dr. jur. Hubert Lang

Zwischen allen Stühlen Juristen jüdischer Herkunft in Leipzig (1848-1953)

Mit diesen Ergänzungen und Korrekturen zu den 2014 veröffentlichten Biogrammen sollen Nutzern des Buches neueste Erkenntnisse zu den dargestellten Juristen jüdischer Herkunft zur Verfügung gestellt werden. Die Texte beziehen sich auf die Numerierungen in den Biogrammen im Buch.

Richard Marcus war der Sohn des Industriellen Josef Marcus (1841-1930) und dessen Ehefrau Cäcilie geborene Hepner (1854-1954). Der Berliner LGR Georg Marcus (1848-1915) war sein Onkel. Der Vater war Eigentümer von Sägemühlen und Mitinhaber der Spritfabrik Gebrüder Hepner & Co., die von seinem Schwiegervater Salomon Hepner (1828-1906) begründet worden war. Die Familie verlegte 1901 ihren Wohnsitz von Posen nach Berlin. Die wohlhabenden Eltern konnten den Kindern eine fundierte Ausbildung ermöglichen. Die Vermögenslage der Eltern verschlechterte sich nach dem Ersten Weltkrieg dramatisch, insbesondere weil sie alle ihre Vermögenswerte, die nunmehr in Polen lagen, durch Enteignung verloren.

Richard Marcus hatte drei Brüder: Der Berliner Rechtsanwalt (seit 1904) Dr. jur. Alfred Marcus (1876-1944) wurde mit seiner Ehefrau Opfer des Holocaust. Otto Emil Marcus (1877-1919) studierte zunächst in Heidelberg und anschließend von 1896 bis 1907 an der Philosophischen Fakultät in Berlin. Seit 1907 traten bei ihm erste Symptome einer Nervenerkrankung auf. Er glaubte, der Sohn des deutschen Kaisers zu sein. Im Jahr 1914 begab er sich in das Sanatorium Urach, später wurde Otto Emil Marcus in die Anstalt Kennenberg verlegt, wo er an Tuberkulose starb. Die Beisetzung fand ohne einen Geistlichen statt, da er sich vom Judentum abgewandt hatte und sich als konfessionslosen Freigeist empfand.

Der jüngste Bruder war Dr. phil. Hugo Marcus (1880-1946), der sich nach seinem Übertritt zum Islam Anfang der 20er Jahre Hamid nannte. Er studierte von 1903 bis 1906 an der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität. Hugo Marcus war Schriftsteller und Geschäftsführer der Wilmersdorfer Moschee. Er gehörte zum Freundeskreis von Magnus Hirschfeld (1868-1935), mit dem er sich für die Rechte Homosexueller engagierte. 1938 konnte er durch die Intervention der muslimischen Gemeinde in die Schweiz emigrieren. Dort schrieb er nach Kriegsende unter dem Pseudonym Hans Alienus für die Homosexuellenzeitschrift „Der Kreis“.

Der Historiker Ernst Hartwig Kantorowicz  (1895-1963) war sein Cousin. Seine Mutter Clara K., geb. Hepner war eine Schwester von Cäcilie Marcus geb. Hepner.

Richard Marcus hatte sein Abitur Ostern 1902 am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Posen absolviert. Von 1902 bis 1906 studierte er Jura in Berlin. Bereits 1905 erhielt er den Fakultätspreis für eine öffentlich-rechtliche Abhandlung. Im Jahr 1906 bestand Marcus das erste Staatsexamen mit der Note „gut“. Im Folgejahr wurde er als Referendar an das AG Schmirgel versetzt. Von dort wechselte er an das LG Berlin I. Die Anwaltsstation absolvierte Marcus bei JR Bruno Liebrecht in Berlin. Daran schlossen sich Stationen beim LG und OLG Posen an. Dort legte er am 06.09.1912 das große Staatsexamen mit der Note „ausreichend“ ab. Anschließend wurde Marcus als Gerichtsassessor an das AG Gnesen zur unentgeltlichen Beschäftigung überwiesen (Berliner Börsen-Zeitung vom 24.09.1912, S. 3). Bereits im Oktober dieses Jahres ließ er sich beurlauben, um sich auf seine Habilitation für Kirchenrecht an der Universität Berlin vorzubereiten. Diese Beurlaubung wurde bis 1914 immer wieder verlängert. Als eine weitere Verlängerung der Beurlaubung abgelehnt wurde, beantragte Marcus seine Entlassung aus dem preußischen Justizdienst, die zum 14.07.1914 ausgesprochen wurde (Norddeutsche allgemeine Zeitung vom 26.07.1914, S. 3).

Als Marcus 1909 sein Referendariat am Kammergericht Berlin begann, erklärte er seinen Austritt aus dem Judentum. Am 24.06.1909 verteidigte er seine Doktorarbeit, die von dem Staatsrechtler Prof. Siegfried Brie (1838-1931) als Doktorvater betreut worden war.

Vom Militärdienst war Marcus befreit. Er verzog nach Sachsen, wo er zunächst als Ratsassessor in Döbeln und ab 1917 als besoldeter Stadtrat und stellvertretender Bürgermeister in Mittweida tätig war (Vgl.: Sächsische Volkszeitung vom 17.08.1917, S. 3 und Leipziger Tageblatt vom 18.06.1918, S. 7). Im Jahr 1919 verzog Marcus nach Chemnitz, wo er Stadtrat, Stadtsyndikus und Vorstand des Kriegswirtschaftsamtes war, bis er 1920 zum Amts- und 1922 als Kreishauptmann bestellt wurde.

