Beschlagnahme von Vermögenswerten nach dem Reichsbürgergesetz Zivilrechtlicher Grundbuchberichtigungs-anspruch oder Fortgeltung der „Nürnberger Gesetze“
I. Sachverhalt
Die 6. Zivilkammer des Landgerichts Leipzig hatte sich 1995 mit dem Antrag einer Erbengemeinschaft zu befassen, welcher die Berichtigung des Grundbuches nach § 894 BGB zum Gegenstand hatte (AZ: 6 0 0333/95). Dem Antrag lag im wesentlichen folgender Sachverhalt zu Grunde:
Die Eltern der vier Antragsteller Aron und Klara S. waren seit 1923 Eigentümer des Grundstückes in der N.-Straße 41 in Leipzig.
Wegen ihres jüdischen Glaubensbekenntnisses waren sie nach der Machtergreifung der Verfolgung und Vertreibung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt. Aron S. kam im Konzentrationslager Auschwitz ums Leben. Seine Kinder konnten noch rechtzeitig Deutschland verlassen und sich so retten.1
Am 30. Juli 1943 erfolgte in Abt. I (Besitzer) des Grundbuches folgende Eintragung: „Das Deutsche Reich – Reichsfinanzverwaltung – ist Eigentümer des Grundstücks zufolge Verfallserklärung nach der Elften Verordnung des Reichsbürgergesetzes vom
25. November 1941 (RGBL I, S. 722).“ Bei dieser Grundbucheintragung war es bis zum 31. August 1994 geblieben.
Gemäß der gemeinsamen Anweisung über die Berichtigung der Grundbücher und Liegenschaftskataster für Grundstücke des ehemaligen Reichs-, Preußen-, Wehrmachts-, Landes-, Kreis- und Gemeindevermögens war das Grundbuch mit einem sogenannten Liste C-Vermerk versehen worden. Mit Vermögenszuordnungsbescheid vom 1. September 1994 hatte der Oberfinanzpräsident Chemnitz das Grundstück der Stadt Leipzig zugeordnet.
Die Kläger hatten fristgerecht vermögensrechtliche Ansprüche beim zuständigen ARoV der Stadt Leipzig angemeldet. In diesem Verfahren war zum Zeitpunkt der Klageer-hebung mit beabsichtigtem Bescheid angekündigt, daß eine Restitution wegen einer teilweisen Überbauung (Kindergarten) nicht erfolgt und daher nur Entschädigungsansprüche bestehen.
Die 6. Zivilkammer des Landgerichts Leipzig hat mit Urteil vom 22.03.1995 die Klage als unzulässig abgewiesen. Diese inzwischen rechtskräftige Entscheidung kann nicht unwidersprochen bleiben.
II. Zur Unzulässigkeit des Zivilrechtsweges
Das Landgericht Leipzig begründet seine Entscheidung ausschließlich damit, daß der geltend gemachte Anspruch ein öffentlich-rechtlicher ist und daher nicht vor den Zivilgerichten geltend gemacht werden kann.
Diese Auffassung ist schon insoweit nicht haltbar, als unter ausdrücklicher Bezugnahme auf § 894 BGB die Grundbuchberichtigung beantragt worden war. Dieser Anspruch ist unstreitig ein zivilrechtlicher und insoweit ausschließlich vor den Zivilgerichten geltend zu machen.
Die entscheidende Kammer gelangt zu dem von ihr gewollten Ergebnis nur dadurch, daß sie den Willen und die Motivation der Kläger dahingehend interpretiert, daß diese letztendlich die Restitution des streitgegenständlichen Grundstückes erreichen wollten.
Für eine Interpretation von tatsächlichen oder angeblichen Motivationen ist jedoch im gerichtlichen Verfahren grundsätzlich kein Raum. Die Kammer war vielmehr ausschließlich an den insoweit gestellten Antrag gebunden, welcher zweifelsfrei zivilrechtlicher Natur war. Insoweit entbehrt die Abweisung der Klage als unzulässig der Grundlage und sollte wohl vielmehr die Befassung mit der sachlichen und rechtlichen Begründetheit des Anspruchs entbehrlich machen.
III. Zur Rechtslage nach 1945
Sämtliche Enteignungsakte des Naziregimes auf der Grundlage der Nürnberger Gesetze wurden mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 1 in Artikel I Nr. 1, zumindest für die Zukunft, außer Kraft gesetzt. Ihre weitere Anwendung wurde sogar ausdrücklich unter Strafe gestellt.
Diese Rechtslage wurde durch den Bundesgerichtshof mit seiner Entscheidung vom 28. Februar 1955 (RzW 1955, S. 162) ausdrücklich bestätigt. Hiervon ausgehend wurde den jüdischen Alteigentümern grundsätzlich ein Grundbuchberichtigungsanspruch zuerkannt.
Da die in der höchstrichterlichen Entscheidung vom 28. Februar 1955 vertretene Rechtsauffassung weder später aufgegeben noch sonstwie obsolet geworden ist, ist davon auszugehen, daß seit dem 3. Oktober 1990 auch in den neuen Bundesländern bei gleichgelagerten Sachverhalten ein Grundbuchberichtigungsanspruch besteht.
