dr. jur. Hubert Lang

Varia

Asbest in der Deutschen Bücherei?

Zeitschriften sind auch nur Menschen. Wir Leser vergessen das leider allzu oft. Wir halten deren agieren deshalb zumeist für objektiv und nicht von emotionalen und das heißt insbesondere von allzu menschlichen Regungen bestimmt.

Nur ganz selten – zumeist durch ein Missgeschick – öffnet sich die Fassade ganz kurz einen Spalt breit und wir sehen: Der König hat ja gar keine Kleider an, er ist nackt!

Ein bemerkenswertes Beispiel einer derartigen unbedachten Entäußerung konnte ich in der bombastischen Doppelausgabe des Cicero entdecken. In der leuchtendroten Farbvariante gingen der Redaktion offenbar die Ideen aus und man entschloss sich deshalb Fotos und Text aus einem bereits im vorigen Jahr erschienen Bildbandes nachzudrucken. Man könnte diese Seiten deshalb zunächst für eine kostenlose Werbung für den Verlag halten, welcher diesen prächtigen Band herausgeben hat. Praktischer Weise wird auch gleich ein Kupon abgedruckt, der das bestellen des Buches erleichtern soll.

Der Bildband der Fotografin Candida Höfer heißt schlicht und einfach: Bibliotheken. Der Essay stammt vom Umberto Eco.

Was macht nun Cicero daraus? Zunächst einen Beitrag mit dem verheißungsvollen Titel: Orte der Weisheit. War damit die Hoffnung verbunden, dass etwas von dieser Ausstrahlung auf die Redaktion übergehen möge? Wenn ja, war diese Erwartung trügerisch.

Denn plötzlich auf Seite 142 steht der Cicero – wie der Kaiser im Märchen – nackt da. Es ist ein Moment, den wir von Kindern und Betrunkenen kennen, die bekanntlich immer die Wahrheit sagen.

Was ist passiert?

Abgebildet wird einer der kleineren Lesesäle der altehrwürdigen Deutschen Bücherei in Leipzig. Ein beeindruckendes Foto, wie alle anderen auch. Der Leipziger wird sich nur gleich fragen, warum nicht der viel eindrucksvollere Hauptlesesaal gezeigt wurde. Ein solches Foto findet sich durchaus in dem Bildband von Candida Höfer.

Aufschluss über diese Fotoauswahl des Cicero gibt nun die Bildunterschrift:
Klares Design sozialistischer Sachlichkeit: die Deutsche Bücherei Leipzig.

Sozialistische Sachlichkeit also und das im Jahr 1913. In diesem Jahr wurde, wie allgemein bekannt, diese Einrichtung mit der Aufgabe alle deutschsprachigen Publikationen zu sammeln, eröffnet.

Was sich in der Redaktion des Cicero da abgespielt haben mag, ist vielleicht vergleichbar mit dem Pawlowschen (Achtung: Russe!) Reflex: Leipzig = Sozialismus.

Plötzlich ist man zurückversetzt ins Jahr 1989 und die Mauern werden tatsächlich wieder sichtbar. So sieht Leipzig also aus Hamburger Perspektive im Jahr 2006 aus.

Sicher, es hätte noch schlimmer kommen können. Sachlichkeit, immerhin. Es hätte ja auch Ideologie oder Propaganda heißen können. Aber ein Blatt wie der Cicero überzieht natürlich nicht. Man will ja nicht mit der Titanic verwechselt werden.

Aber zu Zeiten, in denen der Leipziger Institution durch einen geschichtsvergessenen Gesetzgeber der Name geraubt wurde (bekanntlich heißt es jetzt offiziell: Deutsche Nationalbibliothek), könnte diese Bildunterschrift auch als der erste Schritt zur endgültigen faktischen Liquidierung der Deutschen Bücherei verstanden werden. Nachdem sich in den Köpfen erst einmal die Gleichung „Deutsche Bücherei = Sozialismus“ festgesetzt hat, ist es bis zu dem Zeitpunkt, in dem Asbest in dem altehrwürdigen Gebäude gefunden wird, vielleicht nicht mehr allzu weit. Was dann passiert, ist hinreichend bekannt.

Wer nach Seite 142 doch noch weiter liest, findet auf Seite 160 das Lamento des Chefredakteurs über die bunte Berliner Republik. Man sieht die wehmütige Betrachtung der Bonner Adenauer-Republik und die neidvolle Verachtung für Schröders Testosteron plötzlich mit ganz anderen Augen.

Da auf dem Titel dieser Ausgabe „unser aller Benedikt“ in leuchtendem Rot (sic!) prangt, darf man wohl lauthals ausrufen: Oh, Herr! Schmeiß Hirn herunter!