz anderer Art ist dem Kind jedoch lebenslang in sehr unangenehmer Erinnerung geblieben.
Dem Drängen des bereits erwähnten Onkels seiner Frau Arthur Dölitzsch folgend, hatte Martin Drucker sen. eine Position in einer von diesem mitbegründeten Privateisenbahngesellschaft übernommen. Diese Tätigkeit erforderte den Umzug nach Düsseldorf. Die Ehefrau und die Kinder folgten Anfang des Jahres 1874 in die angemietete Wohnung in der Düsseldorfer Kaiserallee. Düsseldorf war damals eine streng katholische Stadt, was den protestantischen Druckers erhebliche Schwierigkeiten bescherte. So wurde den Dienstmädchen strengstens verboten, bei den „Ketzern“ an den zahlreichen katholischen Feiertagen zu arbeiten. Schließlich versuchten einige besonders fanatisierte Katholiken nach einer Prozession in das Haus einzudringen und die Familie zu bedrohen. Die verängstigten Kinder, die Zeugen des Krawalls wurden, verstanden damals den Grund der sehr bedrohlichen Situation nicht.
Sowohl die Mutter als auch die beiden Kinder Johanna und Martin waren deshalb sehr glücklich, als der Düsseldorf-Aufenthalt nach einem Jahr ein plötzliches Ende fand. Die Gründe hierfür lagen jedoch darin, dass sich die Eisenbahn-Aktiengesellschaft, für die Drucker sen. in Düsseldorf tätig geworden war, nicht so entwickelte, wie es den Auffassungen des sehr gewissenhaften und korrekten Juristen entsprach.
Druckers kehrten also schon 1875 nach Leipzig zurück, wo sie eine Wohnung in der Dörrienstraße 13, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Tante Therese, bezogen. Die Familie Frederking in der Inselstraße war deshalb in dieser Zeit beliebtes Ausflugsziel der beiden Kinder, da diese ohne Begleitung besucht werden konnten.
Besonders berührend beschrieb Martin Drucker als 75jähriger den Einfluss, den seine Mutter auf seine Erziehung ausübte. Er hatte als Kind eine Schwäche, die seine Eltern häufig verzweifeln ließ und insbesondere die Mutter sehr traurig stimmte. Er neigte zum Jähzorn. Derartige Ausbrüche des Kindes endeten regelmäßig im sogenannten Schrankzimmer der elterlichen Wohnung. Als Martin eines Tages sehr reuevoll aus diesem Zimmer zur Mutter zurückkehrte, um deren Verzeihung zu erlangen, fand er sie ganz unglücklich vor. Den kleinen Martin schmerzte es sehr, dass er seinen so liebevollen Eltern immer wieder solchen Kummer bereitete. An diesem Tag bat ihn seine Mutter um ein Versprechen, welches Martin ihr auch gab. Die beiden trafen eine heimliche Abmachung, die letztendlich den Jähzorn des Kindes besiegte. Immer wenn Martin wieder einmal jähzornig zu werden drohte, sagte die Mutter nur: „Martin, Martin, denk an dein Versprechen!“ Obwohl es ihm anfangs sehr schwer fiel, tat diese Ermahnung ihre Wirkung – der Heranwachsende glaubte diese Worte auch zu hören, wenn seine Mutter nicht anwesend war. Die kluge Marie Drucker hatte so instinktiv, geleitet durch ihre mütterliche Liebe, den Grundstein für die spätere Karriere ihres Sohnes als einer der namhaftesten deutschen Anwälte gelegt, denn sie lehrte ihn Selbstbeherrschung.
Die Mutter war es auch, die ihre beiden großen Kinder, Johanna und Martin, früh über die jüdische Herkunft ihres Vaters aufklärte und bei dieser Gelegenheit die Toleranz ins Herz des späteren Anwaltes pflanzte, die sein gesamtes Leben bestimmte.
Neben dem bereits erwähnten jüdischen Großvater Siegmund Drucker, der in der Nonnenmühlgasse wohnte, hatte die Großmutter Constanze Klein prägenden Einfluss auf den Knaben Martin. Martin Drucker beschreibt seine Großmutter, die nach dem Tod ihres Mannes abwechselnd in den Haushalten ihrer drei verheirateten Töchter lebte, noch Jahrzehnte später sehr lebendig, denn die längste Zeit verbrachte sie bei ihrer Tochter Marie in Leipzig. Hier hatte sie nicht nur eine Vielzahl von alten Freundinnen „von etwas wunderlicher Grandezza“, sondern auch sechs Enkelkinder, denen sie eine liebe- und verständnisvolle Oma war. Ganz besonderen Eifer entwickelte sie im Stricken von Strümpfen, damit ihre zahlreichen Enkelkinder niemals irgendwelches gekauftes neumodisches Zeug an den Füßen tragen mussten. Martin und seine Geschwister trugen tapfer diese Liebesbeweise ihrer Großmutter.
Martin Drucker schreibt in seinen Erinnerungen: „Aber mehr als unsere Kinderbeine haben unsere Kinderseelen von ihr empfangen.“ Constanze besaß die besondere Gabe, den Kindern selbsterfundene Geschichten zu erzählen, die spannend, heiter oder auch sehr ernst sein konnten. Aber stets waren diese manchmal stundenlangen Geschichten aus dem Leben geschöpft und ohne den Kindern oft lästigen moralischen Zeigefinger.
Kurz bevor die große Familie mit vier Kindern in eine größere Wohnung im dritten Obergeschoß in der damaligen Zeitzer Straße 24 d (heute Karl-Liebknecht-Straße 49), umzog, wurde der bereits über 6 Jahre alte Martin zu Ostern 1876 eingeschult. Er besuchte zunächst die Erste Höhere Bürgerschule, die an der Kreuzung Schiller- und Universitätsstraße lag, dort wo sich heute der Studentenclub „Moritzbastei“ befindet. In seinen Erinnerungen beklagt Martin Drucker die späte Einschulung, aber er beschreibt rückblickend insbesondere den außerordentlichen positiven Einfluss, den seine Lehrer auf die Schüler hatten. Besonders lobend erwähnt er den in der unmittelbaren Nachbarschaft zu Druckers in der Braustraße wohnenden Schuldirektor Carl Traugott Reimer (1836-1915), der sich auch als Schulschriftsteller einen Namen gemacht hatte.
Ostern 1880 trat der junge Drucker dann in die Sexta der Thomasschule ein, die gerade erst vom Thomaskirchhof in den Neubau in der Schreberstraße umgezogen war. Als Schüler dieser namhaften Pflegestätte der humanistischen Bildung erhielt der begabte junge Martin Drucker neun Jahre lang, wie schon sein Vater, die Prägung, die sein gesamtes späteres Leben bestimmte. Die Lehrer dieser altehrwürdigen Schule verstanden es, den hochbegabten Schüler zu fördern und legten die entscheidende Grundlage sowohl für seine spätere berufliche Laufbahn, als auch seine konsequent humanistisch-liberale Lebenshaltung.
Der damalige Rektor der Thomasschule war August Eckstein, welchen Drucker in seinen Erinnerungen als einen der berühmtesten Lateiner seiner Zeit bezeichnet. Selbstverständlich war der Lateinunterricht von Anbeginn Schwerpunkt der Ausbildung, aber auch Griechisch, Französisch, Deutsch und Geschichte wurden auf hohem Niveau gelehrt. Die Schüler konnten das umfangreiche und anspruchsvolle Programm oft nur in mehr als sechsstündiger Hausarbeit nach siebenstündigem Schulunterricht bewältigen.
Noch auf dem Gymnasium zog Martin besondere Anerkennung aus den oben erwähnten Geschichten seiner Großmutter Constanze. Als im Deutschunterricht eine Erzählung niedergeschrieben werden sollte, welche die Schüler gehört oder gelesen hatten, entschied er sich für eine dieser Geschichten. Der Lehrer lobte den Aufsatz sehr und erkundigte sich natürlich nach der Quelle. Gerne nutzte Martin diese Gelegenheit, um seinem Deutschlehrer über Constanze Klein zu berichten, deren späterer Tod zu Pfingsten 1887 für alle sechs Drucker-Kinder ein schmerzlicher Verlust war.
Aber auch seinen Vater beschrieb Drucker in diesem Zusammenhang dankbar als „ein alle Zeit bereiter und sicherer Führer durch die Weltliteratur“ für seine ganze Familie, der geradezu unmerklich sein Verständnis und seinen Geschmack geschult habe. Die Vorliebe, seinen Kindern aus der bereits damals sehr umfangreichen privaten Bibliothek vorzulesen, sensibilisierte die Geschwister für die Feinheiten der deutschen Sprache, aber auch für rechten Humor und wörtlichen Witz. Der Vater vererbte auf diesem Wege ganz besonders an seinen ältesten Sohn Martin das heute leider nur noch sehr selten anzutreffende Talent, das Publikum spontan durch geistreiche Bonmots zu erheitern.
Eine überlieferte Episode aus der Schulzeit belegt, wie konsequent bereits der Schüler Martin Drucker zu seinen Überzeugungen stand. Als für den traditionell anonym abzugebenden Aufsatz der Oberprimaner an der Thomasschule das Thema „Die alten Griechen und der deutsche Patriotismus“ vergeben wurde, wollte er sich dieser Zumutung zunächst entziehen. Doch der Rektor fing ihn noch auf dem Schulhof ab, und Martin schilderte ihm sein Dilemma mit dem vorgegebenen Thema. Der Rektor ermunterte ihn, genau das aufzuschreiben, was er wirklich fühle. Erregt schrieb der junge Drucker daraufhin sofort in Reinschrift, dass sich für ihn der humanistische Geist der alten Griechen nicht mit dem spießigen deutschen Patriotismus in Verbindung bringen lasse. Es ist außerordentlich bemerkenswert und spricht für das hohe Niveau des Gymnasiums, dass Druckers Aufsatz mit dem 1. Preis ausgezeichnet wurde, obwohl er mit der suggestiv in der Themenformulierung gewünschten Aussage und der damals allgemein herrschenden öffentlichen Meinung bestimmt nicht in Einklang zu bringen war. Diesen begehrten ersten Preis hatte übrigens auch bereits sein Vater erhalten, und im Jahr 1923 konnte ihn auch sein ältester Sohn Heinrich an der ehrwürdigen Thomasschule entgegen nehmen.
Doch nicht Sprache und Literatur hatten den größten mentalen Einfluss auf die Kinder. Das war vielmehr die Musik. Martin Drucker sen. war Mitglied des sogenannten Beethoventisches, zu dem u. a. auch der damalige Direktor des Konservatoriums Karl Reinecke gehörte. Seine Frau Marie beeindruckte die Kinder immer wieder durch ihren Gesang und ihr Klavierspiel. Der Flügel im Hause Drucker, welcher von den Familienmitgliedern, aber auch von den zahlreichen musikliebenden Gästen häufig genutzt wurde, hatte Drucker sen. vom Musikverlag Breitkopf & Härtel gekauft. Es war der Flügel, auf dem bereits Felix Mendelssohn Bartholdy gespielt hatte.
Der Vater übertrug seine Liebe und seine Musikalität auch auf seinen Sohn Martin. In seinen Erinnerungen schildert er, mit welcher Ernsthaftigkeit der Vater sich in seiner knappen freien Zeit im Geigenspiel übte und wie glücklich er war, dass seine Kinder die Bereicherung durch die Musik wie er empfanden.
Der Student Martin Drucker
Der Vater ließ den heranwachsenden Sohn sehr früh Einblick in seine anwaltschaftliche Arbeit nehmen und besprach auch besonders interessante juristische Streitfragen mit ihm. Martin Drucker erlebte so sehr unmittelbar das praktizierte Berufsverständnis seines Vaters, welches ihm zeitlebens Vorbild blieb, dem er nachzueifern suchte. Deshalb war es für die Familie keine Überraschung, dass der junge Martin Rechtswissenschaft studieren wollte.
Martin Drucker begann sein Studium im Wintersemester des Jahres 1889 zunächst an der Universität in München. Aus dieser Zeit sind die abenteuerlichen Bergwanderungen mit seinen Freunden, Georg Langerhans (1870-1918) dem späteren Bürgermeister von Köpenick, der 1906 vom „Hauptmann von Köpenick“ verhaftet wurde; dem auf den Tag gleichaltrigen späteren Anwaltskollegen Karl Zöphel (1869-1969) und dem späteren Rechtsanwalt am Oberlandesgericht Dresden Walther Rudolph (1869-1938), dem Studenten Drucker besonders in Erinnerung geblieben. Ein solcher Wochenendausflug führte die vier Freunde sogar einmal bis zur Zugspitze.
Aber auch die Theaterbesuche in München, die für Studenten zu außerordentlich niedrigen Preisen möglich waren, und natürlich der unglaubliche Bierkonsum fanden in den Aufzeichnungen über die Münchner Studentenzeit Erwähnung.
In München wurde Martin Drucker erstmals mit studentischen Kreisen konfrontiert, die den Nährboden für den später im Holocaust endenden deutschen Antisemitismus legten. Damals waren an vielen Universitäten „Vereine Deutscher Studenten“ unter dem Einfluss des Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker entstanden, die sehr bald ihre extrem nationalistische, militaristische und eben insbesondere antisemitische Weltanschauung propagierten.
Drucker entwickelte naturgemäß eine tiefe Abneigung gegen diese Studentenverbindung. Er gelangte sehr bald zu der Überzeugung, dass eine Vereinigung geschaffen werden müsse, die Studenten mit liberal-humanistischen Grundauffassungen zusammenbringt, um den unheilvollen Einfluss des „Vereins Deutscher Studenten“ an den Universitäten zurückzudrängen. So gründete Drucker im Sommersemester 1890 an der Leipziger Universität, wohin er zwischenzeitlich von München gewechselt war, mit gleichgesinnten Studenten die „Freie Wissenschaftliche Vereinigung“, der sein Freund Georg Langerhans und der zwei Jahre jüngere Karl Liebknecht, angehörten. Mit Karl Liebknecht war Martin Drucker bereits seit seiner Kindheit und bis zu dessen Ermordung trotz differierender politischer Überzeugungen freundschaftlich verbunden. Die Liebknechts wohnten in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Druckers in der Braustraße und Karl besuchte wie Martin die Thomasschule.
Die Mitgliedschaft Liebknechts in der von Martin Drucker begründeten Studentenvereinigung, aber auch verschiedentliche Vorträge politisch missliebiger Redner, führten dazu, dass dem Studenten Drucker Maßregeln der Universitätsleitung angedroht wurden. Hiervon ließ dieser sich jedoch nicht abschrecken, zumal er den Lehrkörper der Juristischen Fakultät mit seinen liberalen Anschauungen in der Mehrheit auf seiner Seite wusste. Die damalige Zusammensetzung der Juristenfakultät war nach der Überzeugung Druckers ein Garant dafür, dass einer Beschränkung der Meinungs- und Redefreiheit von dieser Seite konsequent und energisch entgegengetreten würde.
Der Akademisch-Philosophische Verein an der Leipziger Universität
Martin Drucker besuchte gemeinsam mit Karl Liebknecht am 03.06.1890 erstmals den Akademisch-Philosophischen Verein (APhV), wozu ihn wahrscheinlich sein enger Freund Kurt Hezel veranlasst hatte, der zeitweise im APhV eine sehr aktive Rolle spielte. Bereits am 24.06.1890 wurde er als Mitglied aufgenommen und war später mehrfach im Vorstand des APhV vertreten. Auch Druckers Freund Langerhans war zeitweise aktives Mitglied des Vereins. Am 21.07.1891 sprach Drucker im APhV zu Hermann Lotze „Über Grundzüge der Ästhetik“ und am 17.11.1891 über Schopenhauers „Kritik der Kantischen Philosophie“. Am 21.01.1892 spricht Drucker erneut, diesmal über „Philosophie und Recht gegenüber dem Problem des ewigen Friedens“, der ihm Gelegenheit gab, öffentlich über seine pazifistische und kosmopolitische Lebenshaltung zu sprechen.
Für das Sommersemester war Drucker in der Sitzung vom 04.02.1892 zum Vorsitzenden gewählt worden. Dieses Amt legte er im Ergebnis einer heftigen Kontroverse zwischen Moritz Wirth und Paul Weisengrün am 16.06.1892 nach Verlesen einer schriftlichen Erklärung nieder.
Es war schon zuvor in den Sitzungen immer wieder zu Auseinandersetzungen, die einen antisemtischen Hindergrund hatten, gekommen. Treibende Kraft hierbei war Moritz Wirth, ein enger Freund des Professors für Astrophysik und aktiven Antisemiten Johann Karl Friedrich Zöllner. Wirth hatte sich im APhV als langjähriges aktives Mitglied unentbehrlich gemacht. Hierbei ging es auch immer wieder um die Frage, ob Juden überhaupt Mitglied des APhV werden sollen. Es gab jedoch mehrere jüdische Mitglieder. Um diesbezüglich Klarheit zu schaffen, beantragte Drucker in der Sitzung vom 14.07.1892 § 18 des Statuts wie folgt zu ändern:
„Ordentliches Mitglied kann jeder Studierende der Universität Leipzig ohne Unterschied der Nation und Religion werden.“
Dieser Antrag wurde einstimmig angenommen. In der gleichen Sitzung hatte ein Vereinsmitglied beantragt, den abwesenden Moritz Wirth aus dem APhV auszuschließen, da dieser durch öffentliche Demonstrationen für den Berliner „Rector“ Ahlwardt den Verein compromitiert und seine Interessen verletzt habe. Die Beschlussfassung hierüber wird vertagt und Wirth soll zu den Vorwürfen Stellung nehmen. Nach Erledigung dieser Beschlussfassungen hielt Drucker einen Vortrag über den Philosophen Friedrich Albert Lange.
Der Ausschließungsantrag gegen Wirth wird in der folgenden Sitzung abgelehnt. Darauf erklärt auch Moritz Weisengrün seinen Austritt aus der APhV. In der Folgezeit wird § 18 des Statutes in der von Drucker eingebrachten Fassung immer wieder revidiert. Schießlich werden die Worte „ohne Unterschied der Nation und Religion“ ersatzlos gestrichen, was aber keine Änderung der bisherigen Aufnahmepraxis bedeuten soll. Zu diesere Zeit ist Drucker nicht mehr bei den Sitzungen des APhV anwesend. Sein förmlicher Austritt ist in den Protokollbüchern des APhV nicht vermerkt.
Jeder der zu Druckers Studienzeit an der Leipziger Juristenfakultät wirkenden Ordinarien gehörte nach der herrschenden Überzeugung zu den Koryphäen seines Rechtsgebietes. Eine solche hochrangige Besetzung haben die Annalen der Juristenfakultät weder in den Jahrhunderten davor, jedoch noch weniger in der späteren Zeit aufzuweisen. So war Karl Binding (1841-1920), der führende Straf- und Staatsrechtler, hier zwischen 1873 und 1913 tätig. Auch die namhaften Kirchenrechtler Emil Friedberg (1837-1910) und Rudolph Sohm (1841-1917) lehrten zur Studienzeit Martin Druckers an der Leipziger Universität. Der Pandektist Bernhard Windscheid (1817-1892) darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben.
