Anlagen
- 1. Briefwechsel mit der Familie
- 2. Briefwechsel mit Verwandten
- 3. Briefwechsel mit Juristen
- 4. Briefwechsel mit Freunden und Mandanten
- 5. Ehrengerichtliches Verfahren/Versetzung in den Ruhestand
- 6. Gertrud Landsberg, Briefwechsel
- 7. Gertrud Landsberg, Fotos
- 8. Nachlass Martin Drucker, Manuskripte
- 9. Sonstiges
- Personenregister - Nachlass Martin Drucker
8. Juli 1946.
Lieber Herr Jacoby,
Gern hätte ich Ihren, gegen Ende Mai eingetroffenen Brief vom 20. April schon längst beantwortet, ich musste mich aber Anfang Mai wegen einer Lungen- und Rippenfellentzündung legen und kehrte erst in den letzten Tagen in meine Tätigkeit zurück. Nunmehr aber will ich Ihnen meinen herzlichsten Dank für Ihre Mitteilungen aussprechen, die mir von grösstem Interesse gewesen sind und über die ich mich auch wegen ihres Inhalts nur freuen kann. Ich sehe daraus, dass das ganze Haus Jolowicz die Jahre seit der Sitzverlegung gut überstanden hat und dass volle Aussicht nicht nur auf den Fortbestand, sondern auf günstige Weiterentwicklung dieser Lage besteht. Auf Ihre freundliche Frage nach dem Schicksal meiner nächsten Angehörigen muss ich Ihnen leider die schmerzliche Mitteilung machen, dass meine beiden Söhne dem verbrecherischen Hitlerkrieg zum Opfer gefallen sind. Peter fiel im Juli 1942 bei El Alamein in Aegypten, wohin seine Einheit ganz plötzlich von Kreta aus im Flugzeug überführt worden war, um eine durch die Desertion von 2000 Italienern entstandene Frontlücke zu schliessen. Von dem kriegsstarken Regiment kamen aus dieser Schlacht nur 200 zurück. Das Regiment wurde eben einfach hingeopfert, um das Unheil, das in den nächsten Tagen über die ganze deutsche Streitmacht dort hereinbrach, ein klein wenig hinauszuschieben. Mein Sohn Heinrich, der 1941 geheiratet hatte, befand sich mehrere Jahre, schliesslich in dem hohen Rang eines Obergefreiten, bei einer Formation in der Nähe von Radom in Russland. Auch diese Truppe wurde viel zu spät zurückgerufen, als die Russen eigentlich schon dort eingetroffen waren. Heinrichs Leiche wurde in Niederschlesien im Graben einer nach Berlin führenden Strasse aufgefunden. Meine Schwiegertochter mit ihren beiden kleinen Jungen, von denen der ältere im Juli drei Jahre wird, während den eineinhalbjährigen sein Vater nicht mehr kennengelernt hat, führt mir jetzt hier den Haushalt. Meine Tochter Ina, die eine Reihe von Jahren als Aerztin an das Kreiskrankenhaus in Schlawe in Pommern dienstverpflichtet war, geriet dort in russische Kriegsgefangenschaft und wurde mit nach Thorn in Westpreussen verbracht, wo sie allerdings die Stelle eines Stationsarztes in einem dortigen russischen Kriegsgefangenenlager erhielt. Wir wussten nahezu ein Jahr lang nichts von ihr, sie kehrte aber dann Anfang Dezember vorigen Jahres zurück und ist jetzt Aerztin am Kinderkrankenhaus. Meine jüngste Tochter Renate konnte schliesslich ihr zunächst durch die Naziverfügungen unterbrochenes Studium wieder aufnehmen und hat dann an der Universität Strassburg sich den Dr. phil. geholt. Sie ist jetzt gleichfalls bei mir und hat einen Lehrauftrag für Mittellatein und geschichtliche Hilfswissenschaften, ausserdem ist sie journalistisch tätig.
