dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

München – 23, 1.10.1944

Lieber Onkel!

Wenn Du Deinen 75. Geburtstag auch möglichst Inkognito erleben möchtest, so dürfen doch wir Familienangehörigen Dir unsere herzlichen Glückwünsche aussprechen. Wir denken zurück an unsere Jugendtage, wo wir Deinen Rat einholen durften, wo Du in … uns frohe Ferientage vermitteltest und wir erinnern uns dankbar der Förderung unserer beruflichen Ausbildung: in Deinem Studierzimmer, in Deiner glanzvollen Anwaltskanzlei, bis in die letzten Jahre, wenn Du bei Besuchen in Leipzig von Deinen Fällen so lebendig erzähltest. Dass Dir die geistige und körperliche Frische noch viele Jahre erhalten bleibe – allen Widerwärtigkeiten zum Trotz und Deinen Verwandten und Freunden zur Freude und Anregungen – das ist unser herzlicher Wunsch für Deinen 75. Geburtstag!

Herzlichen Dank für deinen Brief vom 24.9! Dass ich im Fall einer Reise nach Leipzig Dich nun nicht antreffen werde, ist eine schlimme Enttäuschung. Für Dein Anerbieten der Vermittlung eines Hotelzimmers herzlichen Dank – aber meine Reis ist doch noch zu ungewiss: ich bekomme nämlich keine Reiseerlaubnis (wie das Polizeirevier mir heute eröffnete) müßte also 5 bis 6 Teilstrecken unter je 100 Kilometer zusammenstoppeln, (von Freitagabend 17:35 ab München bis Sonnabend abends 18:44 an Leipzig). Vorderhand bin ich entschlossen, es zu versuchen; aber ein Hotelzimmer kann ich dafür nicht bestellen, das ist zu unsicher. Noch imaginärer ist natürlich die anschließende Reise nach Dresden zum Besuche des Rekonvaleszenten und unser Mahl.

Von einer sehr anregenden Lektüre muss ich Dir noch kurz schreiben: ich lese jetzt die Lebenserinnerungen von Carl Schurz. Wir haben sie uns schon vor circa 35 Jahren vorgelesen; heute liest man sie mit noch mehr Verständnis. Seine Briefe von seinen Agitationsreisen in Amerika sind packend. Hätte ich diese Briefe vor 7 Jahren gelesen, so würden sie mir vielleicht den Entschluss zum Absprung in die andere Welt verschafft haben. Aber nach diesem Krieg kann man das ja noch nachholen; in diese verlogene deutschnationale Gesellschaft hier (nationalsozialistisch maskiert) werde ich mich nie wieder eingliedern können.

Aber mit solchen persönlichen Anliegen will ich Dich zu deinem Geburtstag nicht behelligen. Ich wünsche Dir einen recht harmonischen Verlauf des Festtages im Kreise Deiner Kinder einschließlich des Enkels und danach – mit neuer Kraft und Frische ins 4. Viertel des Lebens hinein!

Mit herzlichen Grüßen

Dein Neffe Heinrich.