dr. jur. Hubert Lang

Juden in Leipzig

Das kleine Evchen Abelsohn – Was für ein Leben!

Vergänglichkeit ist etwas sehr Trauriges, werden sie sagen.
- Nein, erwidere ich, sie ist die Seele des Seins,
ist das, was allem Leben Wert, Würde und Interesse verleiht;
denn sie schafft Zeit –
 (Thomas Mann, in: „Altes und Neues“)

Das kleine Evchen Abelsohn – Was für ein Leben!

Nun ist das Befürchtete zur Realität geworden: Eva hat diese irdische Welt verlassen. Sie ist friedlich eingeschlafen und wir gönnen ihr die Ruhe nach einem so langen über alle Maßen erfüllten Leben.
Neben der Traurigkeit über den Verlust eines geliebten Menschen überwiegt in mir ein Gefühl unendlicher Dankbarkeit. Dankbarkeit zuallererst dafür, dass ich Eva ein kleines Stück ihres langen Lebensweges begleiten durfte. Auf diesem Weg wurde aus Sympathie, Zuneigung, Freundschaft und schließlich sogar mütterliche Liebe. So fühlten wir uns immer verbunden, auch wenn der große Teich zwischen uns war. Zum Glück liebte es Eva zu telefonieren. Das taten wir viele, viele Stunden, denn wir hatten immer sehr viel zu besprechen.
Doch wenn ich nun an den Zeitpunkt unseres Kennenlernens zurück denke, so stand da zunächst eine rein formale geschäftliche Beziehung: Eva wurde meine Mandantin. Ich vertrat sie – wie viele andere – bei der Durchsetzung ihres Wiedergutmachungsansprüche gegen den deutschen Staat. Sie war Anfang der 90er Jahre zu mir gekommen auf Empfehlung von Alex Shiner. Alex war ein sehr enger väterlicher Freund und auch für Eva bedeutete er sehr viel, als ihre erste. Liebe in unbeschwerten Kindheitstagen in Leipzig. Hierin lag der Grundstein für alles weitere in unserer innigen Beziehung.
Bei einer ihrer ersten Besuche in Leipzig gingen wir in die Gohliser Straße, dort wie Eva mit ihrem Eltern und ihrem jüngeren schönen (diesen Zusatz vergaß Eva nie) Bruder Peter in glücklichen Kindheitstagen gelebt hatte. Natürlich erinnerte sie sich sofort an den Spruch: „Wem’s zu wohl is‘, zieht nach Gohlis!“ Ich ging solche Wege Anfang der 90er Jahre immer mit sehr gemischten Gefühlen, denn Eva wollte natürlich die elterliche Wohnung sehen. Mich bewegte aber vor allem die Frage: Wer wohnte heute dort und wie würden die neuen Mieter reagieren? In den Zeiten heiß diskutierter Restitutionsansprüche gab es viele Ängste und Misstrauen in der Leipziger Bevölkerung. Und: wer lässt schon gerne wildfremde Menschen unangemeldet in seine Wohnung? Eva kannte ich inzwischen zumindest so gut, dass mir klar war, sie sich nicht so leicht abschrecken lassen würde. Sie war eine selbstbewusste und couragierte Amerikanerin.