Ebenso gehörte der bedeutendste Zivilprozeßler Adolf Wach (1843-1926), Schwiegersohn von Felix Mendelssohn Bartholdy, damals zu den Professoren der Leipziger Juristenfakultät.[8] Bei diesem Aufgebot von hochrangigen Gelehrten kann es nicht verwundern, dass der Student Drucker von seinem ursprünglichen Plan, einige Semester an einer süddeutschen oder der Berliner Universität zu studieren, Abstand nahm und sein Studium an der Leipziger Universität beendete. Die Vorlesungen in Nationalökonomie und Finanzwissenschaft, die Drucker bei Wilhelm Roscher, Lujo Brentano und August von Miaskowski besuchte, kamen ihm, im Verhältnis zu den Vorträgen der Juristen, erholsam wie „freie Kunst“ vor. Unter den jungen Lehrkräften an der Juristenfakultät befand sich bereits damals Richard Schmidt, der jedoch bald einem Ruf nach Freyburg folgte und erst 1913 als anerkannter Gelehrter wieder an die Universität seiner Vaterstadt zurückkehrte.
Martin Drucker erwähnt in seinen Erinnerungen in ausführlicher und dankbarer Weise einen weiteren jungen Lehrer, der zunächst unzweifelhaft noch im Schatten des Ruhmes von Adolph Wach stehen musste: Friedrich Stein (1859-1923),[9] der auch jüdischer Herkunft war.[10] Anlässlich eines der häufigen Kaffeebesuche des jungen Studenten Drucker im Hause Friedberg, die noch auf die gemeinsamen Tanzstunden mit der Tochter Asta zurückgingen, erwähnte der ebenfalls anwesende Stein, dass er noch immer keinen Famulus für seine Kollegien gefunden habe. Dem spontanen Vorschlag Friedbergs, dass Martin Drucker diese Aufgabe übernehmen solle, konnte sich dieser natürlich nicht entziehen. Damit war der Grundstein für ein langjähriges und fruchtbares Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Stein und Drucker gelegt.
Bereits die erste angekündigte Vorlesung Friedrich Steins zum Prozessrecht, war so gut besucht, dass sich der Famulus Drucker um einen größeren Hörsaal bemühen musste. Nach diesem hinreißenden Vortrag war Stein als der glänzendste Redner der Leipziger Universität anerkannt, wie Martin Drucker später schreibt. Steins Zivilprozeßpraktikum, in erlaubter Konkurrenz zu Wach, erwies sich als größter Erfolg. Zwischen dem Privatdozenten Stein und seinem Famulus Drucker entwickelte sich eine enge persönliche Beziehung. Stein, der zu dieser Zeit nicht weit von Druckers entfernt in der Grassistraße 17 wohnte, stellte dem Studenten seine bedeutende Bibliothek und sein gesamtes Fachwissen zur Verfügung. So war Drucker sehr bald seinen Kommilitonen auf dem Gebiet des Zivilprozesses weit überlegen.
Bedeutender war jedoch nach den Aufzeichnungen Martin Druckers die Tatsache, dass diese besonders intensive Ausbildung sich in seinem späteren Anwaltsberuf tagtäglich auszahlte. Als Referendar am Amtsgericht Marienberg brachte es Martin Drucker zu einer herzlichen und persönlichen Anerkennung des Justizministers Rudolf Schurig, da er ein Urteil in einer Sache abgefasst hatte, in welcher es um eine besonders schwierige Frage des Beweisrechts ging. Martin Drucker hatte diese Aufgabe mit der Hilfe einer Büchersendung seines gelehrten Meisters Stein aus Leipzig und unterstützt von dessen prinzipiellen Hinweisen so großartig gelöst, dass dieses Urteil, welches auch in der Berufungsinstanz Bestand hatte, später als Aufgabe für Prüfungszwecke Verwendung fand.
An der alma mater lipsiensis legte Martin Drucker am 14. Januar 1893 die erste Staatsprüfung ab. Seine Doktorarbeit zum Thema „Die Konstruktion der Auslobung im justitianischen Recht in der Bedeutung für das heutige gemeine Recht“ wurde von Emil Friedberg als Doktorvater betreut. Am 28. März 1896 wurde diese Arbeit mit dem Prädikat „magna cum laude“ verteidigt.
Am 4. Juni 1896 absolvierte Martin Drucker schließlich auch die große Staatsprüfung an der Juristenfakultät der Leipziger Universität mit Bravour. Bedauerlicherweise sind archivalische Quellen und weitergehende Informationen über die Studienzeit in Leipzig durch die Vernichtung des Archivs der Juristenfakultät mit der Zerstörung des Juridicums in der Leipziger Innenstadt im Dezember 1943 nicht mehr erhalten.
Insbesondere fehlt die Promotionsakte Martin Druckers. Nur das Original seiner Promotionsurkunde konnte mit anderen wichtigen Dokumenten noch aus den Flammen gerettet werden, bevor das Wohnhaus in der Schwägrichenstraße am 27. Februar 1945 durch einen Bombenangriff zerstört wurde.
Margarethe Drucker – Familienleben auf dem Land
Die Spielgefährten aus Kindheits- und Jugendtagen rekrutierten sich naturgemäß aus der unmittelbaren Nachbarschaft. In der Braustraße wohnten nicht nur die Liebknechts, sondern auch die Familie des Leipziger Richters Ernst Mannsfeld (1830-1892). Die Mannsfeld stammten aus Bockau im Erzgebirge. Seine Frau Ottilie geborene Hänel (1842-1918) war eine Nichte des Rechtshistorikers Gustav Friedrich Hänel. Die weit verzweigte Familie Hänel lässt sich zurückverfolgen bis zu dem 1520 in Komotau/Böhmen geborenen Joachim Hähnel. Sein gleichnamiger Sohn (1550-1609) verzog von dort nach Mittweida im Erzgebirge, wo er Erbrichter wurde.
Zwischen der Tochter Margarethe und Druckers jüngerer Schwester Betty entwickelte sich eine intensive Mädchenfreundschaft, die auch nicht endete, als die Mannsfelds nach dem frühen Tod des Vaters etwa 1890 in die Nähe von Dresden nach Kötschenbroda verzogen. Margarethe Mannsfeld war am 1. Juni 1873 in Leipzig geboren und also zwei Jahre älter als Betty. Vermutlich waren in die Freundschaft der beiden Mädchen auch die anderen Geschwister mehr oder weniger einbezogen. Da das Verhältnis zwischen Martin und Betty immer ganz besonders herzlich war, lernte er so sicher auch bereits zu dieser Zeit deren Freundin Margarethe kennen. Weil die persönlichen Erinnerungen Martin Druckers bei seiner Studienzeit abbrechen, gibt es hierzu von ihm selbst keine genaueren Überlieferungen.
Tatsache ist, dass am 20. September 1896 die Schwester Betty Carl Mannsfeld, den Bruder ihrer Freundin Margarethe, heiratete. Zwei Jahre später am 22. November 1898 heiratete Martin Drucker in Kötschenbroda Margarethe Mannsfeld, die Freundin seiner Schwester Betty. So kam es zu einer „doppelten Verschwägerung“ der Familien Drucker und Mannsfeld, über deren Folgen noch zu berichten sein wird.
Mit dieser Heirat wurde eine über 40jährige Partnerschaft begründet, die zu Recht als harmonisch und glücklich bezeichnet werden kann, obwohl – oder gerade weil – der Charakter und die Mentalität der Eheleute unterschiedlich war. Margarethe war eine sensible Romantikerin, die versuchte, unter den Bedingungen der damaligen Zeit auch als Hausfrau und Mutter ihren eigenständigen Weg zu gehen. Die Möglichkeiten für die kreative und phantasievolle Frau waren allerdings beschränkt.
Für die Haushaltsführung war sie natürlich wie alle Mädchen ihres Standes ausgebildet. Sie erfüllte diese Aufgabe von Anbeginn an mit Gewissenhaftigkeit, wie ihre erhalten gebliebenen Haushaltsbücher aus den Jahren um die Jahrhundertwende eindrucksvoll belegen. Die tagtägliche Abrechnung sämtlicher Ausgaben entsprach wohl nicht dem Wesen der jungen Frau, die zeichnerisches Talent besaß und mit ihrem Mann die Liebe zur Musik und zur Literatur teilte. Die älteste 1903 geborene Tochter Martina beschrieb sie in ihrer Erinnerung als sehr strenge Mutter, die energisch die Erledigung der Hausaufgaben überwachte.
Ihr Rollenverständnis als Mutter muss sich in den Jahren sehr gewandelt haben, denn die 1917als viertes Kind geborene jüngste Tochter Renate kann sich nicht erinnern, von ihrer Mutter jemals für schlechte oder gute Noten bestraft oder besonders belobigt worden zu sein. Nach dem Vorbild der drei älteren Geschwister gehörte es einfach zur Selbstverständlichkeit, zumindest Zweitbeste der Klasse zu sein. Nur ein einziges Mal trat Margarethe ihrer Tochter Renate zur Seite, als diese an der Aufgabe, ein Schaf zu zeichnen, verzweifelte. Die Mutter zeichnete kurzerhand ein wunderschönes Schaf und versah diese Zeichnung mit der Anmerkung ihrer Urheberschaft und dem Hinweis, dass sie damit der unsäglichen Qual ihrer Tochter ein Ende machen wollte. Margarethe Drucker konnte ihre persönliche Erfüllung auf Dauer nicht nur als sorgende Hausfrau und Mutter finden und versuchte deshalb, sich eigene kreative Freiräume zu schaffen.
Nach der Erinnerung der Tochter Renate hatte der Romanist Wilhelm Friedmann, der Anfang der 20er Jahre, nachdem die Großmutter Ottilie Mannsfeld gestorben war, bei Druckers in der Schwägrichenstraße 5 zur Untermiete wohnte, großen Einfluss auf ihre Mutter. Der mit den größten deutschsprachigen Literaten dieser Zeit, insbesondere mit Stefan Zweig, befreundete Friedmann, brachte mit seinem typischen Wiener Charme und seinem einnehmenden Wesen die ganze Familie Drucker auf seine Seite.
Im Kreis der zahllosen, ständig im Hause ein und aus gehenden wechselnden Freunde ihrer heranwachsenden vier Kinder fand Margarethe Drucker ihre wahre Erfüllung. Sie besaß eine nur schwer zu beschreibende Ausstrahlung, der man sich nicht entziehen konnte. So lange sie im Raum war, war sie stets der Mittelpunkt der Gesellschaft. Sie vermochte die jugendlichen Freundinnen und Freunde ihrer Kinder gleichermaßen mit ihrem offenen und natürlichen Charme, ihrem außergewöhnlichen Intellekt und ihrer manchmal überbordenden Phantasie zu faszinieren. Wenn sich Martin Drucker bei diesen Zusammenkünften auch nur selten sehen ließ, wurde bei diesen Gelegenheiten offenbar, welche außergewöhnliche Ausstrahlung auch er auf die zahlreichen gleichgesinnten Freunde seiner Kinder hatte. Nur wenige Worte oder Gesten genügten oft, um den Freunden zu zeigen, welches väterliche Interesse der berühmte Anwalt an ihrer Entwicklung hatte.
Aus erhalten gebliebenen Briefen aus der Zeit nach 1945 geht hervor, dass einige dieser Verbindungen auch nicht abrissen, als die beiden Söhne dem barbarischen Krieg zum Opfer gefallen waren. Begierig suchten diese Freunde den Rat ihres großen Vorbildes. Es wurde für sie offenkundig sehr bedeutungsvoll, dass ihr Verhalten und ihre berufliche Entwicklung, gerade auch während der Zeit des Nationalsozialismus, die Zustimmung Martin Druckers fanden.
Förmliche gesellschaftliche Zusammenkünfte waren bei Margarethe Drucker außerordentlich unbeliebt, und sie versuchte immer wieder, sich solchen lästigen Verpflichtungen zu entziehen. Aber in diesem Punkt hatte sie – wenn auch weniger extrem – wieder eine Gemeinsamkeit mit ihrem Mann, der solche Dinge ebenfalls nicht besonders mochte.
Da Margarethe Drucker nicht nur die Leidenschaft zu reiten mit ihrem Mann teilte, sondern auch Hunde liebte, spielten diese Tiere über viele Jahre im Familienleben eine dominierende Rolle. Zur Zeit als Friedmann in der Schwägrichenstraße wohnte, kamen zwei reinrassige schwarzhaarige Glatthaardackel namens Tristan und Waldi ins Haus. Tristan starb sehr früh, aber die Dackeldame Waldi trauerte und lachte über viele Jahre mit der ganzen Familie. Nachdem der Schmerz über den Tod Waldis verwunden war, wurde im Frühsommer 1932 eine etwa ein Jahr alte Tigerdogge angeschafft, die den stolzen Namen Nestor vom Eichberg führte. Dieser Hund wuchs natürlich enorm und musste tagtäglich mindestens sieben Stunden bewegt werden. Das führte dazu, dass die gesamte Familie, einschließlich des Herrn Justizrat, in die Betreuung dieses Familienmitgliedes eingebunden wurde. Nestor musste nach Kriegsbeginn Ende 1939 eingeschläfert werden, um ihm ein langes, qualvolles Ende zu ersparen.
Margarethe Drucker liebte die Natur. Lange Spaziergänge durch die Wälder, auch bei scheußlichem Wetter, bereiteten ihr großes Vergnügen. Ihr geradezu schlafwandlerisches Orientierungsvermögen wurde bei diesen Gelegenheiten von ihrem Mann, der sich kaum irgendwo zurechtfand, sehr bewundert. So war es verständlich, dass die Familie regelmäßig Urlaubsziele wählte, die Berge und Wasser vereinten.
Als sich 1913 die Gelegenheit bot, in Niedergräfenhain ein leer stehendes ehemaliges Pfarrhaus als Wochenenddomizil zu nutzen, war sie es, die dafür sorgte, dass dieses Haus auf dem Lande gerade während des Ersten Weltkrieges zum Ruhepol für die gesamte Familie wurde. Die Tochter Renate Drucker erinnert sich noch heute gern an die als Kind dort verbrachten glücklichen Tage, die viel mehr Gelegenheit für ausgelassenes Spielen boten als die Leipziger Schwägrichenstraße. 1923 benötigte die Gemeinde das für ein Wochenenddomizil doch recht große Haus, um Arbeiter unterzubringen, weshalb der Pachtvertrag beendet werden musste. Der von Margarethe Drucker liebevoll gepflegte große Obstgarten verfiel sehr bald, und auch jetzt noch steht das Haus verfallen unmittelbar neben dem Dorffriedhof.
Die für Martin Drucker so wichtige Möglichkeit, in der kurzen freien Zeit mit der Familie aufs Land zu flüchten, ergab sich dann erst wieder Ende 1932. Als Wilhelm Ostwald im April 1932 starb, standen in Großbothen die von ihm in idyllischer waldreicher Lage für seine Kinder errichteten Häuser teilweise leer. Andererseits besaß die Witwe Ostwalds nicht die finanziellen Mittel, um die Häuser zu erhalten. Deshalb wurde von Martin Drucker nach dem Tod Ostwalds im April 1932 das Haus „Glück auf!“ durch Vermittlung des Bruders Prof. Carl Drucker, der Assistent bei Wilhelm Ostwald gewesen war, von dessen Erben angemietet. Dieses Haus auf dem Land mit seinen insgesamt 16 Schlafplätzen erwies sich in den folgenden finsteren Jahren für die Familie und den außerordentlich umfangreichen Freundeskreis der Kinder als besonderer Glücksfall.
Während Martin Drucker gemeinsam mit Fritz Grübel über Monate in höchster Anspannung in Berlin in dem Aufsehen erregenden Strafprozess gegen Nikodem Caro als Vertreter der Nebenkläger Ignaz Petschek und dessen Sohn Ernst (1887-1956) auftrat, widmete sich Margarethe Drucker mit viel Liebe für jedes Detail und unter strenger Beachtung der beschränkten zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel der Einrichtung des neuen Wochenenddomizils. Sie schuf für die Familie eine ländliche Idylle, einen Hort der Ruhe und Entspannung. Hier zogen die Druckers am Heiligen Abend 1932 ein.
Margarethe Drucker war ihrem Mann eine ebenbürtige Partnerin in einem Sinne, wie es damals noch nicht üblich war. Sie verfolgte die Arbeit ihrer Mannes mit großem Interesse, wie Briefe aus der Zeit des Caro-Petschek-Prozesses noch heute belegen. Sie litt unsäglich, vielleicht sogar mehr als Drucker selbst, an den Verfolgungen, Diffamierungen und Repressalien, denen der Leipziger Rechtsanwalt nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt war. Diese ständigen Angriffe auf ihren Mann und insbesondere die brutale Gewalt gegen die Leipziger Juden, die sie in der berüchtigten Pogromnacht im November 1938 entsetzt miterleben musste, haben ihr Leben entscheidend verkürzt. Margarethe Drucker, schon seit längerer Zeit herzkrank, starb erst 65jährig am 21. Januar 1939. Sie fand ihre letzte Ruhestätte, ihrem Wunsch gemäß mit einem einfachen Holzkreuz versehen, auf dem LeipzigerNeuen Johannisfriedhof.
Mit dem Tod seiner Frau ging für Martin Drucker ein weiterer, entscheidender Lebensabschnitt zu Ende. Margarethe fehlte ihm gerade in der nun folgenden dunklen Zeit, die noch so viel von ihm abverlangte. Aber auch die zahlreich auf dem Friedhof erschienenen Freunde und Freundinnen ihrer Kinder hatten Tränen in den Augen, als sie Abschied von dieser im wahrsten Sinne des Wortes besonderen Frau nehmen mussten.
Der Rechtsanwalt Martin Drucker (1898-1933)
Bereits am 17. Juni 1898 wurde Martin Drucker jun. als Rechtsanwalt vereidigt. Er konnte seine Tätigkeit in der weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Kanzlei seines Vaters, welche sich zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich noch in dem nicht mehr existenten Haus Neumarkt 29 befand, aufnehmen. Erst etwa um die Jahrhundertwende bezog die Anwaltskanzlei ihren Sitz in der Ritterstraße 1-3.
