dr. jur. Hubert Lang

Nachlass Martin Drucker, Briefe und Fotos

11. Juni 1946.

Lieber Gerhard!
Sowohl Ihr Brief vom 11. April mit Poststempel vom 20. April wie auch vierzehn Tage vorher ein erster Brief sind in meine Hände gelangt. Längst wären sie, wenn nicht von mir selbst von den Töchtern beantwortet worden. Ich habe mich aber Anfang Mai, nachdem eine schon seit einiger Zeit bestehende Lungenentzündung röntgenologisch festgestellt worden war, zu Bett legen müssen und darf erst jetzt täglich eine Stunde das Bett verlassen. Dadurch sind natürlich auch die Töchter stark in der Aufrechterhaltung des Briefwechsels behindert.
Frühere Briefe von Ihnen haben wir nicht bekommen, wahrscheinlich sind auch Ihnen unsere letzten Nachrichten, die wohl bis März oder April vorigen Jahres zurückgehen, nicht mehr zugegangen. Wir sind alle sehr erfreut, dass es ihnen in so wundersamer Weise geglückt ist, die letzte Phase des Nazikrieges zu überstehen. Ich leugne nicht, dass, weil von Ihnen gar keine Nachricht eintraf, wir uns sehr ernste Sorge um Sie gemacht haben, die nach den äusseren Umständen doch nur allzusehr begründet erscheinen mussten. Ueber unser Schicksal wird Ihnen Mau das Wesentlichste berichtet haben. Ich erwähne nur noch, dass, nachdem Anfang Februar vorigen Jahres die Nachricht von Heinrichs Tode, richtiger wohl von seiner Ermordung, eingetroffen war, Ursel mit den Jungen von Aue zurückkehrte, um die letzte Katastrophe, die wir erwarteten, mit Renate und mir gemeinsam zu durchstehen. Am 27. Februar vorigen Jahres wurde das Haus in der Schwägrichenstrassse völlig zerstört. Wir waren obdachlos und kamen zunächst verteilt bei Bekannten unter. Ich bemerke gleich abschliessend, dass das, was gerettet worden war, kurz darauf in einem Lagerhaus durch Bomben vernichtet wurde und dass eine Anzahl Kisten beim Spediteur der Plünderung anheimfielen. Nur was wir auswärts ausgelagert hatten, ist erhalten geblieben. Aber die Situation wird am besten durch die einfache Tatsache charakterisiert, dass wir in unserer jetzigen recht guten Wohnung mit Einrichtungsgegenständen, die aus acht verschiedenen Haushaltungen geborgt sind, leben. Wir haben uns ja alle längst von der Gewohnheit an unsere Hauseinrichtung freigemacht, aber Sie, der Sie so viele Jahre lang in der Schwägrichenstrasse ein- und ausgegangen sind, werden sich in die Stimmung hineindenken können, die sich unserer bemächtigt angesichts des vollständigen Untergangs aller dieser liebgewordenen Sachen und Sächelchen.
Weil begründeter Anlass zu der Erwartung bestand, dass die Nazis mich ins Konzentrationslager abtransportieren wollten, entrückten wir uns ihren Blicken, indem wir in Jena bei Bekannten untertauchten. Dort haben wir vom 20. März  bis zum 13. April eine im Verhältnis zu Leipzig erträgliche Zeit verbracht. Mit dem Einmarsch der Amerikaner fiel die seelische Bedrückung durch die fortwährenden Bombenangriffe weg.
Mir wurde schon sehr bald die Nachricht übermittelt, dass ich nach Leipzig zurückkehren soll und müsse, um in den Wiederaufbau eingeschaltet zu werden. Es dauerte aber immer noch bis Anfang Juni, ehe ein Leipziger Auto uns zurückholte. Hier haben wir dann bald die oben bezeichnete Wohnung gefunden, die zwar nur viereinhalb Zimmer und eine große Mansarde enthält, aber so gut eingerichtet ist, dass sie für uns vollkommen ausreicht, zumal sie ja mit Möbeln nicht vollgestellt ist. Ich fand mich bei der Rückkehr als Präsident eines Ausschusses der Rechtsanwälte und Notare vor, den die Amerikaner in geheimer Wahl durch alle