Doch das Glück war auf unserer Seite, denn es erwies sich, dass in diesem Haus der frühere volkseigene Betrieb (VEB) Gebäudewirtschaft seine Verwaltung hatte. Aber das eigentliche unglaubliche Glück bestand darin, dass die früheren Nutzer ausgerechnet an diesem Tag ihren Auszug abschlossen. Möbelträger und Handwerker liefen durchs Haus, alle Türen standen offen und die Zimmer waren leer. So gingen wir ungehindert in die frühere Wohnung der Familie Abelsohn. Eva ging ganz aufgeregt durch alle Zimmer und erklärte mir, wie sie damals eingerichtet und genutzt worden waren. Aber das Wichtigste war das Klo (man sagte damals noch nicht vornehm: WC), denn dort hatte die Familie im Wasserkasten vor den Nazis Geld versteckt. Eva war fast versucht, nachzusehen, ob das Geld noch da war. Bei dieser Gelegenheit erzählte mir Eva auch von der Nacht der Polendeportation. Die jüdische Gemeinde rief an, aber ihre Eltern waren nicht zuhause. Es sollten Gemeindemitglieder aufgenommen werden, um sie vor der Abschiebung zu schützen. Eva kümmerte sich also allein darum. Als die Eltern wieder in Leipzig waren, lobten sie Eva. Die Mutter bemängelte nur, dass sie die gute Damastbettwäsche aufgezogen hatte.Bei einem späteren Besuch fuhren wir nach Bernburg, wo ihre Großeltern gelebt hatten. Eva hat dort oft ihre Ferien verbracht. Sie erinnerte sich gerne an diese Zeit. Einmal war ihre Mutter allerdings entsetzt, als sie ihre Tochter in Leipzig wieder in Empfang nahm. Sie hätte sie fast nicht wieder erkannt. Die Großmutter hatte ihre geliebte Enkelin so gut durchgefüttert, dass das kleine Evchen plötzlich gar nicht mehr so klein war.
In Bernburg gab es damals schon engagierte Bürger, die sich um die jüdische Geschichte der Stadt kümmerten. Mit diesen hatte ich Kontakt aufgenommen. Es gab einen exakten Plan des jüdischen Friedhofes mit der Angabe aller Grabstellen. Wir wussten deshalb genau, wo sich die Gräber von Evas Großeltern befanden. Der Plan erwies sich als sehr hilfreich, denn die Gräber selbst existierten nicht mehr. Sie waren Opfer der Verwüstungen geworden. Wir konnten zumindest die Stelle identifizieren, wo die Gräber einmal waren. Damals entstand das historische Foto, welches Eva genau an dieser Stelle zeigt.
Doch der Besuch in Bernburg sollte uns beiden viel stärker durch ein späteres Erlebnis in Erinnerung bleiben. Ich hatte dankbar das Angebot von Herrn Joachim Großert an,  uns durch Bernburg zu führen und etwas zur Geschichte der Stadt zu erzählen. Ich bin heute erstaunt, wie wenig ich damals wusste, denn sonst wäre ich wohl nicht so erschüttert gewesen über das, was wir dann erfuhren. Eva ging es genauso. So standen wir völlig unvorbereitet vor der Stahltür, die zur Gaskammer führte, in welcher die Opfer der Euthanasie so barbarisch zu Tode gebracht wurden. Wir waren erschüttert, fassten uns bei den Händen und uns standen die Tränen in den Augen. Ein unvergesslicher Moment intensiver Nähe. Wir sprachen später noch sehr oft über dieses Erlebnis.
Glücklich vereint waren wir immer, wenn wir gemeinsam Konzerte des Leipziger Synagogalchores besuchten. Ich erinnere mich eines Konzertes im Museum der bildenden Künste in dem Eva so mitgerissen war, das sie ungehemmt mitsang. Einer der ganz großen historischen Ereignisse war das Konzert „Bloch im Hauptbahnhof“ zur Jüdischen Woche 2019 unter der Leitung des von Eva hochverehrten Ludwig Böhme. Auch damals fanden sich unsere Hände in tiefer Ergriffenheit. Heute weiß ich: Es war ein unbeschreibliches Privileg dieses Konzert neben Eva erleben zu dürfen.
Eva war ein Familienmensch, eine typische jiddische Mamme eben. So durfte ich mich als Freund auch als Mitglied dieser Familie fühlen. Doch selbstverständlich galt ihre innigste Liebe ihren beiden Töchtern, Judy und Peggy. Sie war so unglaublich stolz darauf, was ihre beiden Mädchen leisteten und erzählte immer wieder gerne davon. Zu diesen Erzählungen gehörtem natürlich auch die Enkel, Urenkel und schließlich Ururenkel. Eva berichtete mir über die stetig wachsende Familie und die privaten sowie beruflichen Erfolge jedes einzelnen von ihnen. Sie war die geborene Familienpatriarchin und niemand hätte das wohl jemals in Frage gestellt. Ihr Rat war gefragt und geschätzt von der ganzen Familie.