Die Tätigkeitsschwerpunkte des jungen Anwaltes waren natürlich durch das Profil der anwaltschaftlichen Arbeit des Vaters vorgeprägt. Hierzu gehörte zunächst insbesondere das damals noch relativ neue Internationale Markenrecht mit allen angrenzenden Rechtsgebieten. Oberjustizrat Drucker sen. hatte sich diesem Rechtsgebiet bereits kurz nach seiner Rückkehr aus Düsseldorf im Jahr 1875 intensiv zugewandt, denn im Jahr zuvor hatte Deutschland ein Markenschutzgesetz in Kraft gesetzt, welches erstmals nicht nur innerdeutsche, sondern auch ausländische Marken vor Missbrauch schützte. Jetzt konnten demzufolge auch Ausländer in Deutschland ihre Marken wirksam schützen. Voraussetzung hierfür war, dass sie ihre Marke beim Handelsgericht in Leipzig registrieren ließen und einen inländischen Bevollmächtigten zu ihrer Vertretung bestellten. Das Bedürfnis vieler ausländischer Anmelder, mit ihrem deutschen Bevollmächtigten in ihrer eigenen Landessprache zu korrespondieren, führte dazu, dass sich viele von ihnen an den außerordentlich sprachbegabten Martin Drucker sen. wandten und ihn um ihre Vertretung in diesen Sachen baten. Ausländische Ratsuchende fragten oftmals auch bei ihren Konsulaten in Leipzig an und wurden dann an Martin Drucker sen. verwiesen. So waren bereits Anfang 1875 zahlreiche Anfragen in der Drucker’schen Kanzlei eingegangen. Die überwiegende Mehrheit dieser Anträge kam von französischen Anmeldern. Das war offenkundig nicht nur darauf zurückzuführen, dass Oberjustizrat Drucker sen. die französische Sprache in Wort und Schrift perfekt beherrschte. Eine wesentliche Ursache lag vermutlich darin, dass der Leipziger Anwalt mit dem damaligen Leipziger Generalkonsul Frankreichs, dem namhaften Gelehrten Louis Tolhausen, wegen übereinstimmender literarischer Interessen in einem langjährigen freundschaftlichen Kontakt stand. Aber auch englische Firmen, z.B. aus der Sheffielder Stahlindustrie, und italienische Anmelder gehörten bald zur ständigen Klientel der Kanzlei Drucker. In seinen Erinnerungen schreibt Drucker jun., dass sein Vater mit mehreren hunderten von Anmeldern in deren Landessprache korrespondierte, ohne jemals einen Dolmetscher zur Hilfe nehmen zu müssen. Natürlich wurden diese Briefe damals noch per Hand gefertigt, was Drucker sen. mit seiner schönen und schwungvollen Handschrift unnachahmlich tat. Naturgemäß wagten sich nur wenige Anwälte zu dieser Zeit an die vollkommen neuartige Rechtsmaterie, denn auch die hierüber zur Verfügung stehende Literatur war anfänglich sehr beschränkt. Das gerade erst im Entstehen begriffene Markenrecht gehörte auch noch nicht zum Lese- und Lehrstoff an den Universitäten. So wurde Drucker sen. sehr schnell zu einem anerkannten Spezialisten des deutschen Markenrechts, denn zwangsläufig wurde er in später zum Schutz der angemeldeten Marken notwendig werdenden Prozessen ebenfalls mit der anwaltschaftlichen Vertretung beauftragt.
Martin Drucker jun. berichtet in seinen Erinnerungen von einigen damals sehr wichtigen Prozessen zum Schutz eingetragener ausländischer Marken und Patente. Besonders eindrucksvoll schildert er den langwierigen Kampf um die Abwehr einer Patentverletzung zu einem damals erfundenen Verfahren zur künstlichen Herstellung von Moschus, in welchem Drucker sen. ein Paradebeispiel für sein scharfsinniges und logisches Denkvermögen gab, auch dann, wenn es um die Beurteilung komplizierter naturwissenschaftliche Prozesse ging.
Die Privatbibliothek erinnerte Drucker jun. bis zu ihrer Vernichtung 1945 immer wieder daran, dass sein Vater einen damals viel beachteten Prozess wegen des Missbrauches des Nachdruckgesetzes in der Berufungsinstanz gewonnen hatte. Ein Dresdner Verleger hatte das Recht zur Herausgabe von sogenannten „Schulausgaben“ dazu missbraucht, um lediglich gekürzte Abdrucke damals viel gelesener französischer Romane zu veröffentlichen. Das Landgericht hatte die von Drucker sen. vertretene Klage mehrerer bedeutender Pariser Verleger gegen diesen Missbrauch abgewiesen. Dieses Urteil wurde durch das Oberlandesgericht aufgehoben und die Originalausgaben, die zu den Akten gereicht worden waren, gelangten dann als Geschenk der Mandanten in die Drucker’sche Privatbibliothek. Der junge Anwalt Martin Drucker war bereits aus seiner Referendarzeit mit der damals schon sehr ansehnlichen Spezialbibliothek des Vaters bestens vertraut und stand diesem sehr bald an Fachkompetenz auf dem Gebiet des Markenrechts nicht nach.
So ist auch erklärlich, dass heute nicht mehr mit Bestimmtheit festgestellt werden kann, ob Drucker sen. oder jun. der Verfasser zweier rechtsvergleichender Aufsätze zum spanischen und zum portugiesischen Markenrecht im Jahr 1912/1913 war.[11] Keinesfalls beschränkte sich Martin Drucker jun. in seiner anwaltschaftlichen Tätigkeit jedoch auf dieses Rechtsgebiet. Martin Drucker war insbesondere als ein viel beschäftigter und erfolgreicher Strafverteidiger berühmt und anerkannt. Naturgemäß ist wegen der bereits damals üblichen Resonanz in der Presse diese Arbeit des Leipziger Anwalts heute noch am besten nachzuzeichnen. Es muss der Versuchung begegnet werden, eine Übergewichtung des strafrechtlichen Engagements Druckers vorzunehmen, denn er war im Unterschied zu anderen in dieser Zeit tätigen Kollegen, insbesondere des sicher namhaftesten Berliner Strafverteidigers Prof. Dr. Max Alsberg, keinesfalls so ausschließlich auf diese Rechtsmaterie fixiert. Aber trotzdem soll an dieser Stelle auf einige bedeutende von ihm vertretene Strafsachen eingegangen werden. Entscheidenden Einfluss auf den Ruf Martin Druckers als exzellenter Strafverteidiger hatte sicher die erfolgreiche Vertretung der Hauptangeklagten im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Leipziger Bank im Jahr 1902. Den Angeklagten war betrügerischer Bankrott vorgeworfen worden. Die damalige Resonanz in der Presse lässt sich wohl am ehesten mit den aktuellen Vorgängen um Dr. Jürgen Schneider vergleichen.
Die außerordentlich verwickelten Hintergründe des Bankencrashs waren aber hier offensichtlich so, dass der Zusammenbruch von Berliner Großbanken zielgerichtet provoziert worden war. Wie Dr. Fred Grubel, späterer enger Mitarbeiter von Justizrat Drucker und heute als Präsident der Ephraim Carlebach Stiftung in New York lebend, sehr zutreffend feststellte, kam dem Leipziger Anwalt in dieser Sache damals nicht nur die exzellente Beherrschung des Strafprozesses zugute, sondern insbesondere seine Fähigkeit zur „scharfsinnigen Analyse komplizierter Wirtschaftsvorgänge und bis dahin kaum erprobter Gesetzesvorschriften.“[12] Der damals 33jährige Rechtsanwalt erreichte durch sein Engagement einen Freispruch der Hauptangeklagten von dem Vorwurf des betrügerischen Bankrotts.
Kennzeichnend und besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Martin Drucker von dem ersten nennenswerten Honorar, welches er aus diesem Prozess verdiente, für seine Frau einen Bechstein-Flügel kaufte. Dieser stand dann viele Jahre im Zentrum des offenen musikalisch-literarischen Familienlebens in der Schwägrichenstraße. Er konnte sogar trotz Lebensgefahr und mit gemeinsamer Anstrengung von Freunden und Bekannten im Februar 1945 in letzter Minute aus den Flammen gerettet werden.
Im Jahr 1914 zog sich Martin Drucker den Unwillen der Regierung zu, weil er in der Presse nachwies, dass der an den Litfaßsäulen angeschlagene Einberufungsbefehl gesetzwidrig war.
Zu seinen heute noch bekannten Mandanten gehörte gegen Ende des Ersten Weltkrieges der gerade 17jährige Bruno Apitz, der spätere Autor des Buchenwald-Romans „Nackt unter Wölfen“. Apitz wurde vor dem Reichsgericht mit weiteren Angeklagten vorgeworfen, in Leipzig durch Flugblätter und Reden zum Massenstreik aufgerufen zu haben, um die Aufnahme von Friedensverhandlungen zu erzwingen. Aber auch Rosa Luxemburg verteidigte Martin Drucker etwa um 1917 auf persönliche Empfehlung ihrer langjährigen Freundin und Beraterin Mathilde Jacob in einem Prozess wegen Beleidigung eines Kriminalbeamten vor dem Reichsgericht.[13]
Ein heute nur noch wenig verständlicher „Gesellschaftsskandal“ beschäftigte die Kanzlei Drucker im Jahr 1932 besonders intensiv. Auch die Presse, insbesondere die Berliner Tageszeitungen, berichteten über den über mehrere Monate laufenden Prozess hauptsächlich aus zwei Gründen: Einerseits standen sich hier – leider jüdische, wie Fred Grubel in seinen Erinnerungen[14] schreibt – Personen des öffentlichen gegenüber, andererseits wurden deren Interessen durch zwei der namhaftesten und profiliertesten Anwälte dieser Zeit vertreten, nämlich Prof. Max Alsberg und Justizrat Martin Drucker.
Der Chemiker Nicodem Caro (1871-1935), der gemeinsam mit Adolf Frank das Verfahren zur Erzeugung von Kalkstickstoff aus Luft, das sogenannte Frank-Caro-Verfahren, entwickelt hatte, wurde in diesem Verfahren von dem unbestritten namhaftesten Strafverteidiger Alsberg, von Rudolf Dix, dem Nachfolger Martin Druckers im Amt des Präsidenten des DAV, und dem früheren preußischen Justizminister Heine vertreten.
Justizrat Drucker vertrat in diesem Verfahren den früheren Schwiegersohn Caros, Ernst Petschek. Dessen Vater Ignatz Petschek gehörte zu den größten tschechischen Braunkohlenhändlern und hatte auch wesentlichen Einfluss auf die mitteldeutsche Braunkohlenwirtschaft.
Zur Vorgeschichte des Verfahrens gehört, dass Caro nach der erfolgten Ehescheidung seiner Tochter von seinem früheren Schwiegersohn eine Mitgift von 300000 Mark zurückforderte. Nachdem Petschek behauptet hatte, dass er sich an eine solche Zahlung nicht erinnern könne, sagte Caro, dass er sogar eine Quittung hierüber besäße. Petschek hat dann versucht, diese ominöse Quittung im Wege einer einstweiligen Verfügung sicherstellen zu lassen. Als der Gerichtsvollzieher im Hause Caro erschien, behauptete dieser, die Quittung soeben in der Toilette weggespült zu haben. Die wegen der Behauptungen Caros in ihrer Ehre verletzten Petscheks erstatteten nun Strafanzeige wegen Urkundenfälschung.
Caros Kontakte zu höchsten Regierungsstellen führten jedoch offenbar dazu, dass die gebotene Klageerhebung seitens der Staatsanwaltschaft rechtswidrig verweigert wurde. Petschek erhob daraufhin beim Berliner Kammergericht Klage mit dem Ziel, die Staatsanwaltschaft anzuweisen, Anklage gegen Caro wegen Urkundenfälschung zu erheben. Die Angelegenheit erregte immer mehr öffentliches Aufsehen. Die auf höchstem Niveau geführten Auseinandersetzungen zwischen Alsberg und Drucker waren Berliner Tagesgespräch. Es standen sich zwei Juristen gegenüber, die in ihrer Wesensart unterschiedlicher kaum sein konnten, die jedoch ihre wechselseitige kollegiale Hochachtung wiederum verband.[15] Der jüdische Rechtsanwalt Max Alsberg liebte, ganz im Gegensatz zu Drucker, den großen dramatischen Auftritt. Er genoss es, bei diesem, wie auch bei anderen großen Strafprozessen, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Die unmittelbar nach der Machtergreifung gegen ihn einsetzenden unsäglichen Angriffe trafen ihn daher bis ins Innerste. Der berühmteste deutsche Strafverteidiger setzte am 11. September 1933 in der Schweiz seinem Leben ein Ende.
Gemeinsam mit Max Alsberg war Martin Drucker im März 1931 im Zusammenhang mit dem Familieneklat, der das berühmte Haus Ullstein damals erschütterte, erfolgreich tätig gewesen. Als Franz Ullstein zum Missfallen seiner Familie Rosi Gräfenberg heiratete, setzte eine üble Verleumdungskampagne ein. In deren Zentrum stand die mit gefälschtem Material untermauerte Behauptung, dass Rosi Ullstein für Frankreich spioniert habe. Zu dieser Zeit war kaum ein Vorwurf denkbar, der eine Person des öffentlichen Lebens in Deutschland härter treffen konnte. In den daraufhin einsetzenden wechselseitigen Klagen vertraten die Rechtsanwälte Drucker, Alsberg und Dix die Beklagten Franz Ullstein und den Schriftsteller Josef Bornstein in einer Privatbeleidigungsklage, die der frühere Chefredakteur der „Vossischen Zeitung“, Professor Georg Bernhard, gegen diese angestrengt hatte.
Auch über das Engagement des Leipziger Rechtsanwalts in der zeitgeschichtlich und politisch interessanten Sache des Staatsanwaltes Frieders liegt eine umfassende Darstellung vor.[16]
Die Vertretung des Präsidenten der Sächsischen Landesversicherungsanstalt Tempel durch Justizrat Drucker in einem Ende 1930 durchgeführten Disziplinarverfahren verdient schon insoweit eine gesonderte Erwähnung, weil bereits damals die nationalsozialistische Presse diese Verfahren nutzte, um den „jüdischen“ Anwalt in unflätigster Weise zu diffamieren.[17]
Alle bekannten antisemitischen Vorurteile wurden hier wiederholt: die krampfhafte Verdrehung der klaren gesetzlichen Bestimmungen durch den jüdischen Verteidiger und das angeblich horrende Honorar, welches der Justizrat für seine „Bemühungen“ erhalten soll. Besonders ausfällig wurde der mit „Mephisto“ (!) zeichnende Autor, wegen der Tatsache, dass Justizrat Drucker doppelt verschwägert sei mit dem sächsischen Justizminister Dr. Mannsfeld. Diese Verwandtschaftsverhältnisse haben auch später immer wieder den ganz besonderen Zorn der Nationalsozialisten erregt. Der in der Anwaltschaft hoch angesehene Leipziger Rechtsanwalt war es, wie dieses Beispiel besonders krass zeigt, bereits vor 1933 gewöhnt, antisemitischen Angriffen ausgesetzt zu sein.
Auch auf dem Gebiet des Strafprozesses beließ es Martin Drucker nicht bei der reinen Anwaltstätigkeit, sondern meldete sich wiederholt in der einschlägigen Fachpresse zu Wort. Als im Jahr 1909 die Universität und die Stadt Leipzig des 500. Jahrestages der Gründung der alma mater lipsiensis gedachte, legte die Juristische Gesellschaft Leipzig eine Festschrift[18] vor. Neben namhaften Juristen wie Adelbert Düringer und Johannes Mittelstaedt hat sich auch Martin Drucker mit dem Aufsatz „Die Verteidigung nach dem Entwurfe der Strafprozessordnung“ an dieser Publikation beteiligt. Im September 1908 war der Entwurf der neuen Strafprozessordnung amtlich bekannt gemacht worden. Es ist ein wahrer Genuss noch heute zu lesen, mit wieviel humorvoller Ironie sich Drucker hier mit der weitgehenden Rechtlosigkeit des neu eingeführten „Verdächtigen“ – ganz im Unterschied zum „Beschuldigten“! – auseinandersetzt. Leider ist der sachliche Hintergrund heute mit dem Ruf nach Strafrechtsvereinfachung, die wiederum im wesentlichen Verkürzung der Rechte des Angeklagten bedeutet, beklemmend aktuell.
Gegen eine Vorverurteilung des Beschuldigten und gegen die Beschneidung von prozessualen Rechten der Verteidigung wandte sich der Leipziger Rechtsanwalt vehement nicht nur in diesem Aufsatz, sondern auch später immer wieder in anderen Veröffentlichungen, insbesondere natürlich in der Juristischen Wochenschrift.[19] Die juristische Kompetenz Martin Druckers erschöpfte sich jedoch keinesfalls im Marken- und Strafrecht. Zentraler Schwerpunkt der Anwaltskanzlei, zu der seit März 1919 neben Dr. Kurt Eckstein auch der jüdische Rechtsanwalt Dr. Erich Cerf gehörte, waren vielmehr wirtschaftsrechtliche Fragen und Probleme in umfassendstem Sinne.
Justizrat Drucker wurde wegen seines anerkannten Sachverstandes bereits sehr früh in verschiedene Vorstände und Aufsichtsräte von Leipziger Unternehmen berufen. Hierzu gehörten auch ein führender Konzern der Kosmetikbranche, die Spedition Eitner, und natürlich mehrere Rauchwarenfirmen. Hier muss das Engagement Druckers für die Chaim Eitingon AG und deren Tochtergesellschaft, die Kurt Wachtel AG, besonders genannt werden. Aber auch für das renommierte Unternehmen Harmelin war der Leipziger Anwalt über viele Jahre beratend tätig.
Neben seinem herausragendem juristischen Scharfsinn verfügte Martin Drucker, wie sein Vater, über musische und ausgeprägte sprachliche Begabung. So brillierte er zur Überraschung seiner Zuhörer des Öfteren in spontaner freier Rede in lateinischer und griechischer Sprache.
Im Jahr 1919 wurde Justizrat Drucker schließlich auch das Notariat verliehen. Die notarielle Tätigkeit bedeutete natürlich auch damals bereits, insbesondere nach dem Tod des Vaters, eine bessere finanzielle Absicherung der Kanzlei Drucker, Eckstein, Cerf.