Was die äusseren Verhältnisse angeht, so wurde zunächst in der Nacht zum 4. Dezember 1943 mein Ihnen so gut bekanntes schönes Büro mit allen Akten und der unersetzlichen Bibliothek ein Raub der Flammen. Dr. Eckstein und ich setzten die Praxis in meiner Wohnung fort. Aber schon am 7. Juli 1944 riss eine Bombe einen Teil des Hauses, und zwar den äusseren Teil des Mozartstrassenflügels, weg, in dem sich gerade die Büroräume befanden. Wir zogen uns nach der anderen Seite zurück. Aber am 27. Februar 1945 bei einem der fürchterlichsten Angriffe, die Leipzig erlebt hat, wurde das ganze Haus vollständig zerstört. Da es von oben nach unten brannte, hatten wir Zeit, eine beträchtliche Menge unserer Einrichtungsgegenstände auf die Strasse zu retten. Sie kamen von dort in ein Lagerhaus. Dieses Lagerhaus wurde am 6. April 1945 durch Bomben vollständig zerstört. Um es kurz zu sagen: die Wohnung, die ich jetzt innehabe, ist fast ausschliesslich mit Einrichtungsgegenständen möbliert, die aus acht verschiedenen Haushaltungen zusammengeborgt worden sind, denn Möbel kaufen kann man ja nicht.
Ich persönlich wurde natürlich von den Nazis während aller dieser Jahre weiter verfolgt. Als es aber trotz aller Versuche nicht gelungen war, mich auf dem Disziplinarwege oder durch Strafanzeigen zu Falle zu bringen, wurde ich rechtswidrig in den Ruhestand versetzt, obwohl doch mit freien Berufen der Begriff des Ruhestands ganz unverträglich ist. Nach der oben erwähnten Katastrophe vom 27. Februar 1945 trieben wir uns zunächst obdachlos einige Wochen in den Wohnungen von Bekannten herum. Als ich dann aber erfuhr, dass ich in ein Konzentrationslager abgeschafft werden sollte, begaben wir uns schleunigst nach Jena und wurden dadurch den Blicken meiner hiesigen Verfolger entrückt. Nach etwa dreiwöchigem Aufenthalt dort marschierten kampflos die Amerikaner ein, und wir wurden nun endlich von der ungeheuren seelischen Belastung und der tatsächlichen Bedrohung durch die Bombenangriffe befreit. Nachdem dann auch in Leipzig die Amerikaner eingerückt waren, wurde ich schliesslich zurückgeholt, um die Führung der Anwaltschaft zu übernehmen. Das liegt nun alles schon ein Jahr zurück. Dr. Eckstein und ich sind ganz ausserordentlich stark beschäftigt. Wir haben einen unserer früheren Referendare als Anwalt aufgenommen, ausserdem eine Referendarin und ein recht grosses Personal. Dazu gehörte einige Monate auch Gabriele Anschütz, eine Tochter von Rolf Anschütz, nach dem Sie fragen. Sie ist aber dann wieder ausgeschieden und besucht wieder die höhere Schule, bildet sich aber ausserdem bei (Walther) Davisson, (der allerdings aus dem Konservatorium entfernt worden ist,) als Geigerin aus. Rolf Anschütz ist noch in Kriegsgefangenschaft, wie aber Gabriele, als sie mich kürzlich besuchte, mitteilte, soll nun doch Aussicht bestehen, dass er demnächst hierher zurückkommen kann. Ob er dann wieder zur Anwaltschaft zugelassen werden wird, ist freilich zweifelhaft.
Ich unterlasse es heute, auf die Frage des Rückerwerbs der Akademischen Verlagsgesellschaft und der Buchhandlung Gustav Fock einzugehen, weil ich annehme, dass Ihnen Ihr Schwager darüber bereits berichtet haben wird.
Ihrer verehrten Gattin und Ihnen sende ich herzliche Grüsse als
Ihr ergebener (Drucker)