Gerade deshalb gehört Evas Besuch mit ihrer Tochter Judy zu meinen schönsten bleibenden Erinnerungen. Wie schnell sprang die Sympathie und innige Zuneigung zwischen uns über. Judy hat in ihrem Wesen so viel von ihrer Mutter geerbt, doch vor allem ist da ihr feiner Sinn für Humor und Ironie zu nennen. So wichtig wie ihr Judy war, so wichtig war ihr, dass wir uns mochten. Deshalb war sie sehr glücklich, als sie merkte, wie gut wir uns verstanden. Seit diesem Besuch ist die Zuneigung zu Judy auch aus der Ferne gewachsen. Sie besteht, genau wie zu Evas Tochter Peggy, bis heute.
Judy ist auch das schönste Foto von Eva und mir zu verdanken, welches damals auf dem Hauptbahnhof entstand: Eva glücklich lachend, so wie sie mir in Erinnerung bleiben wird. Eva war ein optimistischer Mensch, trotz allem oder gerade deshalb. Vielleicht ist das eines der Geheimnisse ihres langen Lebens.
Nach diesem Geheimnis wurde sie einmal von einem Schüler des Robert-Schumann-Gymnasium gefragt, wie sie mir später lachend erzählte. Eva hatte wieder einmal vor Schülern gesprochen. Es war bemerkenswert wie schnell und selbstverständlich sie den beträchtlichen Altersunterschied zu ihren Zuhörern vergessen ließ. Es sprach nicht die lebenserfahrene Eva Wechsberg, es sprach das kleine Evchen Abelsohn aus längst vergangenen Kindheitstagen. So ist es nicht verwunderlich, dass ein Schüler sie danach ganz unverblümt nach dem Geheimnis ihres langen und so aktiven Lebens fragte. Er wollte das übrigens für seine eigene Oma, die noch lange nicht so alt an Jahren, aber längst nicht mehr so aktiv sei.
Evas Leipzig-Besuche waren auch immer ein Anlass für sie, sich an das kleine Evchen Abelsohn zu erinnern, welches damals in Leipzig so unbeschwert und glücklich war. Stolz – und manchmal auch ein wenig ungläubig – bemerkte sie dann, was aus diesem Evchen Abelsohn geworden ist. Dieser Stolz war mehr als berechtigt. Eva war selbstbewusst und kannte keine falsche Bescheidenheit. Sie wusste, was sie leistet und erreicht hatte. So konnte Eva Würdigungen ihrer Verdienste, die sie nicht nur in Leipzig immer wieder erlebte, mit Freude und Genugtuung genießen.
Dann mag vielleicht auch einmal der Gedanke aufgekommen sein, was aus Evchen wohl geworden wäre, wenn die Nazis nicht alle ihre Kindheitsträume zunichte gemacht hätten. Doch wichtig war für Eva einzig und allein, dass sie die Pläne der Barbaren, zumindest bezogen auf ihre Person, durchkreuzt hatte. Sie überließ der Unmenschlichkeit nicht das letzte Wort.
Die Verbindung zu ihren Freunden aus Kindheitstagen war Eva immer wichtig. Unter diesen fand sie auch eine wunderbare Altersliebe: Benny Safran. Es war wunderbar, die beiden gemeinsam bei einem Leipzig-Besuch erleben zu dürfen. Wir fuhren zusammen nach Grimma und weiter übers Land. Wir sprachen später noch oft darüber. Leider starb Benny, der auch zu meinen guten Freunden gehörte, wenige Jahre später. So auch ihre erste große Liebe, mein väterlicher Freund Alex, den sie durch eine göttliche Fügung noch am Sterbebett in Israel besuchen konnte. Sie erzählte immer wieder von dieser letzten Begegnung.
Doch Eva ließ sich durch diese Verluste nicht den Lebensmut und den Optimismus nehmen. Sie reiste, zu unserer eigenen Überraschung immer wieder zur Jüdischen Woche nach Leipzig. Für ihre Töchter dürften es vielleicht sorgenvolle Tage gewesen sein, wenn ihre fast 100jährige Mutter so ganz allein auf so weite Reisen ging. Doch Judy und Peggy standen noch immer mitten im Berufsleben und hatten auch private Verpflichtungen. Sie wussten aber Eva in Leipzig in liebevoller Rundumversrogung.