In einer geradezu euphorischen Lobpreisung hob der jüdische Kollege Hans Bachwitz (1882-1927) im Leipziger Tageblatt vom 01. Februar 1925 hervor, dass Justizrat Drucker als trefflicher Kenner des englischen und des französischen Rechts gelte. Er sei aber ebenso „ein heiterer Gesellschafter und liebenswürdiger Intellekt, dessen Witz stadtbekannt ist. Man könnte ihn für einen Schriftsteller von Rang halten, für einen ironischen Philosophen voll Güte und Menschenkenntnis.“
Der Deutsche Anwaltverein
Bereits für Martin Drucker sen. gehörte es zur Selbstverständlichkeit, sich über die eigenen beruflichen Interessen hinaus auch für die gemeinsamen Belange der Anwaltschaft zu engagieren. Als am 11. Juli 1879 im sogenannten Grünen Saal des Bonorandschen Etablissements im Rosental der Leipziger Anwaltverein (LAV) gegründet wurde, gehörte Martin Drucker sen. zu den anwesenden 36 Gründungsmitgliedern. Er besaß das Vertrauen vieler seiner Leipziger Kollegen und gehörte bereits dem ersten Vorstand des LAV als ordentliches Mitglied an. In diesem Amt wurde er bis 1891 immer wieder bestätigt. In der Zeit von 1906 bis 1909 gehörte dann der Sohn Martin Drucker jun. dem Vorstand des LAV an. 50 Jahre nach der Vereinsgründung wurde in der aus diesem Anlass erschienenen Festschrift[20] hervorgehoben, dass der Vorstand des LAV besonders stolz darauf ist, dass die beiden Druckers in so intensiver Weise an dessen Entwicklung beteiligt waren. Wörtlich heißt es dann: „Mit ganz besonderer Genugtuung erfüllt es den Leipziger Anwaltverein, … dass es unserem Verein vergönnt war, dem deutschen Anwaltstande in Justizrat Dr. Drucker den opferwilligen und erfahrenen Führer von durchdringendem Verstande und nie ermüdendem Sinn für die Ideale unseres Berufes zu präsentieren.“
Acht Jahre vor der Gründung des LAV hatte sich im Jahr 1871 im Haus der Koncordia in Bamberg der Deutsche Anwaltverein (DAV) gegründet, welcher bis 1932 seinen Sitz in Leipzig hatte. In dem Maße, in dem sich die materielle Lage vieler deutscher Anwälte verschlechterte, wurde der Ruf laut, dass der DAV sich stärker für die Interessen der Anwaltschaft einsetzen möge. Einen gewissen Höhepunkt erreichten diese Debatten auf dem Anwaltstag in Mannheim im Jahr 1907. Zu dieser Zeit sollte die Zuständigkeit der Amtsgerichte erweitert werden, was die Lage der Anwälte, welche in Preußen und Bayern nur am Amtsgericht zugelassen waren, entscheidend hätte verbessern können. Dabei ging es in der Gesetzgebungsphase auch um die Frage, ob die Kammern der Amtsgerichte künftig mit Einzelrichtern besetzt oder als Kollegialgerichte tätig werden sollten. Auf dem Anwaltstag in Mannheim hielt Rechtsanwalt Dr. Max Hachenburg (1860-1951) ein Grundsatzreferat über die Lage der deutschen Anwaltschaft. Als wenige Wochen später der Gesetzesentwurf der Regierung veröffentlicht wurde, musste die Anwaltschaft zur Kenntnis nehmen, dass dieser keinerlei Rücksicht auf die Beschlüsse des Anwaltstages nahm. Daraufhin wurde ein außerordentlicher Anwaltstag nach Leipzig einberufen. Hier sprach Max Hachenburg erneut und unterbreitete gemeinsam mit Rechtsanwalt Hinrichsen aus Güstrow eine entsprechende Resolution, die angenommen wurde. Auch diese Beschlüsse waren wiederum für die von der Reichsregierung dem Reichstag vorgelegte Novelle zur Gerichtsverfassung und zur Zivilprozessordnung ohne Auswirkungen. Die deutsche Anwaltschaft, gespalten in Amtsgerichts- und Landgerichtsanwälte, fühlte sich durch die Nichtbeachtung ihrer Meinung brüskiert.
Diese Tatsache und die immer weiter wachsende Not der deutschen Anwaltschaft führte zwangsläufig zu einer Veränderung des Selbstverständnisses des DAV, der aus seiner jahrzehntelangen vornehmen Zurückhaltung erwachte und die Sicherung der materiellen Basis seiner Mitglieder mehr in den Vordergrund stellen musste.
Die somit dringend notwendige straffere Organisation und Umprofilierung des DAV verlangte eine Umbesetzung seines Vorstandes, in welchem bislang hauptsächlich die Reichsgerichtsanwälte, als die Elite des Standes, vertreten waren, weil diese nach der damals herrschenden allgemeinen Auffassung als die vornehmsten Repräsentanten galten. Der DAV brauchte aber zur Lösung der dringlichsten Probleme der deutschen Anwaltschaft keine „vornehmen Repräsentanten“, die weit entfernt von den Problemen der Kollegen im Lande waren. Er benötigte vielmehr Vertreter, die die Sorgen und Nöte ihrer Kollegen kannten und teilten und demzufolge bereit waren, für deren Beachtung in der Öffentlichkeit mit aller Kraft zu kämpfen.
Zur Bewältigung dieser Probleme standen auf dem Anwaltstag 1909 in Rostock endgültig tiefgreifende Entscheidungen an. In dieser Umbruchsituation wurde Martin Drucker als ein aus der Sicht der deutschen Anwaltschaft geeigneter Vertreter erstmals in den Vorstand des DAV gewählt. Auch Hachenburg, Adolf Heilberg (1858-1936) und Conrad Haußmann wurden zu neuen Vorstandsmitgliedern bestimmt. Gleichzeitig wurde die Position eines Geschäftsführers des DAV neu geschaffen, in welche der Kollege Heinrich Dittenberger (1875-1952) gewählt wurde. Eine weitere maßgebliche Satzungsänderung wurde 1909 dadurch vorgenommen, dass die Vertreterversammlung neu eingeführt wurde. Dieser war seitens des Vorstandes der Haushaltsplan vorzulegen, sie entschied über die Mitgliedsbeiträge, und sie wählte auch den Vorstand. Diese Reform sicherte in den kommenden Kriegs- und Inflationsjahren das Überleben des Deutschen Anwaltvereins.
Mit diesem Anwaltstag in Rostock änderte sich für Justizrat Drucker sowohl sein Privat- als auch das Berufsleben in gravierender Weise. Er schied aus dem Vorstand des LAV aus und widmete sich von diesem Zeitpunkt an mit seiner ganzen Kraft den Interessen der deutschen Anwaltschaft. Drucker übernahm im Vorstand zunächst das Amt des Schriftführers. An der mit dem Anwaltstag in Rostock 1909 in Angriff genommenen Umprofilierung des DAV hatte Martin Drucker von Anfang an maßgeblichen Anteil.
Der DAV wurde seit dieser Zeit immer mehr zum wirklichen Interessenvertreter der deutschen Anwaltschaft. Das war durch die grundlegende Verlagerung der Schwerpunktaufgaben des DAV möglich, die in der Folge auch zu einem erheblichen Anstieg der Mitgliederzahlen führte. 1928 waren nur noch 15 % aller in Deutschland zugelassenen Rechtsanwälte nicht Mitglied im DAV.
Es kam jedoch in Rostock zunächst zu einem, wie sich zeigen sollte, nicht tragfähigen Kompromiss. Es wurden zwar fünf neue Vorstandsmitglieder gewählt, die übrigen sieben bisherigen Vorstandsmitglieder blieben jedoch. Prompt kam es auf der ersten nach Leipzig einberufenen Vorstandssitzung zu einem Eklat, denn einige der alten Vorstandsmitglieder weigerten sich, mit den neugewählten Kollegen zu tagen. In diese Situation schlug der kluge Kollege Heilberg vor, dass alle Vorstandsmitglieder ihre Ämter niederlegen, um durch eine Neuwahl Klarheit zu schaffen. Mit der Neuwahl trat Julius Haber (1844-1920)[21], ein am Leipziger Reichsgericht zugelassener Kollege, der die außerordentlich schwierige Lage beherrschte, an die Spitze des DAV.
Eine besondere Rolle hat hierbei die von dem unvergessenen Freund Druckers Julius Magnus (1867-1944) hervorragend betreute Juristische Wochenschrift, gespielt. Das Fachblatt des DAV begleitete und propagierte wirksam den Wandel der Standesorganisation durch entsprechende Umprofilierung ihrer Veröffentlichungen. Martin Drucker hat der Juristischen Wochenschrift als dem Sprachrohr des DAV seine ganz besondere Aufmerksamkeit gewidmet.
Als Julius Haber zwei Jahre vor seinem Tod 1918 das Amt alters- und krankheitsbedingt abgeben musste, sollte sein Nachfolger wiederum ein am Reichsgericht zugelassener Kollege sein. Alfred Kurlbaum (1868-1938) nahm diese Aufgabe in den schwierigen Nachkriegsjahren, die Revolution, Zusammenbruch und schließlich die Inflation brachten, auf sich.
1920 wurde Martin Drucker zum Stellvertreter des Vorsitzenden und schließlich 1924 zum ersten Vorsitzenden gewählt. Diese Position erhielt später die Bezeichnung Präsident. Im Jahr 1923 legte Martin Drucker im Auftrag des Deutschen Anwaltsvereins dem Reichsjustizminister einen Gesetzentwurf vor, welcher die Zulassung der Anwaltschaft zur Vertretung vor den Verwaltungsgerichten regeln sollte. Dieser Entwurf konnte damals jedoch nicht durchgesetzt werden. Zu dieser Zeit gehörte es keinesfalls zur Selbstverständlichkeit, dass der Anwalt als berufsmäßiger Parteivertreter überall und ausnahmslos tätig werden konnte. Der damalige Stellvertreter des Vorsitzenden des DAV hat für die Durchsetzung dieses Grundsatzes immer wieder gestritten und so Pionierarbeit für das heutige Verständnis anwaltschaftlicher Berufsausübung geleistet.
Mit der „Renaissance von 1909“ wuchsen jedoch auch die Aufgaben des Vorstandes. In der Vorzeit war der Gesamtvorstand nur sporadisch zusammengekommen. Jetzt musste zwangsläufig ein engerer Leipziger Vorstand gebildet werden, der fast wöchentlich tagte. Für eine Sitzung des Gesamtvorstandes mussten regelmäßig zwei volle Tage eingeplant werden. Der Vorstand musste aber nicht nur wegen der Häufung der Aufgaben, sondern vielmehr deswegen erheblich erweitert werden, weil er zahlreicher werdende, unterschiedlichste Interessengruppen innerhalb der Anwaltschaft zu vertreten zu hatte. Der Vorstand war immer wieder gezwungen, zwischen den sehr hart geführten Auseinandersetzungen zwischen Landgerichts- und Amtsgerichtsanwälten zu schlichten. Es war bei der zunehmend schwieriger werdenden Lage für den Vorstand kaum möglich, die hoch geschraubten Erwartungen der Vereinsmitglieder zu befriedigen, welchen die tagtägliche Arbeit der DAV-Führung weitestgehend verborgen blieb. In der Folge trafen manchmal harte und sehr ungerechte Vorwürfe die Leipziger Mitglieder des Vereinsvorstandes.
Durch Hachenburg[22] ist folgende Anekdote aus dieser Zeit überliefert:
„Dittenberger hat ein Töchterchen von sieben Jahren. Das fragte ihn, wohin er geht und was geschieht. Der Vater nannte dem Kinde die Namen der bekannten Leipziger Herren: ‚Erst spricht Dr. Drucker, dann Dr. Hahnemann, dann Dr. Brücklmaier, dann ich.‘ – ‚So,‘ unterbrach ihn die Kleine, ‚Ihr redet. Ich habe geglaubt, Ihr arbeitet.'“
Martin Drucker meldete sich in diesen Jahren als Vorstandsmitglied des DAV wiederholt und energisch zu Wort, weil er die freie Berufsausübung der Anwaltschaft bedroht sah. Schon auf dem Anwaltstag 1894 hatte sich die deutsche Rechtsanwaltschaft mit der Frage einer möglichen Zulassungsbeschränkung auseinandergesetzt, nachdem in Folge der Freigabe der Advokatur 1879 die Zahl der zugelassenen Rechtsanwälte sprunghaft gestiegen war. Der Anwaltstag schloss sich dem vorgelegten Gutachten an und sprach sich damit gegen jegliche Zulassungsbeschränkungen aus. Die Diskussion um die Einführung eines numerus clausus war jedoch keineswegs ad acta gelegt. Auch die Anwaltstage 1905 und 1907 befassten sich eingehend mit dieser Thematik und sprachen sich gegen einen numerus clausus aus. 1911 überstieg die Zahl der in Deutschland zugelassenen Rechtsanwälte erstmals die 10000er Grenze. Der Anwaltstag in diesem Jahr hatte sich demzufolge auch mit der Grundsatzfrage zu befassen: „Empfehlen sich gesetzgeberische Maßnahmen gegen eine Überfüllung des Anwaltsstandes?“ Dem energischen Auftreten des damaligen DAV-Präsidenten Julius Haber und des langjährigen Freundes von Martin Drucker, des namhaftesten Standesrechtlers Max Friedlaender war es zu verdanken, dass sich der Anwaltstag in Würzburg gegen die Einführung eines numerus clausus aussprach, weil alle derartigen Maßnahmen für „unnötig und im Interesse der Rechtspflege und des Standes für schädlich“ gehalten wurden. Nachdem Martin Drucker an die Spitze des DAV getreten war, sollte sich an der von seinen Vorgängern vertretenen Auffassung zum numerus clausus nichts ändern.
Als jedoch der namhafte Berliner Anwalt und spätere Nachfolger Druckers als DAV-Präsident Rudolf Dix auf dem Anwaltstag 1927 in einer mit viel Beifall bedachten Rede erstmals den Standpunkt vertrat, dass Freigabe und Freiheit der Advokatur keinesfalls in einem untrennbaren logischen Zusammenhang ständen, zeichnete sich ein Umschwung in der herrschenden Meinung der DAV-Mitglieder ab. In der 1928 anlässlich des 70. Geburtstages von Adolf Heilberg für diesen herausgegebenen Festschrift trafen die konträren Auffassungen von Dix und Drucker aufeinander. Während Dix seine auf dem Anwaltstag im Vorjahr bereits artikulierte Argumentation der Trennung von Freigabe und Freiheit der Advokatur wiederholte und ausbaute, sprach Martin Drucker in seinem Beitrag[23] die Hoffnung aus, dass die Beschlüsse des Anwaltstages von Würzburg Bestand haben werden:
„In noch schwererer Stunde hat die ausgleichende und einigende Seele des Gesamtkörpers sich bejaht, als vor anderthalb Jahrzehnten das Numerus-Fieber im Anwaltsstande um sich griff. Damals war in einigen Bezirken schon das bedenkliche Symptom der Bildung von Sondergruppen aufgetreten, die sich ausschließlich unter dem Feldgeschrei „Schließung des Standes“ zusammenfanden, als noch rechtzeitig die Leitung des Deutschen Anwaltvereins die kontradiktorische Verhandlung der Einzelmitglieder herbeiführte. Der Würzburger Anwaltstag entschied gegen den numerus clausus. Dieser Beschluss, gegen den die Anwaltschaft ein Wiederaufnahmeverfahren ohne Beibringung neuer Tatsachen und Beweismittel niemals zulassen wird, wäre nicht zustande gekommen, wenn die Anhänger der streitenden Ansichten sich in Tendenzvereinen gegeneinander organisiert hätten. Wettrüsten bedeutet dauernde Friedensbedrohung auch im Reiche des Geistes und des Glaubens.“
Bis zum Ende seiner Amtszeit hat sich der Präsident des DAV immer wieder vehement gegen jegliche Zulassungsbeschränkungen ausgesprochen, weil diese nach seiner Auffassung zwangsläufig mit der Einschränkung der Freiheit der Advokatur verbunden sein müssten.
Die Tätigkeit im Deutschen Anwaltverein hatte jedoch auch unmittelbare Rückwirkungen auf das Profil der Anwaltskanzlei Martin Druckers. Immer häufiger wurde er von Kollegen in Fragen des Standesrechts um Rat und Hilfe gebeten. Auch wenn er in dieser Materie nicht so stark schriftstellerisch hervortrat wie sein Freund und Kollege Max Friedlaender[24], hatte seine Meinung in Standesfragen für die deutsche Anwaltschaft besonderes Gewicht. So vertrat Martin Drucker im Oktober 1913 den bereits erwähnten Berliner Strafverteidiger Max Alsberg in einem Verfahren vor dem I. Senat des Ehrengerichtshofs.
Ein kollegialer Rat, den Drucker einem Kollegen bereits im Jahr 1930 zu einer Standesfrage erteilt hatte, sollte nach 1933 nationalsozialistischen Anwälten ein willkommener Vorwand sein, um den Leipziger Rechtsanwalt auszuschalten. Hierauf wird später noch ausführlich zurückzukommen sein.
Bereits zu Beginn der 20er Jahre entbrannte unter den Mitgliedern eine leidenschaftlich geführte Diskussion um die Verlegung des Sitzes des DAV von Leipzig nach Berlin. In der Inflationszeit überstürzte sich die Gesetzgebung, und viele Kollegen hofften, dass eine größere Nähe des DAV-Vorstandes auch einen größeren Einfluss der deutschen Anwaltschaft auf die Regierung und das Parlament bringen könnte.
Auf dem außerordentlichen Anwaltstag 1925 in Berlin kulminierte die Debatte auf sehr unangenehme Weise. Die natürlich zahlreich vertretenen Berliner Kollegen versuchten das Gremium für politische Diskussionen zu missbrauchen. Es bedurfte des energischen und geschickten Eingreifens seitens des Präsidenten Drucker, damit der Anwaltstag nicht zum völligen Fiasko geriet. Manche Teilnehmer, wie auch Hachenburg, änderten damals ihre Meinung und kamen zu dem Schluss, dass es schon seinen guten Grund und Sinn habe, dass Berlin nicht Sitz des DAV sei. Trotzdem endeten die Auseinandersetzungen um die Sitzverlegung auch nach diesem Anwaltstag nicht.
Aus dem erhalten gebliebenen, im Anhang erstmals veröffentlichten Briefwechsel des DAV-Präsidenten mit dem Berliner Kollegen Albert Pinner im Jahr 1928 ist zu entnehmen, mit welchen sachlichen Argumenten sich Drucker bereits damals im Interesse der gesamten deutschen Anwaltschaft gegen eine Sitzverlegung nach Berlin wandte.
Als Martin Drucker im Oktober 1929 seinen 60. Geburtstag beging, war das Anlass, ihm für seine Verdienste um den Deutschen Anwaltverein mit einem öffentlichen Glückwunschschreiben auf der Titelseite der Juristischen Wochenschrift zu danken. Die im Original auf Pergament geschriebene Ehrung wurde von allen Vorstandsmitgliedern unterzeichnet und dem Jubilar feierlich überreicht.
Als im April 1932 gegen die Überzeugung Druckers die Verlegung des Sitzes des DAV von Leipzig nach Berlin beschlossen wurde, hatte dieser seine Wiederwahl abgelehnt. In seiner Abwesenheit ist daraufhin eine Satzungsänderung beschlossen worden.
Trotz der wiederholten Kontroversen, insbesondere mit der Berliner Anwaltschaft, welche Drucker zu den „trübsten Erfahrungen seiner Amtszeit“ zählte, wurde er auf Grund seiner außerordentlichen bleibenden Verdienste um den Deutschen Anwaltverein und den gesamten Berufsstand mit großer Mehrheit zum Ehrenpräsidenten mit Sitz und Stimme im Vorstand des DAV ernannt. Daraufhin erhielt Martin Drucker unter dem Datum vom 13. Mai 1932 ein Schreiben der Sächsischen Rechtsanwaltskammer folgenden Inhalts:[25]
„Hochverehrter Herr Justizrat !
Der Sächsische Kammervorstand hat mit aufrichtigem Bedauern davon Kenntnis nehmen müssen, dass die Abgeordnetenversammlung des Deutschen Anwaltvereins beschlossen hat, den Sitz des Vereins von Leipzig nach Berlin zu verlegen und dass damit Ihre bisherige Tätigkeit als Vorsitzender des Vereins ihr Ende gefunden hat.