nicht faschistischen Rechtsanwälte hatten wählen lassen. Die Tätigkeit im Beruf nahm ich sofort in dem inzwischen von Eckstein gemieteten Anwaltsbüro, das Sie auf beiliegendem Bogen angegeben finden, auf und ich muss sagen, dass ich in meiner ganzen Anwaltspraxis noch niemals dermassen mit Arbeit in Anspruch genommen worden bin wie seit meiner Rückkehr. Ich habe tatsächlich selbst mit siebzig Wochenstunden die Arbeit nicht bewältigen können. Jetzt infolge meiner Krankheit kann man sich nur durch allgemeine Ablehnung neuer Mandate helfen, obwohl wir einen jüngeren Rechtsanwalt, der schon früher Referendar bei uns war, aufgenommen und auch eine Referendarin zugewiesen erhalten haben. Meine Arbeitslast ist noch wesentlich vermehrt worden, dass die Landesverwaltung mich sofort in den Vorstand der sächsischen Anwalts- und Notarkammer Sitz Dresden berief, wo ich seitdem als Vizepräsident eine recht erhebliche Tätigkeit auszuüben habe, die mich bis zu meiner Erkrankung etwa aller vierzehn Tage zu Autoreisen nach Dresden nötigte. Ob ich, wenn es mir besser geht, diese ganze Arbeit wieder auf mich nehmen kann, ist höchst zweifelhaft.
Auf Ihre Frage nach den Töchtern erwidere ich dass Ursel uns den Haushalt führt. Renate hat an der Universität einen Lehrauftrag für geschichtliche Hilfswissenschaften, kann aber im Augenblick noch nicht lesen, weil die geschichtlichen Fächer noch gesperrt sind. Sie hat ausserdem noch verschiedene andere Aufgaben. Ina kehrte im Dezember aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück und ist jetzt als Universitätsassistentin im Kinderkrankenhaus angestellt. Das ist wohl das Hauptsächlichste, was zu berichten wäre.
Hinsichtlich Ihrer Zukunftspläne stimme ich Ihnen darin vollkommen zu, dass eine Rückkehr nach Leipzig sich nicht empfiehlt, solange das Schicksal des Goldmannverlags nicht positiv geklärt ist. Wie es jetzt um ihn steht, habe ich infolge meiner Krankheit nicht erfahren. Wenn er aber nicht in die verschiedenen Kollektive hineinbezogen worden ist, in die man die besten Verlagsfirmen zusammenfasst also beispielsweise die medizinischen Verlage, die naturwissenschaftlichen, die Unterrichtsverlage usw., so wird er nicht wieder auf die Beine kommen können, weil er einfach keine Lizenz oder auch nur Verkaufserlaubnis bekommt. Diese Dinge gehen sehr durcheinander. Ich hatte bis zu meiner Erkrankung sehr komplizierte Verhandlungen zu führen, bei denen ich aber dem Goldmannverlag nie begegnet bin.
Wenn Sie also nicht wieder verlegerisch hier tätig werden können, so wäre es zwecklos, hier Ihre englischen Sprachkenntnisse als Existenzgrundlage verwenden zu wollen. Für solche ist hier ganz geringfügiger Bedarf. Ich muss Sie auch darauf aufmerksam machen, dass Sie doch wahrscheinlich keine Zuzugserlaubnis noch Leipzig bekommen würden. Grundsatz hierbei ist, dass nur diejenigen zurückkehren dürfen, die vor dem 1. September vorigen Jahres zurückgekehrt sind.
Ich bin selbstverständlich gern bereit, Ihnen mit einem Leumundszeugnis behilflich zu sein, und habe ein solches in der beiliegenden Fassung aufgesetzt, die hoffentlich in München als brauchbar angesehen wird. Hier in Sachsen besteht ein sehr eigenartiges Verfahren über einen Ausschuß der Parteien. Wann man etwas erreichen will, muss man sich hinter eine der Parteien stecken.
Ich hoffe aufrichtig, dass meine Zeilen Sie nicht nur bei guter Gesundheit, sondern auch in der tapferen Stimmung antreffen, die aus Ihrem letzten Briefe sprach, und bleibe mit herzlichen Grüssen von uns allen
Ihr getreuer (Drucker)