Borna, 19.8.46

Liebe Familie!

Gestattet, dass ich einen Generaldank (falls dieses militärische Wort nicht Anstoss erregt) an Euch richte für die guten Wünsche, die Ihr zu meinem Geburtstage mir übermittelt habt. Sie sind auch insoweit in Erfüllung gegangen, dass ich mein Wiegenfest bei  Bitters sehr angenehm verlebt u. auch mit ihnen während meines 5wöchentlichen Aufenthaltes eine schöne Zeit verlebt habe. Was im Übrigen das neue Lebensjahr noch bringen wird, bleibt abzuwarten, man darf sich nicht grossen Illusionen hingeben. Das obige Datum zeigt mir zu meinem Entsetzen, dass es höchste Zeit ist, Euch zu schreiben, ich habe aber so zeitlos in Dresden dahin gelebt, dass mir meine Versäumnis garnicht zum Bewusstsein gekommen ist.
Seit Freitag bin ich nun wieder hier in Borna gelandet u. von Boses wieder mit alter Liebe aufgenommen worden. Es ist natürlich ein grosser Unterschied sowohl in Bezug auf die Stadt als auch auf die Familie – dort Trubel und Lebhaftigkeit an allen Ecken u. von früh bis spät u. hier Stille u. Beschaulichkeit. In beiden Situationen fühle ich mich jedenfalls stets wohl u. empfinde dankbar die Liebe meiner Kinder. Eine grosse Freude hatte ich, vom guten Conrad, der schon vorher mir einmal geschrieben hatte, fast pünktlich einen Glückwunsch zu bekommen, das erste Mal seit 6 Jahren. Auch er ersehnt ein Wiedersehen, wie wir Alle, wie schön wäre es, wenn man es? noch erleben dürfte.
Es war sehr schade, liebe Ursel, dass aus Deinem u. Michaels Besuch hier nichts werden konnte, wenn ich auch bedauert haben würde, nicht dabei zu sein.
Lottel ist es sehr schwer geworden, Dir absagen zu müssen, aber die Gründe waren zwingend. Das kleine an Diphtherie erkrankte Mädchen ist noch in Lausick im Krankenhaus und die kleinen Geschwister lagen auch mit Mandelentzündung u. hohem Fieber. Auch aus dem Nachbarhaus sind 2 Kinder mit schwerem Scharlach u. Diphtherie nach Lausick gebracht worden, sodass eine Ansteckungssorge sehr begründet ist. Wir hoffen aber sehr, dass bald alle wieder hergestellt sind u. freuen uns dann doppelt auf Euer Kommen, überhaupt über jeden lieben Besuch. Hoffentlich könnt Ihr meine Krakelei entziffern. Der Klemmer hat auf der Reise Schaden gelitten u. ist zur Reparatur, aber bis zu seiner Rückkehr wollte ich mit dieser Epistel nicht warten. Und noch eine Frage an Dich, lieber Martin, könntest Du mir noch einen Füllfederhalter verschaffen? Der arme Teddy ist ganz ohne ein solches Schreibinstrument, denn sein letztes ist am Sonntag bei einem Einbruch in das eben bezogene neue … aus seinem Schreibtisch mit anderen wichtigen Sachen abhanden gekommen. Ich würde ihm gern Ersatz schenken. Leider fühlt er sich heute garnicht wohl, die wenigen Tage in Pillnitz haben natürlich keine Erholung gebracht, die Ernährung ist unterwegs noch schwieriger als zu Haus; hier ist es augenblicklich freilich auch nicht zum Sattwerden, alles Gemüse wandert in die Grossstädte, die auch mit Kartoffeln viel besser daran sind als wir. Aber der Mensch gewöhnt sich an Alles. In dieser Hoffnung will ich mich heute verabschieden. Seid nochmals Alle herzlichst bedankt u. nehmt viele schöne Grüsse von allen Boses u. Eurer alten Schwester, Tante, Schwieger u. Gross = Bettchentante.