Er kann dieses Ereignis nicht vorüber gehen lassen, ohne Ihnen, hochverehrter Herr Kollege, seinen tiefempfundenen Dank für alles das auszusprechen, was Sie in jahrelanger, einzig dastehender Aufopferung für die Deutsche Anwaltschaft an dieser Stelle geleistet haben. Wenn auch die Aufgaben des Deutschen Anwaltvereins andere sind, als die den Kammervorständen gesetzlich obliegenden, so berühren sie sich doch aufs innigste in allen Bestrebungen, die der Förderung und Hebung des Standes und damit der gesamten Rechtspflege dienen sollten. Auf diesem Gebiet haben wir Sie stets mit Freude als unseren Mitkämpfer begrüßt und dankbar anerkannt, dass Sie es immer verstanden haben, diesen Bestrebungen in einer Weise zur Geltung zu verhelfen, die frei von Standeseigennutz und Selbstsucht immer die idealen Aufgaben des Anwaltsberufes und seine Würde in den Vordergrund stellte.
Es bleibt der Stolz der Sächsischen Anwaltschaft, dass unter Ihrer Leitung der Deutsche Anwaltverein sich zu einer achtungsgebietenden Höhe entwickelt hat; nicht zum wenigsten Ihr Verdienst ist es, dass er aus einer bloßen Zusammenfassung der Berufsgenossen zu einem lebendigen Körper geworden ist.
Wenn die Abgeordnetenversammlung einstimmig beschlossen hat, Sie zum Ehrenpräsidenten zu ernennen, so hat sie dadurch mit Recht bekundet, wie sehr die Deutsche Anwaltschaft Ihre Verdienste um den Stand würdigt.
Wir beglückwünschen Sie zu dieser Ehrung und hoffen, dass Ihre wertvolle Arbeit für das Wohl des Standes auch weiterhin der Deutschen Anwaltschaft erhalten bleiben möge.“
Max Hachenburg gibt in seinen Memoiren[26] seine persönlichen Erinnerungen an den hochgeschätzten Freund und Kollegen aus der Zeit der Präsidentschaft Druckers im Deutschen Anwaltverein wie folgt wieder:
„Er besitzt nicht die abgeklärte Ruhe Habers, nicht die Konzilianz Kurlbaums, dafür aber eine rastlose Arbeitskraft, eine unbeugsame Energie und einen scharfblickenden, rasch zugreifenden Verstand. Ich habe niemanden getroffen, der mit solcher Schlagfertigkeit und, wenn nötig, mit einer guten Dosis Ironie eine Versammlung leitet …“
Der Nachfolger Druckers im Amt wurde der Berliner Rechtsanwalt Rudolf Dix, welcher bereits kurze Zeit später nach der Machtergreifung Hitlers die Aufgabe hatte, die Gleichschaltung des DAV zu vollziehen. Für die nächsten 13 Jahre war der Leipziger Rechtsanwalt Martin Drucker von jeglicher aktiver Anteilnahme an den Standesinteressen der deutschen Anwaltschaft ausgeschlossen.
Der Rechtsanwalt Martin Drucker (1933 – 1944)
Kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten verlor der jüdische Sozius, Rechtsanwalt Dr. Erich Cerf (1888-1964), das Notariat und seine Zulassung als Rechtsanwalt. Weil Martin Drucker ihn und den Referendar Dr. Fritz Grübel trotzdem weiter beschäftigte, wurde er in der „Leipziger Tageszeitung“, dem Sprachrohr der NSDAP, vom 19. August 1933 persönlich angegriffen.
Im Zusammenhang mit dem Boykottaufruf der Nationalsozialisten am 01. April 1933 wurde Martin Drucker im Landgericht Chemnitz während einer Verhandlung in „Schutzhaft“ genommen. Der in der „Frankfurter Zeitung“ vom 04. April 1933 erschiene Bericht über die Vorgänge gibt ein weiteres Mal einen Eindruck von der souveränen und beherrschten Haltung des Leipziger Rechtsanwalts selbst in dieser Ausnahmesituation.
Die in Berlin weilende jüngste Tochter Renate war, nachdem sie die Nachricht von der Verhaftung ihres Vaters im Radio gehört hatte, höchst beunruhigt und versuchte vergeblich, Familienmitglieder, Leipziger Freunde und das Anwaltsbüro telefonisch zu erreichen, um näheres zu erfahren. Margarethe Drucker befand sich zu diesem Zeitpunkt – wie immer am Wochenende – in Großbothen. Da sie telefonisch nicht erreichbar war, eilten Kollegen und Freunde, die von der Verhaftung Druckers hörten, auf schnellstem Wege dorthin, um ihr beizustehen und zu beraten, was zu tun sei. Als sie dort ankamen, trafen sie zu ihrer Überraschung auch den Justizrat an. Der sofort einsetzende internationale öffentliche Protest hatte die neuen Machthaber veranlasst, den Ehrenpräsidenten des Deutschen Anwaltvereins sehr schnell wieder auf freien Fuß zu setzen. Sogar die „New York Evening Post“ hatte am 03. April 1933 über den Vorgang auf der Titelseite berichtet. Es war sehr typisch für den rücksichtsvollen Martin Drucker, dass er seiner Frau von der Verhaftung in Chemnitz überhaupt nichts gesagt hatte und diese die unheilvolle Nachricht deshalb erst im Nachhinein von den beunruhigten Besuchern erfuhr. Seinen weltanschaulichen Überzeugungen entsprechend hat sich Martin Drucker, wie seine Frau Margarethe, über viele Jahre auch politisch engagiert. Er war von 1919 bis 1926 Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei, in welcher er vor seiner Wahl zum Präsidenten des DAV auch sehr aktiv tätig war. Im Jahr 1926 erklärte er seinen Austritt, weil sich die Parteiführung wiederholt bei Abstimmungen im Reichstag aus taktischen Motiven von den Grundsätzen des Parteiprogramms entfernt hatte.
Martin Druckers klares und realistisches Gespür für die politischen Verhältnisse wurde in jedem Fall in der Zeit seiner Zugehörigkeit zur DDP und durch seine Erfahrungen als DAV-Präsident entscheidend geschärft. Bereits im November 1932 war für ihn klar, dass die Machtübernahme durch die Nazis unmittelbar bevorstand. Hindenburg hatte Gördeler zu dieser Zeit angeboten, Reichskanzler zu werden. Dieser hatte jedoch das Verbot der NSDAP zu seiner Bedingung gemacht. Die Abendzeitungen meldeten dann, dass von Schleicher zum Reichskanzler bestimmt worden war.[27]
Auch wenn zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen konnte, was die nächsten zwölf Jahre bringen würden, hat der realistische Sinn Druckers für das, was nach der im Januar 1933 erfolgten Machtübernahme bevorstand, vielleicht manchen das Leben gerettet. Hierzu gehört auch, dass er seinen jüdischen Sozius Dr. Erich Cerf schon sehr früh in seinem Entschluss bestärkte, Deutschland mit seiner Familie zu verlassen. Die Auswanderung wurde vorbereitet und die Familie Cerf erhielt alle nur denkbare Unterstützung seitens der Kanzlei, um ihr die Basis für den Neuaufbau einer Existenz in Palästina zu ermöglichen. So ging auch das eigentlich unentbehrliche Kanzleiauto mit auf die weite Reise. Erich Cerf und sein hochgeachteter Seniorpartner Drucker blieben weiter in Briefverbindung. Doch der in deutscher Kulturtradition verhaftete frühere Sozius konnte in seiner neuen Heimat nie wieder richtig Fuß fassen. Erst nach dem Kriegsende war es ihm vergönnt, als engagierter Anwalt in Wiedergutmachungssachen wieder in seinem geliebten Beruf tätig werden zu können. Seine jüngste Tochter, die unvergessliche, lebenslustige Aleeza Cerf-Beare, hat 1994 eine Würdigung ihres Vaters publiziert.[28] Aber auch anderen langjährigen jüdischen Mandanten, die Drucker in dieser Zeit fragten, wie sie sich verhalten sollten, nahm er jede Illusion von einem baldigen Ende der Hitlerherrschaft und riet dringlichst zur Auswanderung.
So schreibt der 1905 geborene Jacob Sachs, dass Drucker über viele Jahre auch der Anwalt der namhaften Rauchwarenfirma J. B. Sachs & Co. war, die sein Vater zu Beginn des 20. Jahrhunderts am Brühl gegründet hatte. Als in der ersten Hälfte des Jahres 1935 die Nazis zu ihm kamen, um seine Bibliothek zu kontrollieren, nahmen sie einige Bücher von jüdischen Schriftstellern mit. Jacob Sachs wurde verhaftet. Weder seine Familie noch sein Büro wussten, wo er war. Nach fünfstündigem Verhör wurde er nachts um 1 Uhr wieder entlassen. Jacob Sachs wurde später telefonisch angekündigt, dass die Gestapomänner wiederkommen werden, da sie ihre Handschuhe in seiner Wohnung vergessen hätten. Er ging sehr nervös zu Rechtsanwalt Drucker und fragte ihn, was er tun solle. Dieser sagte: „Ich rate Ihnen, Deutschland sofort zu verlassen.“ Auf den Einwand, dass er erst in einigen Wochen vorbereitet sein werde auszuwandern, erwiderte der Justizrat sehr klar: „Sie müssen sofort gehen, denn alle Juden, die hier bleiben, werden von den Nazis getötet.“ Daraufhin ist Jacob Sachs mit dem Auto seines Schwagers, des stadtbekannten Arztes Dr. Abraham Adler, nach Prag geflohen. Im Februar 1939 musste Martin Drucker seinem früheren Mandanten Jacob Sachs nach London mitteilen, dass er „durch neuere Gesetzgebung“ verhindert sei, irgendwelche anwaltliche Tätigkeit für ihn auszuüben.
Der Entzug des Notariats
Unter dem Datum vom 01. November 1933 erhielt Martin Drucker ein Schreiben vom Sächsischen Ministerium der Justiz, wie es andere seiner Notariatskollegen in dieser Zeit auch erhalten haben, mit folgendem Inhalt:
„Der Herr Reichsstatthalter hat durch Verfügung vom 11. August 1933 den Rechtsanwalt Justizrat Dr. Martin Drucker in Leipzig auf Grund von § 3 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 (RGBl. I S. 175) in Verbindung mit Ziff. 2 zu § 1 des Gesetzes in der Dritten Durchführungsverordnung vom 6. Mai 1933 (RGBl. I S. 245) von dem Amte als Notar enthoben“
Die Amtsenthebung jüdischer Notare war erst der Beginn der Verfolgung. Sie traf diese – wie beabsichtigt – sehr empfindlich in ihrer Existenz.
Für Martin Drucker hatten aber die zitierten Regelungen nach der Nazipraxis keine Gültigkeit, da damals nur die sogenannten „Volljuden“ aus allen Beamtenstellungen entfernt werden sollten. In seinem Lebenslauf berichtet Drucker nach 1945, dass er erfuhr, dass man ein Bittgesuch von ihm erwartet habe, um die Rücknahme des Notariatsentzuges zu erreichen. Zu einer solchen Demütigung war er jedoch nicht ehrvergessen genug.[29]
Der Wegfall des Notariats und der Weggang des Sozius Erich Cerf zeigten natürlich sehr schnell gravierende Folgen, da sich die Auftrags- und Ertragslage erheblich verschlechterte. Eine damals in der Kanzlei Drucker Eckstein Cerf angestellte Stenotypistin, Frl. Irmgard Lehmann, erklärte sich, als die Reduzierung des Personals unausweichlich wurde, als die Jüngste bereit, freiwillig zu gehen, obwohl sie sich in der Kanzlei in der Ritterstraße sehr wohl gefühlt hatte und die Arbeit sehr interessant war.
Irmgard Lehmann war in der Zeit zwischen 1931 bis 1935, die ersten drei Jahre als Lehrling, bei Justizrat Drucker tätig gewesen. Sie lebt noch heute in Leipzig und berichtet, wie gerne sie für den väterlichen und fürsorglichen Chef gearbeitet habe. Martin Drucker gab seiner jungen Angestellten ein hervorragendes Zeugnis mit, welches ihr helfen sollte, sehr schnell eine neue Anstellung zu finden.
Das ehrengerichtliche Verfahren
Martin Drucker hat sich keine Illusionen gemacht, dass sein energisches Eintreten für eine freie Advokatur und seine immer wieder öffentlich vertretene humanistisch-liberale Lebenshaltung ihm auch ganz persönlich Feinde geschaffen hatte.
Diese fanden sich nach der Machtübernahme jedoch offenkundig weniger in den Kreisen der Berliner Anwaltschaft, wo man sie hätte vermuten können, sondern vielmehr unter seinen Leipziger ‚Kollegen‘. Einer von ihnen hat die Chance genutzt, die ihm die Machtergreifung Hitlers gab, um zu versuchen, Justizrat Dr. Martin Drucker als unliebsamen Konkurrenten auszuschalten. Bei Sichtung des über diesen Kollegen erhalten gebliebenen Archivmaterials[30] ergibt sich eine geradezu faustische Konstellation von Gut und Böse. Dieser Anwalt kann zu Recht als das ‚braune Gegenbild‘ des humanistischen und feinsinnigen Martin Drucker angesehen werden.
Der Standpunkt mag verständlich sein, dass einem bösartigen Nazianwalt vielleicht zuviel Ehre angetan wird, wenn er in einer Schrift, die der Würdigung des Lebenswerkes Martin Druckers gewidmet ist, zuviel Raum erhält. Doch bliebe wohl dann das ganze Ausmaß der permanenten Gefährdung unverständlich, welcher Martin Drucker ausgesetzt war. Da darüber hinaus dieser Nazianwalt perfider Weise in Lindenthal öffentlich als ‚Widerstandskämpfer‘ und ‚Opfer der Nazidiktatur‘ geehrt wird, muss dieser bereits Jahrzehnte währende, unhaltbare Zustand durch die Veröffentlichung seines „Wirkens“ beendet werden.
Die Rede ist von Dr. Johannes Fritzsche, der 1902 als Sohn eines Oberstudienrates bei Dresden geboren war. Am 01. 06.1930 wurde er Mitglied der NSDAP. Seine Mitgliedsnummer lautete 256759. Er war Obersturmführer der SA und mit der Nr. 95 eines der ersten Mitglieder des Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes. 1933 wurde er in die Akademie für Deutsches Recht berufen. Noch im Januar 1937 erhielt er ein persönliches Dankschreiben für die geleisteten Dienste in den Reihen der NSDAP. Seine Kanzlei im Dittrichring 6 nahm nach 1933 einen ungeheuren Aufschwung, so dass Fritzsche in den zwölf Jahren der Naziherrschaft in der Lage war, nicht nur ein Landgut in der Niederlausitz, sondern auch noch sieben weitere Grundstücke innerhalb Leipzigs zu erwerben. Nachdem durch die Entlassung zahlreicher jüdischer Notare entsprechende Vakanzen für parteitreue Juristen geschaffen worden waren, wurde auch Fritzsche im Oktober 1933 das sehr lukrative Notariat verliehen.
Bereits im Jahr 1931 hatte er sich durch einen antisemitisch motivierten Prozess gegen den jüdischen Leipziger Rechtsanwalt Dr. Alfred Jacoby hervorgetan. Die diesbezügliche Akte des Amtsgerichts Leipzig blieb erhalten, da die Nazis sie als historisch wertvoll und deshalb als aufbewahrungswert einstuften.[31]
Am 18. März 1933 forderte er mit einem weiteren Leipziger Nazianwalt den jüdischen Senatspräsidenten am Reichsgericht Dr. Alfons David (1866-1954) ultimativ auf, den Vorsitz des Ehrengerichtshofes niederzulegen,[32] nachdem der Bund nationalsozialistischer Juristen am Vortag seine sieben Punkte umfassenden diesbezüglichen Forderungen veröffentlicht hatte:
„1. Alle deutschen Gerichte, einschl. des Reichsgerichts, sind von Richtern und Beamten fremder Rasse zu säubern.“[33]
Dr. Fritzsche erstattete am 09. Juli 1934 folgende Anzeige: „Hiermit erstatte ich gegen den Rechtsanwalt Justizrat Dr. Martin Drucker in Leipzig Anzeige wegen Verfehlung nach § 28 ff. der Rechtsanwaltsordnung und beantrage, die Akten zur Einleitung des Ehrengerichtsverfahrens an die Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht abzugeben.“[34]
Mit dieser Anzeige setzte Dr. Fritzsche eine bereits gegenüber Druckers Sozius Eckstein klar ausgesprochene Drohung um. Diesem gegenüber hatte er erklärt, dass er „Drucker nach dem Konzentrationslager in Colditz schaffen lassen“ und „er werde Dr. Drucker außerdem bei der Anwaltskammer anzeigen, damit er aus der Anwaltschaft ausgeschlossen würde.“[35]
Nach den Erklärungen des Hamburger Rechtsanwalts Dr. Nicolaus Darboven (1877-1950), welcher den Mut hatte, die Vertretung Dr. Druckers in dem daraufhin eingeleiteten ehrengerichtlichen Verfahren zu übernehmen, hatte diese Anzeige ihre Motivation darin, dass sich Justizrat Drucker aus sachlichen Gründen geweigert hatte, zu einer Verhandlung vor dem Gauwirtschaftsleiter zu erscheinen. Darüber hinaus soll sich Dr. Drucker geweigert haben, sich in einem gerichtlichen Verhandlungstermin mit Nationalsozialisten an einen Tisch zu setzen.
Das Engagement Druckers in Strafverfahren vor 1933, deren Gegenstand leider nicht mehr feststellbar war, in denen Fritzsche selbst jedoch keinerlei Rolle spielte, hat ebenfalls den Zorn des Nazianwalts erregt.
Das daraufhin eingeleitete ehrengerichtliche Verfahren gegen Martin Drucker ist heute noch durch erhalten gebliebene bzw. wiederentdeckte Dokumente gut nachvollziehbar. Im Londoner Institute of Contemporary History and Wiener Library Limited wur de das Urteil des Ehrengerichts der Sächsischen Anwaltskammer vom 26. Januar 1935 und die Berufungsbegründung hiergegen von Dr. Darboven vom 13. Mai 1935 ermittelt.[36] Wie diese Dokumente in den Bestand der Wiener Library gelangt sind, konnte nicht endgültig geklärt werden. Es liegt jedoch nach den bisherigen Erkenntnissen die Vermutung nahe, dass Martin Drucker diese Dokumente an seinen früheren Sozius Erich Cerf nach Palästina übersandt hatte, welcher sie wegen ihrer historischen Brisanz dann im September 1955 an das Archiv abgab. Darüber hinaus offenbart ein ebenfalls in dem Londoner Institut dokumentiertes Interview mit Dr. Max Friedlaender aus dem Jahr 1954 Details dieses Verfahrens. Die Entscheidung des Ehrengerichtshofes über die Berufung Martin Druckers vom 1. Oktober 1935 befindet sich im Bundesarchiv, Abt. Potsdam.[37]
Zum Vorwand für dieses Verfahren musste ein kollegialer Rat herhalten, welchen Justizrat Drucker bereits im Jahr 1930 dem Kollegen Curt Holstein erteilt hatte. Der Kollege hat sich an Dr. Drucker gewandt, da dieser auch als langjähriger Rechtsberater des französischen Konsulates in Leipzig bekannt war und die Sache deutsch-französische Verhältnisse betraf. Hieraus konstruierte der Sächsische Ehrengerichtshof vier Jahre später den ungeheuerlichen Vorwurf des Landesverrats.
