Anlagen
- 1. Briefwechsel mit der Familie
- 2. Briefwechsel mit Verwandten
- 3. Briefwechsel mit Juristen
- 4. Briefwechsel mit Freunden und Mandanten
- 5. Ehrengerichtliches Verfahren/Versetzung in den Ruhestand
- 6. Gertrud Landsberg, Briefwechsel
- 7. Gertrud Landsberg, Fotos
- 8. Nachlass Martin Drucker, Manuskripte
- 9. Sonstiges
- Personenregister - Nachlass Martin Drucker
30. Juni 1946
Mein lieber Karl!
Es sieht als kaum erklärlich aus, dass ich Dir solange nicht geschrieben habe, und ich will auch gar keinen Versuch machen, Entschuldigungsgründe vorzuführen. Erwähnen will ich nur, dass ich seit zwei Monaten an Lungen- und Rippenfellentzündung krank war und erst jetzt wieder anfange, versuchsweise auszugehen und einiges zu diktieren.
Du schriebst, dass es Euch gesundheitlich noch gut gehe, dass aber Deine Frau die ganze finanzielle Last des Haushalts tragen müsse, weil Du schon seit sechs Monaten kein Ruhegehalt erhalten hast, obwohl Du nicht Pg. warst. Diese Unbilligkeit hinsichtlich der Pensionen scheint überall zu bestehen. Sie ergibt sich aus der starren Festhaltung des Gedankens, dass das dritte Reich keinen Rechtsnachfolger gefunden hat, so dass seine Verbindlichkeiten von niemandem erfüllt zu werden brauchen. Neuerdings soll hier in Sachsen mit einer Art Ruhegehaltszahlungen wieder begonnen werden. Aber gleichzeitig mit dieser Ankündigung ist veröffentlicht worden, dass diese Ruhegehälter keinesfalls höher sein dürfen, als die Sozialleistungen, die Arbeitern und Angestellten gewährt werden. Meine Schwester Betty als Witwe des letzten vornazistischen Justizministers in Sachsen hat also nunmehr die Aussicht, monatlich ein paar Mark zu bekommen. Ich bin übrigens der Meinung, dass diese Erwägungen bei Dir nicht zutreffen können, denn Dein Ruhegehaltsschuldner ist nicht das dritte Reich, sondern die Stadt Offenbach, und deren Verpflichtung nicht während der Nazizeit, sondern schon lange vorher entstanden.
Zur Beantwortung Deiner Frage nach meinem Ergehen müsste ich weit ausholen. Ich kann nicht annehmen, dass Du im Februar oder März vorigen Jahres noch die Nachricht bekommen hast, dass auch mein Sohn Heinrich noch gefallen ist, und zwar, als die Russen allzu rasch den Deutschen nachdrängten, bzw. letzte infolge der bekannten Widerstandsbefehle sich allzu langsam von ihnen ablösten. Ueber die näheren Umstände von Heinrichs Tode haben wir nichts erfahren. Seine vollständig ausgeplünderte Leiche wurde in einem Strassengraben in Niederschlesien gefunden, die Identifizierung gelang nur dadurch, dass in der Hosentasche Briefe von Ursel sich vorfanden. Als dieses Unglück hereingebrochen war, mochte Ursel nicht mehr mit ihren beiden kleinen Jungen in Aue bleiben, sondern kehrte nach Leipzig zurück, um mit Renate und mir in dem Schicksale verbunden zu sein. Wenige Tage nach ihrem Eintreffen wurde unser Haus in der Schwägrichenstrasse durch Bomben und nachfolgenden Phosphorbrand völlig zerstört. Was an Möbeln zunächst noch herausgebracht werden konnte, ist dann am 6. April in dem Lagerhaus, in dem sie untergestellt waren, gleichfalls durch Bomben vernichtet worden. Ich will zusammenfassend gleich bemerken, dass ich jetzt hier unter lauter geborgten Möbeln und anderen Einrichtungsgegenständen hause, weil alles, was wir besassen, zugrundegegangen ist.
