dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

Döbeln/Sa. 21.8.45
Heinrich Heinestraße 12
bei Dr. med. Rößler

Lieber Onkel Martin,

für Tante Elsbeth Wohlfart schrieb ich bereits einen Brief an Dich. Die Kladde liegt bei Stofzens, die Abschrift ging auf die Post und kam hoffentlich inzwischen in Deine Hände. Sicherheitshalber möchte ich aber das Wesentliche für und noch einmal wiederlegen, da ich Gelegenheit habe, einem Bahnbeamten dies Schreiben nach Leipzig mitzugeben. Wir 3 Hamburger sitzen hier 2 Uhr in einer sehr prekären Lage! Döbeln schiebt alle Bombengeschädigten und Flüchtlinge ab, ohne Rücksicht darauf, ob diese tatsächlich sämtlich in den Auffanggebieten unterkommen. Diese armen Menschen sind zum Teil lange ohne Ernährung unterwegs, werden ev. von Lager zu Lager abgeschoben, viele kamen zurück, um dann erneut ins Ungewisse in Marsch gesetzt zu werden.
Bei jeder Lebensmittelkartenausgabe droht uns dasselbe Schicksal, nach vieler Mühe habe ich nun Aufenthaltserlaubnis für uns 3 bis zum 16.9. erhalten, nachdem man uns am 6. ds., nach Verweigerung der Karten ohne jede schriftliche rechtzeitige Benachrichtigung, aus dem Rathaus wissen ließ, wir sollten am 10.8. Döbeln verlassen.
Man wollte uns nach Stendal-Gardelegen abschieben. Aber ohne englisches Wissen kommen wir nicht weiter, und ob der Russe uns durchläßt, ist auch noch höchst unsicher.
Herr Cohn wollte liebenswürdiger Weise einen Brief an Anne-Liese Wunderlich geb. Wohlfahrt nach Hamburg weiter leiten, um diese zu veranlassen, schnellstens ein Visum für uns zu besorgen. Landstraße und Lagerleben ist aus Gesundheitsgründen für uns alle 3 unmöglich, ebenso anstrengende Reisen.

Unsere Personalien wie folgt:
1.)    Elsbeth Wohlfahrt geb. Francke geb. 22.5.1866 in Leipzig, heimatberechtigt in Hamburg, dort noch eigene Wohnung, Hahnemann Straße 17, vermietet auf Kriegsdauer, in Döbeln gemeldet seit 29.7.43, durch … und Hüftleiden sehr körperbehindert
2.)    Anna Reimers geb. Klein geb. 14.9.68 in Leipzig, heimatberechtigt in Hamburg, dort 25.7.43 total bombenbeschädigt, in Döbeln angemeldet seit 29.7.43, durch … und Fußleiden erheblich behindert
3.)    Elsbeth Thieß geb. Reimers geb. 31.7.91 in Hamburg-Wandsbek, heimatberechtigt in Hamburg, dort 25.7.43 total bombengeschädigt, in Döbeln gemeldet seit 29.7.43, durch schweren Herzfehler stark körperbehindert

Wir finden Aufnahme bei Elsbeth Wohlfahrt ev. bei meiner Tochter oder sonstigen Verwandten .. Freunden. Auf ärztliche Gutachten nimmt man hier keine Rücksicht mehr. Ich erhielt den letzten Aufschub auf Grund der in die Wege geleiteten Beschaffung des engl. Visums.
Der hiesige Bürgermeister heißt: „Birnbaum“, der verantwortliche Mann für die Flüchtlingsangelegenheiten: „Friederwald“, selber Flüchtling aus ..berfeld. Umgehen darf man Friederwald nicht, dann fühlt er sich auf den Fuß getreten, außerdem ist er menschlicher als B.
Ob Du uns helfen kannst und willst?! Wir wären froh in Hamburg zu sein und würden lieber heute als morgen die Reise antreten, wenn sie glatt verliefe und uns nicht die Gefahr drohte, in Lagern oder vor den Linien liegen zu bleiben. Ein Übergang über die grüne Grenze dürfte  … den beiden alten Damen kaum möglich sein, zumal ich von den örtlichen Verhältnissen in Stendal keine Ahnung habe. Deinem Hamburger Begleiter wünschen wir gerne eine hohe Entschädigungszahlung. Wir hoffen bald von Dir zu hören!! Viele liebe Grüße den Deinen und Dir Deine Elsbeth Thieß

Verzeih, daß wir Dir Mühe machen.