„Lasciate ogni speranza voi ch’entrate!“[38]
Mit diesem italienischen Zitat Dantes wandte sich Dr. Darboven an seinen Mandanten Drucker, als sie den Gerichtssaal zur Verhandlung in dem ehrengerichtlichen Verfahren betraten, denn er hatte gerade festgestellt, dass ausgerechnet der persönliche Erzfeind und Anzeigenerstatter Dr. Fritzsche zu den beisitzenden Richtern gehörte.[39] Zwangsläufig wurde die Verhandlung mit einem Befangenheitsantrag seitens Dr. Darbovens gegen Fritzsche eröffnet, welcher jedoch prompt abgelehnt wurde. Folgerichtig befasste sich auch die Berufungsschrift gegen das Urteil eingehend mit dieser Problematik. Ohne auf diese rechtlichen Erörterungen einzugehen, stellte der angerufene Ehrengerichtshof später lapidar fest, „dass das Ehrengericht das Ablehnungsgesuch, dass der Angeklagte gegen den Beisitzer Rechtsanwalt Dr. Fritzsche angebracht hatte, nicht nach denjenigen rechtlichen Gesichtspunkten beurteilt hat, die nach der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts wie des Ehrengerichtshofs dabei zu beachten sind.“ Und weiter heißt es: „Darauf braucht indes nicht näher eingegangen zu werden.“ [40]
Der Ehrenpräsident des Deutschen Anwaltvereins wurde durch das Sächsische Ehrengericht für schuldig befunden und mit Urteil vom 26. Januar 1935 aus der Anwaltschaft ausgeschlossen. Auf den unsäglichen Inhalt dieser Entscheidung muss an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, da sich das Urteil im Anhang vollständig abgedruckt findet und keiner Kommentierung bedarf. Wichtig ist jedoch, dass sich aus der Berufungsbegründung Dr. Darbovens ergibt, dass das Urteil von Fritzsche persönlich verfasst wurde, obwohl dieser nicht Berichterstatter war. Auch hierdurch wird der Verdacht bestätigt, dass dieser Nazianwalt einen ganz persönlichen Rachefeldzug gegen Justizrat Drucker führte. Zum Schluss des Urteiles soll Fritzsche nach den Erinnerungen Friedlaenders handschriftlich geschrieben haben: „Er ist ein Schandfleck der deutschen Anwaltschaft.“
Max Friedlaender gibt über den Verlauf der Berufungsverhandlung vor dem Ehrengerichtshof weiter folgende Darstellung:
„Der Schandfleck legte Berufung zum Ehrengerichtshof ein, der jetzt nach Berlin verlegt war und aus 4 Nazianwälten und 3 Reichsgerichtsräten bestand. Die letzteren waren natürlich unabhängige Richter. Die Verhandlung verlief so, dass an einer Freisprechung, die von den Reichsgerichtsräten allein herbeigeführt werden konnte (da zu einer Verurteilung qualifizierte Majorität erforderlich war), kaum zu zweifeln war. Rätselhaft wurde die Sache erst, als der Oberreichsanwalt als Ankläger das Wort ergriff und eine Lobrede auf Drucker hielt (er selbst erzählte mir, dass selbst bei offiziellen Festlichkeiten noch niemand ihn so in den Himmel gehoben habe). Dann aber wurde der Ankläger plötzlich unruhig, lief vor seinem Pult hin und her und erklärte unvermittelt: Eine Strafe müsse natürlich sein und er stelle das Strafmaß in das Ermessen des Gerichts.„ [41]
Die Entscheidung des Ehrengerichtshofes änderte das Urteil der Sächsischen Anwaltskammer dahingehend ab, dass gegen Martin Drucker die Strafe des Verweises und eine Geldstrafe von 1.000,00 RM verhängt wurde. Für das merkwürdige Verhalten des Staatsanwaltes gibt Friedlaender im weiteren folgende Erklärung ab:
„Drucker freute sich nicht über dieses Urteil und als ihm ein Kollege zu seinem Erfolg gratulierte, lehnte er dies wütend ab. Darauf sagte der Kollege, der über die Interna der Sache gut Bescheid wusste: „Seien Sie froh, Drucker, dass Sie nicht freigesprochen wurden. Die Gestapo war im Hause. Der Oberreichsanwalt wusste es und die Reichsgerichtsräte werden es auch gewusst haben. Wären Sie freigesprochen worden, so würden Sie jetzt nicht mehr hier sitzen und schmollen!“
Nach ungesicherten Informationen soll Mutschmann persönlich befohlen haben, Justizrat Drucker sofort durch die Gestapo zu verhaften, falls dieser freigesprochen werden sollte.
Der Hamburger Rechtsanwalt Dr. Darboven, den Martin Drucker aus seiner Tätigkeit im Deutschen Anwaltverein gut kannte, verdient für sein entschlossenes und furchtloses Auftreten in dieser Sache besonderen Respekt. Obwohl er wusste, dass er sich hierdurch selbst gefährdete, hatte er anlässlich eines Besuches in Leipzig spontan die Vertretung seines hochgeschätzten Kollegen Drucker übernommen.
Der Anzeigenerstatter Fritzsche hatte sein Ziel, Martin Drucker auszuschalten, vorerst nicht erreicht. Es steht jedoch zu vermuten, dass er auch an anderen, späteren Repressionen gegen Drucker unmittelbar und aktiv beteiligt war.
Der Nazianwalt hatte sich der Hitlerregierung nach seinen persönlichen Erklärungen dadurch unentbehrlich zu machen versucht, dass er nach Kriegsbeginn für Reichsbehörden in Devisensachen im Ausland, insbesondere der Schweiz (!) und Italien, tätig wurde. Auf seine Intervention wandte sich der Landgerichtspräsident im März 1943 an den Arbeitsamtspräsidenten, um Fritzsche vor dem unmittelbar drohenden Arbeitseinsatz zu bewahren, da er kriegswichtige Aufgaben zu erfüllen habe. Hierzu gehörte eine Reise im Auftrag der Zollfahndungstelle Magdeburg in die Schweiz. Diese Reise sollte, wie auch vorangegangene, dem Reich erheblich Devisen einbringen. In einer Wirtschaftsstrafsache, die Fritzsche zu dieser Zeit bearbeitete, ging es um 1,2 Mio. Schweizer Franken für das Deutsche Reich. ‚Da er (Fritzsche) verschiedene Vertrauensmänner in der Schweiz an der Hand habe, mit denen er unauffällig diese Geschäfte erledigen kann‘, sei er für diese Transaktionen besonders geeignet. Als Fritzsche jedoch nach der Ausrufung des „totalen Krieges“ durch Manipulationen die befürchtete Schließung seiner Kanzlei abwenden wollte, wurde er aus der NSDAP ausgeschlossen.
Als er sich gegen Ende des Krieges heimlich absetzen wollte, wurde er von der Gestapo verhaftet. In einer Aktion am 12. April 1945 auf dem Wehrmachtsübungsplatz in Lindenthal wurde er mit weiteren, überstürzt dorthin transportierten 52 Gefangenen erschossen. Die meisten der anderen Inhaftierten waren tatsächlich politische Gegner des Naziregimes, die nun ausgerechnet neben dem Nazianwalt zu Tode gebracht wurden. Unter Ihnen befanden sich z.B. auch Alfred Kästner, Paul Küster und Margarethe Bothe. Deshalb wird noch heute, obwohl die historischen Tatsachen lange bekannt sind, der Nazianwalt Fritzsche gemeinsam mit ermordeten Widerstandskämpfern in einem Ehrenhain in Lindenthal geehrt. Noch im Juni 1946 sprach ein früherer Kollege, der ebenfalls unter Fritzsche zu leiden hatte, gegenüber Justizrat sein Entsetzen darüber aus, dass dieser Mann nunmehr durch sein Ende sogar als „Antifaschist“ anerkannt sei. Wahrscheinlich haben die im Urteil der Sächsischen Anwaltskammer enthaltenen zahllosen Ausfälle im Zusammenhang mit der jüdischen Abstammung Martin Druckers diesen nicht beleidigen können, denn sein persönliches Verhältnis zum Judentum hat Drucker in seinen Lebenserinnerungen kurz und prägnant wie folgt beschrieben: „Daß mein Vater von Juden abstammt, erhöhte in eigenartiger Weise meine Selbstachtung.“
Fred Grubel kommt in seinem Vorwort zum dem von ihm 1983 initiierten Nachdruck der Festschrift für Martin Drucker von 1934 zu dem überzeugenden Schluss: „Es liegt der Gedanke nahe, daß Martin Drucker, Anwalt des Rechts, geformt war nicht nur durch Erlebnis und Erfahrung, sondern auch durch das glückliche Zusammenwirken seiner jüdischen und christlich-deutschen Vorfahren, ein schlagender Beweis gegen den Irrsinn des Rassenwahns, der solch unsagbares Unheil über Deutschland und die ganze Welt gebracht hat.“
Der Versuch Martin Drucker aus der Anwaltschaft auszuschalten, war ein weiteres Mal gescheitert. Es ist sicher heute kaum noch vorstellbar, wie der schmächtige, nicht mehr junge Martin Drucker diese permanente physische und psychische Anspannung und Bedrohung ertragen hat. Mit Sicherheit haben diese Verhältnisse das Leben von Martin Druckers geliebter Frau Margarethe verkürzt.
Obwohl Justizrat Drucker die stetige Bedrohung seiner Person zu diesem Zeitpunkt bereits bewusst gewesen sein muss, wollte er im Frühjahr 1934 die Vertretung von Richard Hofmann, der wegen Hochverrats vor dem berüchtigten Volksgerichtshof angeklagt war, übernehmen. Der Leipziger Landgerichtsdirektor Gerhard Lorenz warnte den Vorsitzenden des I. Senats des Volksgerichtshofes in einem Schreiben vom 27. April 1934 deshalb nachdrücklich vor diesem „talmudistischen Genie“: „Persönlich halte ich den Justizrat Dr. Drucker für einen anständigen Mann, er ist aber einer der überaus klugen, geistreichen und gewandten Juden, die aus ihrer spitzfindigen und eben talmudistischen Geistesart nicht herauskönnen.„[42] Auch wenn ausweislich der erhaltenen Personalakte Martin Druckers nachweisbar ist, dass sich Lorenz persönlich sehr aktiv um die Aufklärung der jüdischen Abstammung des Leipziger Rechtsanwaltes bemüht hat, ist in einer Gesamtschau der immer in klarer Handschrift mit grüner Tinte vorgenommenen persönlichen Anmerkungen des Landgerichtspräsidenten zu vermuten, dass dieser zumindest Respekt vor den intellektuellen Fähigkeiten und der anwaltlichen Kompetenz Druckers hatte und deshalb geneigt war, soweit er sich selbst damit nicht in Gefahr brachte, das Schlimmste zu verhindern.
Die Tatsache, dass Martin Drucker allen Verfolgungen und Bedrohungen zum Trotz das Ende des Hitlerregimes erleben konnte, lässt überhaupt die Vermutung aufkommen, dass auch an anderer Stelle einflussreiche Persönlichkeiten versuchten, den Justizrat zu schützen und vor der Deportation ins Konzentrationslager und der Ermordung zu bewahren. Hierfür gibt es jedoch bislang keinerlei konkrete Anhaltspunkte.
Der 65. Geburtstag
In dem bereits erwähnten Ostwald’schen Haus „Glück auf!“ in Großbothen empfing die Familie am 6. Oktober 1934 eine Gruppe der damals namhaftesten Juristen Deutschlands, an ihrer Spitze den hochbetagten ehrwürdigen Geheimrat Adolf Heilberg. Der Nachfolger Druckers im Amt des DAV-Präsidenten Rudolf Dix hatte Heilberg noch anlässlich dessen 75. Geburtstages am 14. Januar 1933 den Titel „Nathan der Weise der deutschen Rechtsanwaltschaft“ verliehen. Der Präsident der Schlesischen Anwaltskammer und der Breslauer Stadtverordneten war nur zwei Monate später von den NS-Horden aus Breslau vertrieben worden.[45]
Der für den Jubilar vollkommen überraschende Besuch in Großbothen, das Verdienst des ältesten Sohnes Heinrich und des treuen Assistenten Fritz Grübel, war deshalb für Drucker eine menschliche Wohltat, da er zu dieser Zeit durch das bereits geschilderte ehrengerichtliche Verfahren des Zuspruches der verehrten Kollegen besonders bedurfte.
Heilberg überreichte dem von der unerwarteten Ehrung tief berührten Martin Drucker eine anlässlich des 65. Geburtstages von Julius Magnus herausgegebene Festschrift. Die in aller Heimlichkeit, fast konspirativ, entstandene Festschrift vereinte die Koryphäen der deutschen Anwaltschaft. Ganz besondere Bedeutung hatte für den Jubilar der in die Festschrift aufgenommene Beitrag des bereits mehrfach genannten Strafverteidigers Max Alsberg „Das Plaidoyer“. Er wurde dadurch an diesem Tag schmerzlich an die vergangenen Zeiten erinnert, als Alsberg und er sich brillante, scharfsinnige und von der Presse bejubelte Rededuelle geliefert hatten. Der Beitrag wurde von der Witwe postum zur Veröffentlichung in der Festschrift übergeben. Der berühmteste deutsche Strafverteidiger Alsberg hatte sich, um weiteren Demütigungen und Repressalien zu entgehen, am 11. September 1933 das Leben genommen.
Die Versuche der neuen Machthaber, auch den standhaften und mutigen Leipziger Rechtsanwalt Martin Drucker auszuschalten, gingen immer weiter. Die Nazis gingen nun dazu über, die Klienten zu zwingen, ihre Mandate bei Justizrat Drucker zu kündigen. So musste ein kosmetischer Konzern gegen seinen Willen jegliche geschäftliche Verbindung abbrechen, da andernfalls mit einem totalen Boykott sämtlicher Produkte in allen Parfümgeschäften und durch alle Friseure gedroht worden war.
Martin Drucker lässt in seinem Lebenslauf nach 1945 erkennen, dass er die durch diese Machenschaften zugefügten wirtschaftlichen Schädigungen nur mit größten Schwierigkeiten ertragen konnte: „… ich sah das Ende meiner Widerstandsfähigkeit herannahen.“ Hier findet sich einer der wenigen Belege dafür, dass die stetige Bedrohung nicht spurlos an dem Leipziger Rechtsanwalt vorüberging. Er ließ sich ansonsten kaum jemals anmerken, dass ihn die Attacken im Innersten trafen.
Der Fall des litauischen Zwangsarbeiters Galeckas
Umso erstaunlicher ist es, dass Justizrat Drucker sogar noch nach dem Beginn des Krieges 1942 vor dem Amtsgericht Leipzig den Freispruch des wegen Diebstahls angeklagten litauischen Zwangsarbeiters Galeckas durchsetzte. Als er dann auch noch die volle Auszahlung des Lohnes für den Arbeitseinsatz des Angeklagten während der Untersuchungshaft forderte, ereiferte sich der OLG-Präsident über die „typisch liberalistische Denkweise“ Druckers wie folgt: „Dr. Drucker, dessen Berufsausübung schon früher Anlass zur Beanstandung gegeben hat, hätte als Mischling besondere Veranlassung zur Zurückhaltung gehabt. Sein völlig verfehltes Eintreten für einen Litauer ist aber eines Anwalts unwürdig.„[43]
Der Fall Susanne Aizen
Häufig war nach dem Beginn des barbarischen Krieges und der Deportationen der jüdischen Bürger Leipzigs der Rechtsanwalt Martin Drucker die letzte und einzige Möglichkeit auf Hilfe und Rettung. Nur wenige dieser Fälle sind überliefert. Einer der ganz besonders dramatischen davon ist erhalten geblieben und verdient an dieser Stelle geschildert zu werden.[44]
Susanne Aizen war am 04. März 1924 in Leipzig geboren. Sie war seit Januar 1942 Kassiererin im Lichtspieltheater „Filmeck“ im Barfußgäßchen, bis sie am 12. September 1942 exakt um 12.10 Uhr mittags auf Grund einer Denunziation vorläufig festgenommen wurde. Ihr Vater war ein jüdischer Kaufmann, von dem die „deutschblütige“ Mutter geschieden war. Der Vater war nach Polen abgeschoben worden. Eine Berufsschule konnte Susanne nach Abschluss der Volksschule wegen ihrer Abstammung nicht besuchen. Sie lernte ein paar Monate in der bekannten jüdischen Firma Max Held Kontoristin. Susanne Aizen war nach Auffassung der Gestapo Geltungsjüdin und hatte demzufolge den Judenstern zu tragen und den Zusatznamen „Sara“ zu führen. Beides hatte sie jedoch nicht getan.
Ein weiterer Vorwurf entstand dem 18jährigen Mädchen daraus, dass sie im November 1941 einen Sohn geboren hatte, dessen Vater ein „deutschblütiger“ Wehrmachtsangehöriger war. Das war nach Auffassung des anklagenden Oberstaatsanwaltes Rassenschande.
Die verzweifelte Mutter des minderjährigen Mädchen wandte sich an Martin Drucker, der das Mandat übernahm und bereits mit Schriftsatz vom 23. September zu den Vorwürfen Stellung nahm. Die Ausführungen belegen sehr eindrucksvoll, dass es der Leipziger Rechtsanwalt verstand, die Nazijuristen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Die Rassengesetze waren nicht nur in ihrem Inhalt barbarisch, sie waren auch so unprofessionell formuliert, dass sie nicht in jedem Einzelfall die gewünschte Zielstellung erreichen konnten. Martin Drucker brachte die Staatsanwaltschaft in der mündlichen Verhandlung am 28. September 1942 so in Bedrängnis, dass der Staatsanwalt Dr. Gläsemer Vertagung der Hauptverhandlung zur weiteren Vorbereitung beantragen musste. Nach dem Protokoll der mündlichen Verhandlung folgt in der erhalten gebliebenen Akte ein lapidares Schreiben der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeistelle Leipzig an den Herrn Oberstaatsanwalt beim Landgericht vom 20. Januar 1943 folgenden Inhalts:
‚“Betr.: Susanne Sara Aizen
Die Obengenannte ist am 11.1.1943 im Konzentrationslager Auschwitz verstorben.
Ich bitte um Kenntnisnahme.“
Die Mutter hatte bereits am 15. Januar die Nachricht der Gestapo erhalten, dass ihre Tochter verstorben und die Leiche bereits verbrannt worden sei. Nachdem am 16. März 1943 durch Dr. Drucker angefragt worden war, ob das Verfahren infolge des Ablebens der Angeklagten eingestellt sei, verfügte die Staatsanwaltschaft: „Das Verfahren wird nach Ableben der Beschuldigten eingestellt.“ Die Akten konnten geschlossen werden.
