dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

An den Herrn Oberbürgermeister
– Ernährungsamt –
Leipzig
zu Händen des Herrn Stadtrat Bauer

Als Rechtsanwalt erhalte ich nur die Lebensmittelkarte für Angestellte.
Diese Einstufung entspricht m. E. nicht meiner Arbeitsleistung.
Obwohl ich im 77. Lebensjahre stehe, habe ich eine wöchtentliche Arbeitszeit – ohne Einrechnung der Pausen – von nahezu 70 Stunden zu leisten. Das erklärt sich zunächst am Umfange meiner beruflichen Tätigkeit im engeren Sinne. Die von meinem Sozius Dr. Eckstein, mit dem ich seit 1908 verbunden bin, und mir ausgeübte Anwalts- und Notariatspraxis ist vielleicht die augedehnteste unter allen im Landgerichtsbezirk Leizpig vorhandenen, nicht als Prozesspraxis, aber infolge unserer Inanspruchnahme für aufbauende beratende Tätigkeit und den Abschluss von Verträgen. Wir haben zur Zeit 13 Angestellte; der Eintritt eines weiteren sowie einer Referendarin ist für den 1. April vorgesehen. Ausserdem bin ich genötigt, allabendlich von 8 Uhr in meiner Wohnung einer in Stundenlohn nebenamtlich beschäftigten Privatsekretärin Diktate in Bureauangelegenheiten zu geben.
Ich bin Mitglied, in der Regel Vorsitzender, des Aufsichtsrats mehrerer Aktiengesellschaften. Dazu gehören Betriebe, der Aufrechterhaltung für das Wirtschaftsleben meiner Vaterstadt von erheblicher Bedeutung ist; ich nenne nur die Riebeck-Brauerei, die Leipziger Baumwollspinnerei, die „Vulcan“-Aktiengesellschaft. Unter den heutigen Verhältnissen erfordert verantwortungsbewusste Führung dieser Gesellschaften viel Zeit und Nervenkraft.
Zu alledem kommt hinzu, dass ich sofort nach meiner im Juni 1945 erfolgten Rückkehr von Jena (wohin ich im März übergesiedelt war, um der angedrohten Verbringung ins Konzentrationslager zu entgehen) zum Präsidenten des Ausschusses der Leipziger Rechtsanwälte und Notare und nach Koinstituierung des von der Landesverwaltung eingesetzten Vorstandes des Anwalts- und Notarkammer in Dresden auch zu deren Vizepräsidenten gewählt worden bin. Im Leipziger Ausschuss habe ich ausser der Oberleitung der mit einem Geschäftsleiter, einer Sekretärin und einer Stenotypistin besetzten Geschäftsstelle allwöchtentlich den Vorsitz einer mehrstündigen Sitzung zu führen; als Vizepräsident des Dresdner Kammervorstandes muss ich jeden Monat mindestens einmal an einer Sitzung in Dresden teilnehmen, wodurch stets ein ganzer Tag in Anspruch genommen wird. Aber ich kann mich diesen Ehrenämtern nicht entziehen, denn meine Wahl ist gewissermassen eine programmatische Erklärung der antifaschistischen Anwaltschaft. Vor dem Naziregime bin ich viele Jahre Präsident und zuletzt Ehrenpräsident des grossen Deutschen Anwaltsvereins gewesen; während des Naziregimes bin ich beruflich und persönlich drangsaliert und verfolgt, schliesslich rechtswidrig in den Ruhestand versetzt worden. Die heutige gereinigte Anwaltschaft will von mir so beraten und betreut werden, wie ich den Deutschen Anwaltverein, eines des frühesten Opfer des Nationalsozialismus, geführt habe.
Es liegt mir ferne, zwischen meiner Arbeitsleistung und der durchschnittlichen Beanspruchung anderer, höher eingestufter Berufsgruppen anzustellen. Aber ich glaube nicht unbescheiden zu sein, wenn ich zu prüfen bitte, ob mir nicht eine höhere Einstufung zugebilligt werden könnte.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Justizrat (Drucker)