Nach ein paar Wochen der Obdachlosigkeit haben wir uns nach Jena verzogen, wie ich hier mit alsbaldiger Unterbringung in einem Konzentrationslager zu rechnen hatte. Dort waren wir kaum drei Wochen, als der durchaus friedliche Einmarsch der Amerikaner dem Grauen der letzten Kriegsphase ein Ende machte. Kurze Zeit danach wurde ich nach Leipzig zurückgeholt, um hier die Leitung der Anwaltschaft wieder zu übernehmen. Mein Sozius Eckstein hatte inzwischen in einem der beiden Hochhäuser am Augustusplatz Büroräume gemietet, und wir betreiben seitdem die Praxis wieder gemeinsam. Sie ist ganz ausserordentlich umfangreich und hat mich bis zu meiner Erkrankung wöchentlich mindestens siebzig Arbeitsstunden gekostet. Man könnte sich darüber freuen, wenn nicht der Steuermoloch ungefähr 95% der Reineinnahmen aufzehrte.
Ina, von der wir seit Februar vorigen Jahres keine Nachricht hatten, kehrte im Dezember aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück, in die sie in Schlawe verfallen war. Sie war sieben Monate lang als Aerztin in einem russischen Kriegsgefangenenlager in Thorn in Westpreussen und später in Frankfurt an der Oder nur noch kurze Zeit in gleicher Stellung tätig gewesen. Jetzt ist sie hier Aerztin am Kinderkrankenhaus. Renate hatte noch Ende 1944, als die Amerikaner und Franzosen bereits in Strassburg einmarschierten, dort ihr Doktorexamen vollenden können; sie hat jetzt hier einen Lehrauftrag an der Universität und ist ausserdem noch journalistisch für eine Universitätszeitung tätig.
Wie sich die Zukunft gestalten wird, weiss niemand. Von Deinen Geschwistern in Döbeln habe ich schon sehr lange nichts gehört. Ich nehme an, dass Elsbeth und Anna nach Hamburg zurückgekehrt sind und werde mich nächstens einmal darüber bei Frieda oder Erika erkundigen. In meiner weiteren Familie haben sich auch sehr trübe Dinge abgespielt. Bei den grauenhaften Angriffen auf Dresden im Februar vorigen Jahres wurden die von Mansfelds und ihren Kindern bezw. Schwiegerkindern bewohnten drei Häuser mit allem Inhalt gänzlich zerstört. Als Betty mit ihrem Mann durch das Flammenmeer zu entkommen versuchte, wurde er von einem Bobensplitter in die Schläfe getroffen und sofort getötet, während Betty, in der gleichen Weise in der Hüfte, im Rücken und im Bein verwundet, mehrere Tage später in einem Lazarett in der Nähe von Dresden wieder zum Bewußtsein kam. Sie war auf dem Transport überdies vollständig ausgeplündert worden. Nach monatelangem Kranksein ist sie leidlich wiederhergestellt worden und lebt jetzt bei ihrem Schwiegersohn Dr. von Bose, der Amtsgerichtsdirektor in Borna bei Leipzig geworden ist. Ihr Sohn Ernst wurde Ministerialrat in der Dresdner Justizverwaltung. Diese Beförderungen sind eine bescheidene Wiedergutmachung der Zurücksetzung, der alle Glieder unserer Familie in diesen zwölf Jahren ausgesetzt gewesen sind.
Man könnte noch viel erzählen, aber beim Diktieren muss man sich doch gewissen Grenzen setzen. Ich werde Dir sehr dankbar sein, wenn Du mir recht bald schreiben würdest, wie es Dir und Deiner Frau in dem letzten halben Jahre ergangen ist, und Euch beide mit herzlichen Grüssen auch von meinen Töchtern, an Euch beide,
Dein alter Vetter