Immer wenn der Leipziger Rechtsanwalt in diesen Tagen in das Gerichtsgebäude in der Elisenstraße 64 (heute Bernhard-Göring-Straße) ging, fürchtete die Familie, dass der Vater noch im Gerichtssaal von der Gestapo verhaftet werden könnte. Auch die verbliebenen Angestellten der Kanzlei in der Ritterstraße waren sich bewusst, dass sich ihr beliebter Chef in ständiger Gefahr befand, verhaftet und in ein Konzentrationslager geschafft zu werden.
„Schwer traf der Faschismus mich in meinen Kindern.“[45]
Martin Drucker hatte in der Zeit des Nationalsozialismus nicht nur die geschilderten Verfolgungsmaßnahmen und Repressionen zu erleiden. Er verlor während der Bombenangriffe seine Kanzlei mit der bereits vom Vater aufgebauten kostbaren juristischen Bibliothek. Auch die geliebte Wohnung in der Schwägrichenstraße wurde mit allem Hab und Gut während der Bombenangriffe vernichtet. Die Nazis versuchten nicht nur Martin Drucker selbst auszuschalten, sondern sie verfügten auch immer wieder neue repressive Maßnahmen gegen seine Kinder, die über das für sie als sogenannte 1/4 Juden selbst nach den Rassegesetzen zulässige Maß hinaus gingen.
Seine beiden Söhne Heinrich und Peter teilten das Schicksal vieler hoffnungsvoller junger Männer: Sie starben in dem barbarischen Krieg. Die beiden Töchter wurden in ihrer Ausbildung und ihrer Berufsausübung gehindert.
Der 1905 geborene Sohn Heinrich hatte wie sein Vater bereits an der Thomasschule zu den größten Hoffnungen Anlass gegeben. Ihn drängte es später zum Studium der Philosophie, besonders bei Theodor Litt, dessen Nachlass im Jahr 1997 von der Leipziger Universität übernommen werden konnte. Sein Wissensdrang führte ihn jedoch auf Abwegen zur Soziologie, so dass er am Leipziger Institut bei Hans Freyer landete. Dieser ließ ihm bereits 1933 den Zutritt zum Institut verwehren, wofür es keinerlei Grundlage gab. Nach Kriegsbeginn im November 1942 heiratete er, da das Gerücht umging, dass auch den „25 %igen Juden“ künftig die Ehe per Gesetz untersagt werden sollte, die katholische Postangestellte Ursula Quinte. Aus dieser kurzen, sehr glücklichen Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen. Die beiden Enkelkinder waren für Martin Drucker in seinen letzten Lebensjahren Trost, Freude und Hoffnung. Obwohl die akademische Karriere des Sohnes Heinrich wegen seiner Abstammung beendet war, war er doch ‚geeignet‘, als Landesschütze an die Ostfront einbezogen zu werden. Tagtäglich schrieb Heinrich an seine junge Frau düstere Briefe. Als diese ausblieben, war die Familie natürlich beunruhigt. Schließlich erreichte Ursula Drucker im Februar 1945 in Aue, wohin sie mit ihren beiden Kleinkindern geflüchtet war, der Brief eines ihr unbekannten Stabsgefreiten Kosub. Der Unbekannte teilte ihr mit, dass er Heinrich auf der Hauptstraße nach Berlin-Breslau im Graben an einem Ort namens Oberau in der Nähe von Lüben in Niederschlesien tot gefunden habe. Er schickte von ihr stammende Briefe, die er in der Hose des Toten gefunden hatte. Heinrich wurde in Oberau beerdigt. Der Stabsgefreite sprach sein herzliches Beileid aus und versicherte, dass ihr Mann eine schöne Ruhestätte gefunden habe. Nach den geschilderten Umständen musste die Familie annehmen, dass Heinrich seiner Uniform beraubt und ermordet worden war.
Ebenso tragisch endete das Leben des wesentlich jüngeren, 1914 geborenen, hochbegabten Sohnes Peter. Er fiel am 12.07.1942 in Afrika bei El Alamain. Am Morgen noch hatte er der Familie in Leipzig eine Karte von Kreta geschrieben. Wenige Stunden später wurde er mit seiner Kompanie in Flugzeugen zum Kriegseinsatz geflogen, wo er am gleichen Tag umkam. Peter war der Naturwissenschaftler der Familie und stand so in der Tradition seines Onkels Carl. Er studierte zunächst 1932 in Göttingen, aber schon ab 1933 in Leipzig, insbesondere bei Heisenberg. 1936 brach er sein Studium ab, da er keine Chance sah, dieses unter der nationalsozialistischen Herrschaft noch beenden zu können. Er kam durch die Vermittlung seines Hamburger Onkels Conrad als Stift in eine Firma für Import-Export. Peter hoffte dadurch später nach Südamerika auswandern zu können. Diese Hoffnungen zerschlugen sich jedoch mit dem Kriegsbeginn.
Der 1903 geborenen Tochter Martina wurde nach dem erfolgreichen Abschluss ihres Medizinstudiums in Leipzig untersagt, ihren geliebten Beruf als Kinderärztin auszuüben. Auch für diese Schikane gab es natürlich keinerlei gesetzliche Grundlage. Sie arbeitete deshalb einige Zeit bei dem namhaften jüdischen Arzt Dr. Abraham Adler in dessen Praxis in der Bosestraße. Später wurde sie nach Schlawe in Hinterpommern dienstverpflichtet. Nach dem Einmarsch der russischen Armee musste sie als Ärztin in einem Kriegsgefangenenlager arbeiten. Ihre Rückkehr nach Leipzig war eine schreckliche Odyssee, wie sie viele andere Flüchtlinge und Vertriebene zu dieser Zeit erleben mussten. Obwohl ihr allgemeiner Zustand bei ihrer Ankunft in Leipzig deshalb sehr erschreckend war, wie sich die jüngere Schwester Renate noch heute erinnert, war ihr sehnlichster Wunsch, endlich als Kinderärztin arbeiten zu dürfen. Als solche ist sie sicher heute noch vielen Leipzigern aus Kindheitstagen liebevoll in Erinnerung geblieben. Die spätere Sanitätsrätin arbeitete aufopferungsvoll für ihre kleinen Patienten, denn auch sie verstand ihren Beruf, wie ihr Vater, als lebenslange Berufung. Die nach langer schwerer Krankheit im Jahr 1992 in Leipzig verstorbene Tochter Martina hat dem Namen ihres Vaters im besten Sinne des Wortes Ehre gemacht.
Renate, die wesentlich jüngere zweite Tochter Martin Druckers, besuchte das Gymnasium in Salem am Bodensee. Sie fühlte sich dazu berufen, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten und wollte Rechtsanwältin werden. Für diese berufliche Laufbahn gab es für sie jedoch nach 1933 keinerlei Chance. Sie studierte daher Geschichte und Germanistik und hatte damit, wie heute mit Gewissheit gesagt werden kann, ihre wahre Berufung gefunden.
Zwischen 1938 und 1941 war sie aus rassischen Gründen vom Studium an deutschen Universitäten ausgeschlossen. Selbstredend gab es auch für diesen Ausschluss in den „Rassegesetzen“ keinerlei Basis. 1942 setzte sie ihr Studium bei Walter Stach in Straßburg fort, wo sie Ende 1944 zum Thema „Die althochdeutschen Glossen in der lex salica“ promovierte. Renate Drucker ist wie der Vater und die Schwester ihrer Geburtsstadt Leipzig bis heute treu geblieben. Als Historikerin hat sie sich bleibende Verdienste um den Aufbau und die Bewahrung der Universitätsarchivs erworben, welches sie zwischen 1950 und 1977 bis zu ihrer Pensionierung engagiert leitete. Ganze Generationen von Studenten erinnern sich bis heute lebhaft an ihre Lehrveranstaltungen auf dem Gebiet der historischen Hilfswissenschaften an der Leipziger Universität. Noch heute ist die rastlose zierliche 80jährige als Kultursenatorin des Freistaates Sachsen, aber insbesondere als Vorstandsvorsitzende der Ephraim Carlebach Stiftung Leipzig aktiv und wirkt so im Sinne ihres Vaters fort.
Anlässlich ihres 80. Geburtstages [46] verlieh ihr die Leipziger Universität in Würdigung ihrer besonderen Verdienste für die Freiheit des Gedankens die Ehrenbürgerschaft. Am 23. Oktober 1997 wurde Renate Drucker für ihr Lebenswerk mit dem Verdienstorden des Freistaates Sachsen geehrt. Martin Drucker wäre mit Bestimmtheit sehr stolz auf seine Jüngste gewesen.
Die Versetzung in den „Ruhestand“
Unter dem Datum vom 23. April 1943 teilte der Oberlandesgerichtspräsident dem Landgerichtspräsidenten mit, dass er zu prüfen habe, „ob der jetzt 73 Jahre alte Rechtsanwalt Justizrat Dr. Drucker gemäß § 3 der VO vom 01.03.1943 in den Ruhestand zu versetzen ist.„[47] Gleichzeitig merkte er an, dass gegen Dr. Drucker wieder einmal ein strafrechtliches Verfahren bei der Dienststrafkammer anhängig sei, und abschließend heißt es dann: „Ich beabsichtige, dem Verfahren auf Versetzung in den Ruhestand den Vorzug vor dem ehrengerichtlichen Verfahren zu geben und bitte deshalb um besonders beschleunigte Durchführung der Erörterungen.“[48]
In dem daraufhin angefertigten „Vorschlag wegen Versetzung in den Ruhestand“ stellt der Landgerichtspräsident Lorenz u.a. fest: „Ob das anhängige ehrenstrafrechtliche Verfahren ein Grund für seine Versetzung in den Ruhestand ist, kann von hier aus nicht beurteilt werden. Ob lediglich die Tatsache, dass Dr. Drucker Mischling 1. Grades ist, ein Grund zur Versetzung in den Ruhestand gibt, muss der höheren Entschließung überlassen werden. Das Verhalten Dr. Druckers seit 1933, insbesondere die Art seiner Berufsausübung und Berufsauffassung seit diesem Zeitpunkt geben zu Beanstandungen keinen Anlass.“
Die beabsichtige Versetzung in den Ruhestand war auch Anlass, Erörterungen über die Vermögensverhältnisse Martin Druckers anzustellen, denn es war zu klären, ob der Rechtsanwalt einer Versorgung aus Mitteln der Reichsrechtsanwaltskammer „bedürftig und würdig“ sei. Martin Drucker gab hierzu an, dass die Versorgung seines 38jährigen Sohnes Heinrich und seiner 26jährigen Tochter Renate noch auf seinen Schultern ruhe, da sie als Mischlinge 2. Grades bislang kein eigenes Einkommen finden konnten. Auch seine gerade schwangere Schwiegertochter sei vollkommen vermögenslos. Die von der Sozietät abgeschlossene Lebensversicherung trete für den Fall des Ausscheidens auch nicht ein, so dass auch hieraus keinerlei Versorgung zu erwarten sei, sondern nur weitere Prämienzahlungen erfolgen müssten.
An dieser Stelle wird deutlich, dass Martin Drucker trotz seiner lebenslangen erfolgreichen anwaltschaftlichen Tätigkeit praktisch vermögenslos war. Sein Vorkriegsvermögen (gemeint war hier natürlich der I. Weltkrieg) hatte er wie andere pflichtschuldigst in Kriegsanleihen angelegt und durch den Verfall der Währung verloren.
Es entsprach jedoch unabhängig davon nicht dem Wesen Martin Druckers, und dem seiner Frau Margarethe, Vermögen anzuhäufen. Die vor 1933 gut laufende Kanzlei musste viele Köpfe ernähren, und ansonsten wurde Geld eigentlich im Wesentlichen dann sehr großzügig ausgegeben, wenn es um die umfassende Ausbildung seiner Kinder ging. Wie sich die jüngste Tochter Renate erinnert, wurde an diesen Kosten nicht gespart.
Die Domizile in Niedergräfenhain und später in Großbothen konnte sich die Familie nur wegen der außerordentlich günstigen Mietverhältnisse leisten. Aber auch das war ein „Luxus“, den sich und seiner Familie der Justizrat gerne gönnte. Die Anschaffung von Grundbesitz jedoch war ihm vollkommen wesensfremd.
Trotz dieser Feststellungen wurde Martin Drucker natürlich ohne jegliche Versorgung auf Grund der genannten Verordnung, welche als „lex Drucker“ bekannt wurde, per 01.01.1944 in den Ruhestand als Rechtsanwalt versetzt. Ein einmaliger Vorgang, da ein freiberuflich tätiger Anwalt, der eben nicht Staatsbeamter ist, naturgemäß auch nicht durch den Staat per Dekret in den Ruhestand versetzt werden kann.
Der Termin für die Versetzung in den Ruhestand musste jedoch zunächst nochmals verschoben werden, da die Kanzlei in der Ritterstraße 1-3 während des Bombenangriffes am 4. Dezember 1943 in Flammen aufging. Niemand wurde damals in die Innenstadt gelassen, um zu löschen oder noch irgendetwas zu retten. Das Haus selbst war gar nicht getroffen worden. Es war durch das Feuer des gegenüberliegenden Hauses schließlich abgebrannt.
Als Martin Drucker später in Jena seine Erinnerungen aufschrieb, wurde ihm oft bewusst, welche wichtigen Dokumente und lieb gewordenen Erinnerungen damals unwiederbringlich verloren gegangen sind. Die Kanzlei wurde daraufhin in die Wohnung in der Schwägrichenstraße verlegt, da auch die Ecksteins ausgebombt waren.
Am 29.12.1943 teilte der Oberlandesgerichtspräsident „gnädigst“ mit, dass die Versetzung in den Ruhestand auf den 1. April 1944 verschoben worden sei. Nur der Tatsache, dass sein treuer Sozius Eckstein Justizrat Drucker trotzdem weiter im Rahmen des Möglichen etwas verdienen ließ, ist es zu verdanken, dass die Familie nicht vollständig ohne Einkommen war, zumal sämtliche Rücklagen längst verbraucht waren.
Als Ende Mai 1944 bei Martin Drucker eine Aufforderung einging, einen Personalbogen auszufüllen, kam es erneut zu einem unerfreulichen Briefwechsel mit dem Landgerichtspräsidenten, da sich der „Rechtsanwalt im Ruhestand“ beharrlich weigerte, dieser Forderung nachzukommen. Da ihm eine aufsichtsrechtliche Ahndung angedroht wurde, bat der Justizrat um Angabe der gesetzlichen Bestimmungen, nach welchen er weiterhin unter der Aufsicht des Reichsjustizministers stehe.
Seinen 75. Geburtstag am 6. Oktober 1944 verbrachte Martin Drucker bei der Familie Duseberg in Aue, wohin seine Schwiegertochter mit ihren beiden Kindern gegangen war. Auch wenn Heilberg vor 10 Jahren zu Drucker in Großbothen gesagt hatte, dass niemand wissen könne, was die nächsten Jahre bringen werden, hatte sicher keiner der damals Anwesenden auch nur eine vage Vorstellung von dem, was dann tatsächlich kam.
Martin Drucker hatte allzu früh seine Frau Margarethe verloren, der jüngste Sohn Peter war 1942 gefallen, der Älteste war an der Ostfront, die Kanzlei war zerstört, die berufliche Existenz schien für immer vernichtet.
Ein trauriger 75. Geburtstag. Doch die Dusebergs, die Tochter Renate und Ursula Drucker, die ihren Schwiegervater abgöttisch verehrte, versuchten, den Tag so würdig wie unter den Kriegsbedingungen nur irgend möglich zu gestalten.
Trotzdem war auch zu diesem Zeitpunkt für Martin Drucker noch nicht alles ausgestanden. Im Februar kam die Nachricht vom Tod des Sohnes Heinrich, und die Schwiegertochter Ursula kam mit ihren beiden kleinen Söhnen zurück nach Leipzig. Hier erfuhren sie kurze Zeit später, dass ihre Ängste um die in Dresden lebenden Mannsfelds nicht unbegründet waren. Nach dem verheerenden Bombenangriff am 13. Februar 1945 war die geliebte Schwester Betty schwer verletzt mit zertrümmerter Hüfte, ohne Papiere und ohne Schuhe auf der Straße gefunden worden. Der neben ihr liegende Carl Mannsfeld war tot. Sie wurde in die Klinik ‚Sonnenstein‘ gebracht, wo sie darum bat, die Druckers in Leipzig zu informieren, denn der Rest der Familie war durch den Bombenangriff auf Dresden ebenfalls zerstreut und obdachlos. Der Tod des früheren sächsischen Justizministers war für Justizrat Drucker der Schlusspunkt familiärer Todesnachrichten. Der hochanständige Carl Mannsfeld, auf den Martin Drucker angeblich einen solch unheilvollen Einfluss gehabt haben sollte, war 1906 an das Dresdner Oberlandesgericht berufen worden. Er war Richter mit jeder Faser seines Lebens, und hierin lag wohl auch der entscheidende Wesensunterschied zu dem Rechtsanwalt Drucker. Aber auch politisch gehörten sie nicht unbedingt einem Lager an, denn Mannsfeld fühlte sich eher demokratisch-konservativen Auffassungen verbunden. Im Jahr 1922 wurde er zum Chefpräsidenten am OLG Dresden berufen. Anlässlich seines 65. Geburtstages würdigt ihn die „Deutsche Juristen-Zeitung“[48] wie folgt:
„Im Jahr 1929 wurde er außerdem Justizminister. Er hat seine gleichzeitige Tätigkeit als solcher und als höchster Richter in vorbildlicher Weise ausgeübt und gezeigt, wie wertvoll es ist, wenn der Chef eines OLG gleichzeitig auch Chef der Justizverwaltung ist. Mit Mannsfeld wurde unzweifelhaft der beste Sach- und Fachkenner Sachsens an die richtige Stelle gesetzt. Er ist ein ausgezeichneter Jurist, der sich weit über Sachsens Grenzen durch seine unermüdliche Mitarbeit am neuen StGB und an dessen Beratungen verdient gemacht hat, zugleich ein Mann von ungewöhnlicher Arbeitskraft, ein hochgeschätzter Vorgesetzter, den nicht nur die Mitglieder des Ministeriums und des OLG, sondern ebenso auch die Richter und Staatsanwälte, die Beamtenschaft und die jungen Juristen hoch verehren.“
Sicher war es für Martin Drucker in dieser Situation ein Trost, dass die geliebte Schwester, die ‚Bettchentante‘, überlebt hatte. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1957 blieben ihre beiden Nichten auf das Engste mit ihr verbunden.
Am 23. Februar 1945 ging schließlich auch die Wohnung in der Schwägrichenstraße in Flammen auf. Die Situation an diesem Tag, wie sie Renate Drucker sehr anschaulich beschreibt, mutet geradezu kafkaesk an, denn kaum jemand war dieser Situation noch gewachsen. Nur wenige Erinnerungsstücke wurden in letzter Minute noch aus der Wohnung gerettet. Kurz bevor die Balken herab brachen, wurde auch der zerlegte Flügel, auf dem Margarethe Drucker so gern gespielt hatte, noch auf die Straße gebracht. Die Familie kam zunächst getrennt provisorisch bei Freunden und Bekannten unter. Ein früherer Mandant war bereit, der Familie Drucker eine freie Wohnung in einem seiner Häuser zu vermieten. Deswegen sprach er im berüchtigten Amt zur Förderung des Wohnungsbaus in der Harkortstraße1 vor, um die hierfür erforderliche Genehmigung zu erhalten. Im Nachbarzimmer hielt sich der Rechtsanwalt Zuberbier, der Leiter diese Amtes, der über viele Jahre direkt über Druckers gewohnt hatte, auf. Als er mit anhörte, worum es ging, drohte er dem früheren Klienten Martin Druckers mit „Maßnahmen der Partei“, und Drucker selbst wolle er nun umgehend ins Konzentrationslager schaffen lassen.
