dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

Berlin den 18.11.1944

Lieber Herr Justizrat!

Ich bin jetzt nun schon wieder 8 Tage im Büro und fühle mich dabei so unglücklich, weil ich mir sage, das ist doch alles zwecklos ist, dass man hier noch so sitzt und arbeitet, wo man sein schönes Heim und die herrlichen Sachen alle verloren hat und das Geld auch keinen Wert mehr besitzt. Wenn wenigstens das Haus unversehrt geblieben wäre. Aber so müsste ich ja mit allem von vorne anfangen, und ich bin zu alt dazu. Die ewige Unruhe ist für mich nichts mehr. Nirgends fühle ich mich sehr wohl, weil ich nichts persönliches mehr besitze und nichts anständiges mehr anzuziehen. Das ist ein Zustand, den erst derjenige einmal empfindet, wenn er selbst nichts mehr hat. Ganz zweifelhaft ist ja auch, ob man das, was man zur Zeit noch hat, noch behält, da die Situation immer ernster wirkt. Die ganze Welt scheint durcheinander zu kommen.

Nachdem in der Schweiz der Aussenminister seinen Posten verlassen hat, scheint auch dort eine Krise in der Regierung einzutreten, da sich dort ebenfalls der Bolschewismus durchsetzen will. Es gibt also infolge der Länge der Kriegsdauer kein Land, das unberührt bleibt. Man versteht bloß nicht, dass gerade das Volk, das sein gutes Auskommen hat, für Bolschewismus ist, man dächte die bisher unberührten Völker hätten an den Ereignissen, die sich bei den großen Nationen abspielen, gelernt, aber das scheint immer noch nicht der Fall zu sein, sie müssen erst alle durch eigenen Schaden klug werden.

Von diesem Land hätte ich es am wenigsten gedacht, dass es boleschwistisch würde, ich verstehe nicht. Dass man dort die Partei groß werden lässt und nicht gleich im Keim erstickt. Man hatte dort versucht, die Beziehungen zu Russland aufzunehmen, und das ist gescheitert, weil die Schweizer Regierung zu wenig russenfreundlich von jeher war. Man sieht eben, dass alle Völker dem Druck Stalins weichen müssen, selbst die grossen Demokratien scheinen hiergegen nicht anzukommen. Dann ist es natürlich mit dem Reichtum und dem Wohlleben der Schweizer auch zu Ende. Mir ist das unverständlich. Was sagen Sie dazu?

Darum stehe ich nach wie vor auf dem Standpunkt, das ist besser ist, wenn man weg ist. Es gibt wahrscheinlich auf der ganzen Erde kein Land, wo es sich friedensmäßig später noch leben lässt und aller Besitztum wird vernichtet oder weggenommen. Das ist einmal so kommen würde, hätte man nicht gedacht. Was nur in die Völker alle gefahren ist, dass sie sich ihr gutes Leben zu vernichten.

Hier sieht es nach wie vor trostlos aus. Arbeit gibt es fast nirgends mehr. Für meine Begriffe ist eine Arbeitslosigkeit gar nicht aufzuhalten. Die meisten müssen in die Rüstung. Mir hätte es bald auch geblüht, als ich kam, aber für mich hat man im Augenblick eine andere eingesetzt; wenn der Krieg noch länger dauert, komme ich bestimmt auch noch dran.

Die Zukunft der Völker ist für allesamt sehr schwarz. Stehen sie mit der Zeit nicht auf meinem Standpunkt, dass es besser ist, sich zu beseitigen? Denn ist es doch alles restlos verloren und gänzlich vor dem nichts zu stehen in meinem Alter, da hats doch keinen Zweck mehr zu leben. Wie gut haben wir es einmal gehabt und die Menschen waren trotzdem nicht zufrieden. Das sieht man wieder bei obigem Land.

Ich sitze hier im Büro, sowie im Zimmer im Kalten, da in ersteren ungenügend Kohlen und bei mir gar keine vorhanden sind. Hunger habe ich auch dauernd, also das Leben ist wirklich sinnlos und ich halte, im Gegensatz zu Ihnen, den Zeitpunkt aus dem Leben zu scheiden, schon jetzt für gekommen. Soll ich auf noch schlechtere Zeiten warten? Ich wüsste nicht warum.

Im Durchschnitt sind die Menschen alle verzweifelt, zumal das Kriegsende immer noch nicht abzusehen ist. Ich finde, die Wirtschaft geht doch vollkommen zugrunde und was dann, wo alles vernichtet ist?

Man hat doch gar keine Freunde mehr. Es gibt doch nichts, was auch noch einigermaßen erfreulich wäre.

Wie geht es Ihnen?

Ich würde mich freuen, bald von Ihnen einmal zu hören.

Mit herzlichen Grüßen

Ihre Hildegard Rohde.