Dresden, den 3.X.44

Mein lieber, guter Martin!

Das hatte ich mir nicht gedacht, dass ich am Sonnabend nicht bei Dir sein könnte, ich hoffte im Stillen immer, ich könnte Dir mündlich und mit einem Händedruck zu verstehen geben, was mir mit der Feder nur sehr unvollkommen gelingt und was mein Inneres so sehr bewegt. Aber wir müssen uns der Ungunst der Verhältnisse fügen, und so wünsche ich Dir mein lieber, guter Bruder alles Gute zu Deinem 75. Geburtstage und für die nahe und ferne Zukunft. Alles Gute, das heißt, dass Du mit allen Lieben gesund und vor Schlimmeren bewahrt bleiben mögest und dass Deine guten Kinder und Enkel mit ihrer Liebe und Dankbarkeit Dir das Leben verschönen und Dir Freude bereiten. Wie anders ist doch alles geworden, hättest Du je gedacht, einmal in Aue einen Geburtstag zu verleben? Wie schön aber ist es, dass Du dort sein und vor allem Dich des lieben kleinen Michael erfreuen und seine Lieblichkeit genießen kannst. Ursels Schilderungen in ihren Briefen sind so verlockend, dass man den Gedanken, persönlich Umschau zu halten, nur schwer von sich weist. Mir geht es so, ich wäre von Herzen gern am Geburtstag bei euch, aber ich bin wirklich gänzlich u.k. Gott sei Dank entwickelt sich mein guter Mann immer mehr zum Ex-Patienten. Die Wunden haben sich geschlossen, so dass der Pfleger nicht mehr zu kommen braucht, aber das Thrombosebein muss noch täglich behandelt, geölt, gepudert gewickelt werden, so dass ich nicht fort kann. Mit allen meinen Gedanken bin ich bei Dir, mein lieber Martin, und vereinige mich mit Dir in der Erinnerung an die schönen vergangenen Zeiten, daraus allein schöpft man ja die Kraft zum Leben in der schweren Gegenwart. Und auch das Buch, dass wir für Dich ausgewählt haben, soll Dich zurückführen in glücklichere Tage, soll Dich erinnern an eine schöne Reise mit unserer geliebten Grete, die dort so froh mit Dir war. – Nochmals, mein Martin, sage ich Dir meine innigsten, treuen Wünsche und hoffe, dass Du Deinen Geburtstag so schön verlebst, wie es jetzt möglich ist. Grüße Ursel u. Renate herzlichst, gib den lieben Kleinen ein Küsschen von der alten Großtante und laß Du Dich ans Herz nehmen in alter Liebe und Treue!

Stets Deine Dich innig liebende Schwester Betty