Eva machte sich scheinbar keine Sorgen. Aber vor allem: sie nahm anstandslos und jederzeit Hilfe an. Das Flugpersonal kümmerte sich gerne und liebevoll um sie. So ließ sie sich im Rollstuhl von einem Gate zum nächsten fahren. Bei einem ihrem Besuche wartete ich vergeblich am Leipziger Flughafen auf sie. Ich war verzweifelt, denn alle Passagiere waren längst heraus gekommen. Am Schalter bestätige man mir nur, dass alle Passagiere ausgestiegen seien. Ob Eva in dem Flugzeug gewesen sei, könne man mir aus Datenschutzgründen nicht sagen. Ich war verzweifelt, denn ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich fuhr zurück nach Leipzig und hatte keine andere Idee, im Hotel zu fragen, ob dort evtl. eine Nachricht angekommen sei. Ich kam ins Hotel „Steigenberger“, wo Eva damals logieren wollte, und da stand das kleine Evchen Abelsohn und parlierte in ihrem absolut perfekten deutsch mit der Dame an der Rezeption als ob alles in bester Ordnung sei.
Als ich sie verwundert ansprach, fragte sie mich nur, wo ich denn gewesen wäre. Es stellte sich heraus, dass sie mit dem Rollstuhl erst mit großer Verzögerung aus dem Flugzeug kam und man am Schalter scheinbar nicht wusste, dass noch eine Passagierin drinnen war. Was für mich ein großer Schreck war, nahm Eva ganz gelassen. Wohl bei dieser Gelegenheit war Eva der Ehrengast eines Vortrages über den jüdischen Kulturbund, in dem ihr Vater Hans Abelsohn eine führende Rolle gespielt hatte. Eva war auch bei dieser Gelegenheit im Ariowitschhaus voll Stolz, dass auch ihr Vater in Leipzig nicht vergessen ist. Es störte sie nur, wenn der der Name wie Abelson ausgesprochen wurde. Dann musste sie immer insistieren: es heißt Abelsohn!
Und damit berühre ich einen weiteren Charakterzug Evas, der ihr nicht immer nur Freunde beschert haben mag: Sie muss immer und jederzeit die Wahrheit sagen, egal ob es gefällt oder nicht. Ja, auch ich war so manches mal Opfer dementsprechender Bemerkungen. So regte sie sich einmal darüber auf, ich – gemeint waren wir DDR-Bürger – seien so schrecklich unterwürfig. Verdient hatte ich mir diesen Vorwurf, weil ich einem Kellner entschuldigend erklärt hatte, warum ich für den Rollstuhl eine Seitentür geöffnet hatte. Was ich für selbstverständliche Höflichkeit gehalten hatte, kam bei Eva ganz anders an. Doch unserer Liebe zueinander vermochte das keinen Abbruch zu tun.
Es war Eva vergönnt, dass sich ihr Leben im wahrsten Sinne des Wortes rundete. Ihr 100. Geburtstag wurde Anlass für de ganze Familie und ihre zahllosen Freunde auf der ganzen Welt die Jubilarin gebührend zu würdigen und zu feiern.
Sie konnte diese Feier in voller geistigen Frische erleben. Die Vertreter der Stadt überbrachten nicht nur die Glückwünsche des Oberbürgermeisters, sondern auch die der viele Leipziger Freunde, die Eva im Laufe der Jahre gefunden hatte, überbringen. Auch ich konnte ihr auf diesem Wege einen Geburtstagsbrief übermitteln. Wie sehr sie sich über solche Ehrungen ohne allen Schmus freuen konnte, zeigte mir ein weiteres mal ihre Reaktion auf meine Zeilen. Sie war so beglückt und so begeistert, dass sie meine Zeilen übersetzen ließ. Das war nun für mich fast zu viel des Guten.
Zum Schluss steht wieder das Foto von Eva und mir auf dem Leipziger Hauptbahnhof vor meinen Augen und ich denke: Was haben wir gelacht!

Thank you Eva, for every thing!