Sofort gewarnt, entzog sich die Familie dem Zugriff der Leipziger Verfolger und floh zu Freunden in Jena. Dort wartete Martin Drucker das nahe Ende des Krieges ab. In dieser Zeit der relativen Ruhe und Besinnung gab er endlich dem Drängen seiner Schwiegertochter nach und begann, seine Erinnerungen aufzuschreiben. Das Leben ohne Geld und Verdienstmöglichkeiten war in Jena für die restliche Familie natürlich außerordentlich schwierig.
Ein Angebot der einmarschierten Amerikaner, nach dem Westen zu gehen und in Frankfurt am Main eine neue Kanzlei aufzubauen war deshalb sicher sowohl lukrativ als auch verlockend. Trotzdem widerstand der 75jährige Jurist diesen Angeboten. Es entsprach seiner innersten Überzeugung, dass er dort für den Wiederaufbau sorgen musste, wo er hingehörte: in Leipzig.[51]
Die letzten Jahre – Wiederaufbau der sächsischen Anwaltschaft
Nach der Befreiung Leipzigs durch die Amerikaner war, wie Martin Drucker nach seiner Rückkehr erfuhr, ein Jeep vor dem völlig zerbombten Wohnhaus Schwägrichenstraße 5 vorgefahren. Die Amerikaner suchten Drucker, um ihn zum ersten Bürgermeister Leipzigs zu ernennen. Wegen seiner Abwesenheit fiel die Wahl auf Rechtsanwalt Dr. Johannes Vierling, welcher kurze Zeit später durch Erich Zeigner abgelöst wurde.
Die Rückkehr von Jena nach Leipzig gestaltete sich unter den katastrophalen Bedingungen nach dem totalen Zusammenbruch außerordentlich schwierig. Die Familie wartete in Jena auf ein Zeichen aus Leipzig, dass sie wiederkommen könne. Martin Drucker erhielt dann tatsächlich Nachricht, dass er zurückkehren müsse, „um in den Wiederaufbau eingeschaltet zu werden.“ Es war jedoch schließlich erst Anfang Juni möglich, Martin Drucker mit einem Auto aus Leipzig von Jena abzuholen und in seine Heimat- und Geburtsstadt zurückzubringen. Hier bezog die ganze Familie eine Wohnung in der Brandvorwerkstraße 80. Diese war nur spärlich, mit zum Teil geborgten Möbeln eingerichtet, denn die aus der Wohnung in der Schwägrichenstraße geretteten und untergestellten Möbelstücke waren später durch eine Luftmine vernichtet worden. Die Schwiegertochter Ursula, die ihre beiden Kleinkinder zu versorgen hatte, führte auch den Haushalt. Die Tochter Renate hatte einen Lehrauftrag an der Leipziger Universität erhalten. Sie konnte jedoch noch nicht lesen, da die geschichtlichen Fächer zu diesem Zeitpunkt noch ‚gesperrt‘ waren.
Nachdem auch die Tochter Martina im Dezember 1945 aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, wurde sie als Assistenzärztin im Universitätskinderkrankenhaus angestellt. Als Martin Drucker zurückkam, war er bereits wieder in die Liste der beim Amtsgericht zugelassenen Rechtsanwälte eingetragen. So kam es auch, dass hier als Kanzleisitz die Schwägrichenstraße 5 angegeben war, obwohl dieses Gebäude nicht mehr bestand. Die von seinem treuen Sozius Eckstein mühevoll wieder eingerichtete gemeinsame Kanzlei befand sich vielmehr nun im Europahaus am Augustusplatz 7 (später in Karl-Marx-Platz umbenannt).
In seiner Abwesenheit hatten die Amerikaner in einer geheimen Wahl durch alle nicht faschistischen Rechtsanwälte einen Bezirksausschuß für Rechtsanwälte und Notare in Leipzig wählen lassen, zu dessen Präsidenten Martin Drucker bestimmt worden war. Er engagierte sich sofort außerordentlich in der Kommission zur Überprüfung und Wiederzulassung von Rechtsanwälten in Sachsen. Martin Drucker wurde darüber hinaus zum Vizepräsidenten der Sächsischen Rechtsanwalts- und Notarkammer gewählt und musste deshalb alle zwei Wochen nach Dresden reisen. Offenkundig in dieser Funktion wurde er etwa im Herbst 1946 gebeten, einen Vortrag zum Thema ‚Der Anwalt in der neuen Zeit‘ vor sächsischen Rechtsanwälten zu halten. Das im Anhang erstmals veröffentlichte Manuskript dieser Rede muss als das eindrucksvolle Vermächtnis Martin Druckers an die deutsche Anwaltschaft angesehen werden.
Er schreibt in erhaltenen Briefen aus dieser Zeit, dass er in seiner ganzen Anwaltspraxis noch niemals dermaßen mit Arbeit in Anspruch genommen worden war, die er nicht einmal in siebzig Wochenstunden bewältigen könne.
Am 28. März 1946 feierte ihn die Leipziger Universität aus Anlass seines Goldenen Doktorjubiläums. Martin Drucker war sehr Überrascht darüber, dass so viele Kollegen dieses Jubiläum zum Anlass nahmen, ihm zu gratulieren. Besonders berührt hat ihn das Glückwunschschreiben des nunmehrigen Landgerichtspräsidenten Alfred Neu, mit dem er sich durch gemeinsame Erfahrungen sehr eng verbunden fühlte.
Auf Drängen seiner Schwiegertochter bemühte sich Martin Drucker um die Anerkennung als ‚Opfer des Faschismus‘ bei der Stadt Leipzig. Das hatte zumindest zwei Beweggründe: Einerseits wollte Ursula Drucker sicher, dass die Verfolgung und der mutige Widerstand ihres verehrten Schwiegervaters auch ganz offiziell anerkannt wird, andererseits war mit einer solchen Anerkennung auch eine bessere Versorgung verbunden, die Martin Drucker dringlichst benötigte, da im Ergebnis des Krieges das gesamte Hab und Gut verloren gegangen war.
In diesem Zusammenhang bekam Justizrat Drucker einen ersten Eindruck von dem, was später kommen sollte, er aber nicht mehr erleben musste. Im September 1946 sprach der bald 77jährige Justizrat in dieser Angelegenheit in der zuständigen Kommunalabteilung in der Humboldtstraße 3 vor. Hier musste er eine dreiviertel Stunde auf dem Korridor warten. Während dieser Zeit wurden aber andere Herren in das Zimmer gerufen, die nach ihm gekommen waren. Als er im Anmeldezimmer diesbezüglich nachfragte, wurde er von einer Angestellten sofort niedergeschrien und der Lüge bezichtigt. Justizrat Drucker verließ daraufhin das Haus. Am 6. September 1946 teilte ihm der Rat der Stadt Leipzig lapidar mit, dass seine Anerkennung als Opfer des Faschismus nicht möglich sei, weil die gesetzlichen Bestimmungen dies nicht zuließen.
Nach 1945 hat sich Martin Drucker darum bemüht, die ‚Juristische Wochenschrift‘, die für seine persönliche Arbeit über Jahrzehnte so bedeutungsvoll gewesen war, wiederzubeleben. Hierzu trat er in damals natürlich sehr langwierigen und schwierigen Schriftverkehr unter anderen mit Heinrich Dittenberger, der zu dieser Zeit Richter am Amtsgericht in Kitzingen war. In einem dieser Briefe schreibt Dittenberger an Drucker: ‚Dass der Deutsche Rechtsverlag Anspruch auf die JW erhebt, ist grotesk. Es wird wohl nicht schwer sein, dies zurückzuweisen.‘
In Abschrift erhalten geblieben ist auch ein Schreiben des damaligen Ministerpräsidenten von Groß-Hessen, Karl Geiler, vom 19. März 1946, welcher die Problematik einer möglichen Konkurrenz der ‚Süddeutschen Juristenzeitung‘ zur ‚Juristischen Wochenschrift‘ beinhaltet. Auf entsprechende Anfrage des Kollegen Wilhelm Kraemer aus Berchtesgaden, der früher am Leipziger Reichsgericht zugelassen war, antwortete Martin Drucker in einem seiner letzten Briefe am 21. September 1946 wie folgt: „Die Absicht, die Juristische Wochenschrift wieder ins Leben zu rufen, müssen wir wohl nunmehr als gescheitert ansehen. Gerade vor einigen Tagen ist dem Berliner Vertreter der Firma Moeser und Professor Melsheimer, der in der Justizverwaltung für das russische Besatzungsgebiet arbeitet, unter dem Ausdruck des Bedauerns eröffnet worden, dass die russische Verwaltung es schlechthin ablehne, für die Juristische Wochenschrift eine Lizenz zu erteilen. Über die Gründe ist nichts gesagt worden.“
In einem Schreiben vom 16. Juni 1946 teilt Martin Drucker dem früheren Senatspräsidenten Helmuth Delbrück resigniert mit: „Meine von Ihnen erwähnten Bestrebungen, den DAV wieder aufzurichten, kommen leider nicht von der Stelle, hauptsächlich deshalb nicht, weil die Genehmigung der Besatzungsmächte zur Gründung von Vereinen und insbesondere solchen, die sich über die Zonengrenze weg erstrecken sollen, nicht zu erlangen ist. Unsere Bemühungen werden fortgesetzt.“
Gleichermaßen erfolglos blieben Druckers Bemühungen um die Wiederbegründung des Leipziger Anwaltvereins. Bereits im August 1945 hatte der Leipziger Anwaltsausschuss, dem er vorstand, die Satzung zur Genehmigung eingereicht. Diese wurde jedoch durch die Besatzungsbehörde ohne Gründe nicht erteilt.
Es bleibt bis heute unverständlich, wie der nun bereits über 77 Jahre alte Justizrat Drucker die enorme Arbeitsbelastung unter den schwierigsten Arbeits- und Lebensbedingungen bewältigt hat. Die erhaltene private Korrespondenz der letzten beiden Jahre spiegelt wiederholte Krankheit wieder. Eine verschleppte Lungenentzündung zwang Martin Drucker ins Krankenbett. Dieser Erkrankung erlag der große Leipziger Rechtsanwalt schließlich am 23. Februar 1947. Der langjährige Wegbegleiter Martin Druckers und Schriftleiter der ‚Juristischen Wochenschrift‘ Heinrich Dittenberger stellte in dem nachfolgend vollständig widergegebenem Nachruf zutreffend fest: „Drucker verkörpert das Ideal des Rechtsanwaltes.“
Das Grab Martin Druckers und seiner Frau Margarethe auf dem alten Johannisfriedhof wurde, wie die vieler weiterer bedeutender Leipziger Persönlichkeiten, später bei der Umgestaltung zum Friedenspark beseitigt. Im Unterschied zu dem erwähnten NSDAP-Anwalt Fritzsche, der in Lindenthal als ‚Widerstandskämpfer‘ geehrt wird, erinnert deshalb in Leipzig nichts an diesen außerordentlich mutigen Anwalt.
Dem Engagement von Dr. Fred Grubel ist es verdanken, dass im Oktober 1989 anlässlich des 120. Geburtstages erstmalig Vertreter des Deutschen Anwaltvereins und des Kollegiums der Rechtsanwälte der damals noch existierenden DDR zu einer Gedenkveranstaltung in Leipzig zusammen kamen. Sowohl Manfred Unger als auch der eigens von New York angereiste Fred Grubel würdigten sehr eindrucksvoll und einfühlsam das Lebenswerk Martin Druckers. In den nachfolgenden Wirren der Wiedervereinigung verfiel jedoch die gerade wieder aufgefrischte Erinnerung an diesen mutigen Leipziger Juristen sehr schnell wieder dem Vergessen.
[1] Gemeindeverzeichnis Braunschweiger Juden. Geburten/Trauungen/Beerdigungen 1812-1868, Stadtarchiv Braunschweig, Sign. G III 1 : 276
[2] Hermann Samson war der erste Vorsteher der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig. Vergleiche hierzu: Festschrift zum 75jährigen Bestehen der Leipziger Gemeindesynagoge, Nachdruck: Berlin 1994, S. 43 ff.
[3] Albert Leppoc (1806-1875) trat 1847 zum Christentum über. Er wurde als Taufpate von Martin Drucker jun. im Taufregister von St. Nikolai verzeichnet.
[4] Zitat aus Martin Druckers Lebenserinnerungen.
[5] „Lieder für 4 Männerstimmen der vereinigten Bürgergesangsvereine Achtbarkeit und Biedersinn zu Schnarrtanne“, den Sangesbrüdern zu St. Pauli in Leipzig zum 50jährigen Stiftungsfeste gewidmet, wurde 1872 von Constantin Sander im Musikverlag F.E.C. Leuckart verlegt.
[6] Vergleiche: 125 Jahre Deutscher Anwaltverein, Bonn 1996, S. 4
[7] ) Maria Ottilie Roßbach, geborene Bach (1844-1914), die Ehefrau des Sozius war 1869 eine der Taufpatinnen von Martin Drucker jun. Sie war eine Cousine von Ottilie Marianne Mannsfeld, geborene Bach (1842-1918), der Mutter von Margarethe Drucker, geborene Mannsfeld.
[8] Vergleiche hierzu u.a.: Bernd-Rüdiger Kern, Die Geschichte der Leipziger Juristenfakultät; in: Sächsische Justizgeschichte, Band 3, Schriftenreihe des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz, Dresden 1994
[9] Ernst Heymann, Nachruf in: Deutsche Juristen-Zeitung, Nr. 28/1923, S. 481
[10] Vergleiche hierzu u.a.: Peter Landau: Juristen jüdischer Herkunft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik; in: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993.
[11] In: Europäisches Markenrecht, Dritter Teil: Vergleichende Darstellung der Markenrechte von den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Spanien, Portugal mit dem Deutschen Recht; Dr. Walter Rothschild, Berlin und Leipzig 1912/13
[12] Vergleiche: Vorwort von Dr. Fred Grubel zum Faksimiledruck der Festschrift Martin Drucker 1934; Scientia Verlag Aalen 1983.
[13] Vergleiche hierzu: Rosa Luxemburg im Gefängnis, Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 1987, S. 73
[14] Fred Grubel, Jüdisches Leben und Leiden in Leipzig, Erinnerungen 1908 bis 1939, Vorabdruck Leipzig 1997, S. 54 ff
[15] An dieser Stelle habe ich Georg Prick für wertvolle Hinweise zu Max Alsberg und zu dessen Verhältnis zu Martin Drucker zu danken.
[16] Dr. J. Jastrow, Der angeklagte Staatsanwalt, Dr. Walther Rothschild, Berlin 1930
[17] Tempel rollt weiter! in: „Der Freiheitskampf“ vom 16.12.1930, S. 3
[18] Festschrift der Juristischen Gesellschaft in Leipzig, Verlag von Veit & Comp. Leipzig 1909
[19] Vergleiche hierzu u.a.: Martin Drucker; Neuester und allerneuester Strafprozeß; in: Juristische Wochenschrift 1924, S. 241 ff.
[20] 50 Jahre Leipziger Anwalt-Verein, Leipzig 1929
[21] Das Grab Julius Habers befindet sich noch heute auf dem Leipziger Südfriedhof
[22] Hachenburg, Erinnerungen; a.a.O. S. 276
[23] Der Beitrag Martin Druckers „Auf dem Wege zum Anwaltstande“ wurde auch in der Zeitschrift der Anwaltskammer im Oberlandesgerichts-Bezirk Breslau Nr. 1/1928 veröffentlicht.
[24] Vergleiche hierzu insbesondere: Eberhard Haas/Eugen Ewig: Max O. Friedlaender (1873-1956) Wegbereiter und Vordenker des Anwaltsrechts; in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis, Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993
[25] Der Inhalt dieses Schreibens ist nur dadurch überliefert, weil Rechtsanwalt Dr. Darboven ihn in seiner Berufungsschrift vom 13. Mai 1935 an den Ehrengerichtshof vollständig zitiert.
[26] Max Hachenburg, Lebenserinnerungen eines Rechtsanwalts, Düsseldorf 1927
[27] Vergleiche hierzu: Fred Grubel, Erinnerungen a.a.O., S. 56
[28] Vergleiche hierzu: Judaica Lipsiensia, Leipzig 1994, S. 295 ff.
[29] So beschreibt Martin Drucker die Situation in seinem nach 1945 niedergeschriebenen Lebenslauf (Anlage).
[30] Vergleiche hierzu insbesondere die Personalakte, Staatsarchiv Leipzig, Landgericht Nr. 1424
[31] Staatsarchiv Leipzig, Amtsgericht Nr. 814
[32] Vergleiche hierzu Schellenberger; Institut für Zeitgeschichte München, Sign. MA 108, Fasz. 4152
[33] Vergleiche hierzu u.a.: Neue Leipziger Zeitung vom 18.03.1933, S. 5
[34] Zitiert nach der Berufungsbegründung des Rechtsanwalts Darboven vom 13.05.1935, Seite 2; Institute of Contemporary History and Wiener Library Limited London, Index Number: P.II.b. 138
[35] Zitiert nach Darboven; a.o.O., S. 4
[36] Institute of Contemporary History and Wiener Library Limited London, Index Number: P.II.b. 138
[37] Bundesarchiv, Abt. Potsdam, Sign. EGH dt. RA, Nr. 3181
[38] „Laßt jede Hoffnung hinter Euch, ihr, die ihr eintretet!“ (Dante, Göttliche Komödie; Hölle 3, 9; Letzter Vers der Inschrift über der Höllenpforte)
[39] So beschreibt Max Friedlaender die Situation im November 1954; Vergleiche hierzu: Interview with Dr. Friedlaender, Institute of Contemporary History and Wiener Library Limited London, Index Number: P.II.b. 5
[40] Urteil des EGH vom 01.10.1935; a.o.O.; Seite 2
[41] Reichsanwalt Dr. Karl Schneidewin vertrat ausweislich des vorliegenden Urteils die Staatsanwaltschaft
[42] Zitiert nach der Personalakte Martin Druckers; Staatsarchiv Leipzig, Landgericht Leipzig Nr. 1387
[43] Vergleiche: Personalakte Martin Druckers; a.o.O.
[44] Staatsarchiv Leipzig, Amtsgericht Leipzig Nr. 1265
[45] Martin Drucker in seinem nach 1945 niedergeschriebenen Lebenslauf
[46] Vergleiche hierzu: Gerald Wiemers, Renate Drucker zum 80. Geburtstag; in: Universität Leipzig, Heft 4/97, S. 11
[47] Personalakte a.o.O. Blatt 24
[48] Deutsche Juristen-Zeitung 1930 Heft 21, S. 1383 f.