dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

9. März 1946

Herrn
Rechtsanwalt Dr. Kraemer
(13 b) Berchtesgaden
Haus Maria Elisabeth

Mein lieber Herr Kollege Kraemer!

Gerade weil ich mich so ausserordentlich über Ihren Brief vom 16. Dezember, der mich einige Wochen nach derAbsendung erreichte, gefreut habe, hätte ich Ihnen schon längst antworten sollen, wenn mich nicht eine übermässige Arbeitsbelastung und in der letzten Zeit eine zweiwöchige Erkrankung gehindert hätten. Heute endlich benutze ich einen stillen Sonnabendnachmittag zum Diktieren einiger Briefe, die mir sehr am Herzen liegen.
Ich hatte schon von Kollegen (Georg) Benkard davon gehört, dass Sie im Februar vorigen Jahres Leipzig haben und dass Sie aich nicht beabsichtigen, hierher zurückkzukehren. Ob der letztere Entschluss unabänderlich ist, wage ich nicht zu beurteilen, Wenn Sie sich, wie ich hoffe, noch arbeitsfähig fühlen, so würde ich die Rückkehr hierher nicht für verfehlt halten. An Tätigkeit würde es Ihnen nicht mangeln. Am 1. April soll das Oberlandesgericht Dresden wieder errichtet und ein detachierter Senat in Leipzig aufgebaut werden, für den geeignete Anwälte gesucht werden. Benkard, Axhausen und wohl auch Schrömbgens werden um die Zulassung nachsuchen. Ich glaube, dass Sie eine durchaus ausreichende Praxis finden werden. Auf der anderen Seite ist freilich zu bedenken, dass manche Verhältnisse hier wahrscheinlich weniger erfreulich sind als in Berchtesgaden und dass insbesondere die Erlangung einer geeigneten Familienwohnung nicht einfach ist. Ich wage deshalb nicht, Ihnen eine Rat zu geben, und leugne auch nicht, dass mein Wunsch nach Ihrer Rückkehr höchst egoistisch gefärbt ist, weil ich mich tatsächlich nach der Wiedervereinigung mit Freunden aus der grossen und schöneren Zeit sehne.
Meine eigenen Schicksale seit Ihrem Weggang können Ihnen kaum bekannt sein. Mitte Februar erreicht mich die Nachricht, dass auch mein zweiter Sohn, der ältere verheiratete, in diesem verbrecherischen Kriege den Tod gefunden hatte. Am 27. Februar 1945 wurde unser Wohnhaus in der Schwägrichenstraße durch Bomben und Phosphor völlig zerstört, also meine Habe ging zugrunde, was gerettet wurde, ist dann am 6. April in einem Lagerhaus vernichtet worden. Der Obdachlosigkeit halfen zunächst Bekannte ab. Als aber im März meine Einlieferung in ein Konzentrationslager angedroht und vorbereitet wurde, zog ich es vor, mit meiner jüngeren Tochter sowie meiner Schwiegertochter und meinen beiden Enkelsöhnen nach Jena auszuweichen. Von dort wurde ich im Juni nach dem Einmarsch der Amerikaner zurückgeholt und fand sofort eine Praxis, deren Umfang selbst die früheren Jahre meiner Höchstbeschäftigung weit übersteigt. Da ich überdies zum Präsidenten des Ausschusses der Rechtsanwälte und Notare in Leipzig und zum Vizepräsidenten der sächsischen Anwalts- und Notarkammer, die ihren Sitz in Dresden hat, gewählt wurde, bin ich mit einer Arbeitslast ausgestattet, die ich selbst bei einer siebzigstündigen Arbeitswoche nicht zu bewältigen vermag. Mit Eckstein wieder vereint, stehen wir im Begriff, einen unserer früheren Referendare, sobald er als Anwalt wieder zugelassen ist, der schon jetzt bei uns arbeitet, aufzunehmen, und hoffen auch, in nächster Zeit eine tüchtige Referendarin zugewiesen zu erhalten.
Zum Glück kam vor einigen Monaten auch meine ärztliche Tochter aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück, so dass nun meine Familie, soweit sie mir verblieben ist, mit mir vereint lebt. Wir haben in einem schönen Hause, Brandvorwerkstraße 80, eine zwar nicht sehr grosse, aber gut und modern eingerichtete Wohnung inne, deren Verwendungsmöglichkeit leider seit zwei Wochen durch Fehlen von Koks und dadurch herbeigeführte Unbeheizbarkeit recht herabgesetzt ist. Aber über diesen Mangel werden wir hinweg kommen.
Ich bitte, Ihrer verehrten Frau Gemahlin meine besten Empfehlungen zu übermitteln, und bleibe mit freundschaftlichen Grüssen

Ihr ergebener (Drucker)