IV. Zur Rechtslage in der Sowjetischen Besatzungszone
Das Kontrollratsgesetz Nr. 1 galt unstreitig gleichermaßen in allen vier Besatzungszonen. Daß auch die SMAD und die Gerichte und Behörden in der SBZ diese Rechtsauffassung teilten, ergibt sich zweifelsfrei u. a. aus einem dem Verfasser vorliegenden Beschluß des Amtsgerichts Leipzig vom 23. November 1945 (AZ: 120 AR 197/45). Im Zusammenhang mit der Bestellung eines Notvorstandes einer jüdischen Stiftung wurde in der Entscheidungsbegründung festgestellt: „Nachdem das Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935 durch das Gesetz Nr. 1 der Militärregierung in Deutschland in Artikel 1 Absatz 1 i aufgehoben worden ist, ist auch die oben angezogene Durchführungsverordnung vom 4. Juli 1939 weggefallen und die angeordnete Eingliederung unzulässig gewesen. Die Eingliederung der Stiftung ist als nicht erfolgt anzusehen.“
In der SBZ, wie auch in der späteren DDR, gab es bekanntermaßen keine Wiedergutmachungsgesetzgebung. Insofern bedurfte es, abweichend von der Rechtslage in den anderen Besatzungszonen, keiner ausdrücklichen Feststellung des rechtswidrigen Entzuges durch (hier nicht existierende) Wiedergutmachungskammern oder anderweitige gerichtliche Entscheidung.
Den Bestimmungen des Kontrollratsgesetzes Nr. 1 zur Nichtigkeit der Rassen-gesetzgebung der Nationalsozialisten entfaltete zumindest in der SBZ, wie der oben zitierte Beschluß des Amtsgerichts Leipzig bestätigt, unmittelbare Rechtswirkung. Die DDR-Regierung hat dieser Rechtslage auch mit der Anweisung vom 11. Oktober 19612 und unter Berücksichtigung ihres Standpunktes bezüglich der Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches Rechnung getragen.
Deshalb wurden die auf der Grundlage des Reichsbürgergesetzes beschlagnahmten Grundstücke auch in Kapitel C dieser Anweisung (Übersicht über die nicht umzuschreibenden Grundstücke) unter Nr. 1 d erfaßt und grundsätzlich nicht in Volkseigentum überführt.
Eine Überführung in Volkseigentum war auch für das streitgegenständliche Grundstück bis zum Untergang der DDR (trotz der späteren teilweisen Überbauung) nicht erfolgt.
V. Zur Rechtmäßigkeit der Vermögenszuordnung durch die Bundesvermögensverwaltung
Die Vermögenszuordnung durch den Oberfinanzpräsidenten Chemnitz stellte demnach eine faktische Enteignung der jüdischen Alteigentümer dar. Diese Sachlage war aus der insoweit absolut eindeutigen Eintragung in Abt. I des Grundbuches vom 30. Juli 1943 und dem deutlichen Liste C-Vermerk auch offenkundig. Nach dem Dargestellten war die Vermögenszuordnung der Oberfinanzdirektion Chemnitz so grob rechtswidrig, daß hieraus die Nichtigkeit nach § 44 Abs. 1 VwVfG gefolgert werden muß. Nichtige Verwaltungsakte sind unwirksam. (§ 43 Abs. 3 VwVfG)
VI. Zur Anwendbarkeit des Vermögensgesetzes
Da der Enteignungsakt der Nationalsozialisten bereits mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 1 für die Zukunft aufgehoben worden war und die erneute (nichtige) Enteignung durch den Oberfinanzpräsidenten nach dem 3. Oktober 1990 erfolgte, ist der sachliche und zeitliche Geltungsbereich des Vermögensgesetzes nicht eröffnet. Da das VermG hiernach auf den Sachverhalt überhaupt nicht anwendbar ist, konnte die Klage vor dem Landgericht Leipzig auch nicht mit der Begründung als unzulässig abgewiesen werden, daß diese gesetzliche Regelung lex specialis darstelle und in der Folge zivilrechtliche Ansprüche grundsätzlich ausgeschlossen sind.
Darüber hinaus ist es zumindest in anderen Fallkonstellationen zwischenzeitlich auch höchstrichterliche Rechtsprechung, daß neben dem vermögensrechtlichen Anspruch auch zivilrechtliche Ansprüche geltend gemacht werden können.3
Die Rechtsauffassung der 6. Zivilkammer des Landgerichts Leipzig, daß die Geltendmachung vermögensrechtlicher Ansprüche grundsätzlich eine Klage vor den Zivilgerichten ausschließt, steht insoweit auch im Widerspruch zur Rechtsprechung des Landgerichts Leipzig selbst, aber auch der des Oberlandesgerichts Dresden.
VII. Zur Bewertung der Problematik nach völkerrechtlichen Gesichtspunkten
Darüber hinaus ist diese Rechtsauffassung aber auch nicht haltbar, weil sie gegen höherrangiges Völkerrecht verstößt.
Im Rahmen der völkerrechtlichen Vereinbarung mit den drei Westmächten vom 27./28. September 1990 hat sich die Bundesregierung verpflichtet, die Rückerstattung der von den Nationalsozialisten geraubten Vermögenswerte nach den Grundsätzen der Alliiertengesetzgebung und -rechtsprechung durchzuführen.
Abweichend hiervon wurde ausschließlich die Möglichkeit des redlichen Erwerbs nach dem 8. Mai 1945 geregelt, den das Rückerstattungsrecht der drei Westmächte grundsätzlich nicht kannte. Diese Problematik ist jedoch nicht Gegenstand des vorliegenden Sachverhaltes.
Wesentlichstes übereinstimmendes Element der Gesetzgebung der drei Westmächte zur Wiedergutmachung von NS-Unrecht war der absolut unumstößliche Grundsatz, daß der deutsche Staat in keinem Fall Erbe oder sonstiger Nutznießer des Holocaust werden darf.
Durch das Urteil des Landgerichts Leipzig wurde jedoch zumindest mittelbar festgestellt, daß die Bundesrepublik Deutschland mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 rechtmäßiger Eigentümer des Grundstückes geworden sei, über deren Rückgabe dann nach den Regeln des Vermögensrechts entschieden werden könne.
VIII. Schlußbemerkungen
Der Sachverhalt muß bei den betroffenen NS-Verfolgten erhebliche Emotionen auslösen, nachdem diese heute geglaubt hatten, daß die deutsche Regierung ernsthaft und ehrlich um eine vollständige Rückgabe aller geraubten Vermögenswerte bemüht sei.
Müssen Verfolgte des Nationalsozialismus heute tatsächlich, wie die Richter der 6. Zivilkammer meinen, aus Gründen des Rechtsfriedens auf die Geltendmachung ihres Rückerstattungsanspruches gegen den deutschen Staat verzichten?
Hat nach über 50 Jahren stillschweigend doch eine Ersitzung der jüdischen Vermögenswerte durch den deutschen Staat stattgefunden?
Die kritisierte Entscheidung offenbart neben der dargestellten, rein formalen juristischen Problematik eine erschreckende Unsensibilität, die nur mit mangelndem historischem Bewußtsein erklärbar ist.
Auf eine direkte Intervention der betroffenen jüdischen Antragsteller gegenüber dem Oberbürgermeister der Stadt Leipzig als heutiger „Eigentümer“ des streitgegenständlichen Grundstücks ließ dieser den Leiter des Vermögensamtes antworten.
Diese Antwort hat zusammengefaßt sinngemäß folgenden Inhalt:
Wir bedauern, was Ihnen und Ihrer Familie durch die Nationalsozialisten zugefügt worden ist. Der Gesetzgeber läßt der Stadt Leipzig jedoch leider keine andere Möglichkeit, als das (geraubte) Vermögen zu behalten.4 Hierzu erübrigt sich jeder weitere Kommentar.5
PS:
Der Widerspruch gegen die Verweigerung der Restitution des Grundstückes durch das zuständige Leipziger Vermögensamt wurde erwartungsgemäß zurückgewiesen. Eine Klage gegen diese Entscheidung vor dem Verwaltungsgericht erschien den hochbetagten Erben nicht erfolgversprechend.
Für das Grundstück, welches 1995 mindestens 1,0 Mio. DM wert gewesen sein dürfte, sprach die Oberfinanzdirektion den Erben von Aron und Klara S. schließlich mit Bescheid vom 30.03.1998 einen Entschädigungsbetrag in Höhe 289.869,99 DM von zu. So fand 55 Jahre nach der Entziehung und nach achtjährigen Verwaltungsverfahren dieser Versuch einer Wiedergutmachung von NS-Unrecht sein unbefriedigendes Ende.
Überarbeitete Fassung der Erstveröffentlichung:
Zeitschrift für offene Vermögensfragen 1995, S. 351-352 6
- Hierzu: Thomas Müller, Kanadier schockiert: „Leipzig erbt das Grundstück, das Nazis wegnahmen“, Leipziger Volkszeitung vom 20.07.1995
- Abgedruckt in: Fieberg/Reichenbach, Anhang 1, 10 a
- Diese Rechtsauffassung hat der BGH zuletzt auch im Zusammenhang mit den so genannten Mauergrundstücken ausdrücklich bestätigt. (BGH, Beschluß vom 20.01.2005, V ZB 35/04)
- Der Bürochef des OBM meinte dazu, daß der Brief „nicht gerade nett“ formuliert sei.
- Auch vom Bundeskanzleramt, an welches sich die verzweifelten Erben ebenfalls gewandt hatten, erhielten sie ein ablehnendes Schreiben vom 03.11.1995.
- Der Prozeßbevollmächtigte der Stadt Leipzig protestierte in einem Leserbrief (ZOV 1995, S. 446) gegen „die grobschlächtige Art und Weise“ des Aufsatzes.