Am 01.03.1925 wurde Marcus Kreishauptmann in Leipzig. Er bezog die Dienstwohnung am Roßplatz 11, dem Sitz der Kreishauptmannschaft. In Leipzig übernahm er auch das Amt des Vorsitzenden des Verwaltungsrates der König Friedrich-August-Stiftung für wissenschaftliche Forschung.

Schon in Mittweida hatte Marcus das Ehepaar Johanne und Arno Paul kennengelernt. Der Junggeselle wohnte bei ihnen zur Untermiete und Johanne Paul kümmerte sich auch um seinen Haushalt. Als er nach Chemnitz verzog, holte er den Ingenieur Arno Paul in sein Amt als Landesplaner. Das Ehepaar folgte ihm nach Leipzig, wo Arno Paul wiederum in gleicher Position tätig war.

Der Reichskommissar für Sachsen Manfred von Killinger (1866-1944)  erließ unmittelbar nach seiner Übernahme der Landesregierung am 10. März 1933 eine Verordnung, mit welcher der Leipziger Kreishauptmann Richard Marcus mit sofortiger Wirkung beurlaubt wurde. Die Führung der weiteren Geschäfte wurde kommissarisch dem Amtshauptmann Kurt von Burgsdorff (1886-1962) in Löbau übertragen. Diese Verordnung wurde in „Der Freiheitskampf“, dem amtlichen Organ der NSDAP für den Gau Sachsen, in der Ausgabe vom 11./12.03.1933, (S. 7) bekannt gemacht. Marcus wurde nach Inkrafttreten des Gesetzes über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (BBG) am 07.04.1933, vermutlich unter Berufung auf § 3 dieses Gesetzes, zum 01.05.1933 als einer der ersten Beamten in Sachsen zwangsweise in den Ruhestand versetzt. Für ihn galten die Ausnahmeregelungen des BBG nicht, da er weder Frontsoldat noch Altbeamter war. Hugo Marcus schrieb in seinen Erinnerungen, dass sein Bruder Richard bespitzelt und in den Tod getrieben wurde. Ob hierbei auch seine Homosexualität eine Rolle spielte, ist nicht belegt.

Am 28.04.1933 schrieb Marcus an seine geliebte Mutter in Berlin, er dankt ihr für alles Gute und weiter: „Ich scheide freiwillig aus einem Leben, das ich aus ideellen und materiellen Gründen nicht länger fortführen möchte.“

Dem befreundeten Ehepaar Paul übergab Marcus einen Brief, welcher nach seinem Tod an den Leipziger OBM Carl Goerdeler (1884-1945) übergeben werden sollte. Der Inhalt dieses Briefes ist nicht überliefert.

Seiner Hausdame, Frl. Löbner, übergab er ein Testament. Hierin setzte er seinen Bruder Alfred in Berlin, ersatzweise seinen Bruder Hugo, zum Testamentsvollstrecker ein. Aus dem Nachlass sollte zuerst das Guthaben seiner Hauswirtschafterin Frl. Löbner in Höhe von 10.000 RM gedeckt werden. Vom verbleibenden Rest sollten die Beerdigungskosten und offene Rechnungen – u. a. 1.000 RM Restschulden bei der Schneiderfirma Keize in Berlin – bezahlt werden.

Die Beerdigung sollte in „möglichst einfacher, aber würdiger Weise“ im allerengsten Kreis erfolgen. Neben der Familie sollten nur das Ehepaar Paul und Frl. Löbner zur Trauerfeier eingeladen werden. Die Urnenbeisetzung sollte im Urnenhain des Südfriedhofes erfolgen. Ein Geistlicher müsse nicht hinzugezogen werden. Marcus vermachte seiner Mutter eine Büste und ein großes Bild. Frau Paul erhielt ein kleines Bild und ein goldenes Kettchen.

Marcus nahm am Sonntag den 30.04.1933 nach 9 Uhr Veronal ein. Er wurde am darauffolgenden Tag um 7 Uhr noch lebend aufgefunden und ins Krankenhaus St. Jacob verbracht. Dort starb er am 02.05.1933 um 11.15 Uhr. Als Beweggrund für den Selbstmord wurde „Schwermut“ vermerkt.

Die Dresdner neuesten Nachrichten meldeten in ihrer Ausgabe vom 04.05.1933 auf Seite 6: „Der frühere Vorstand der Kreishauptmannschaft Leipzig, Kreishauptmann a. D. Dr. Richard Marcus, ist mit 51 Jahren im Krankenhaus St. Jacob gestorben.

Der Nachlass erwies sich als überschuldet. Die Urne wurde am 08.05.1933 nicht im Urnenhain, sondern im Kolumbarium des Südfriedhofes beigesetzt. Das Ehepaar Paul fotografierte diese Urnennische.

Am 02.05.2023, 90 Jahre nach dem Tod von Richard Marcus, wurde an dieser Urnennische eine Gedenktafel eingeweiht.

© Roßplatz 11, davor der Mägdebrunnen
© Kolumbarium, Südfriedhof Leipzig

© Richard Marcus an seine Mutter
© Richard Macus an seine Mutter
© Schreiben vom 09.04.1912

© Schreiben vom 29.06.1933 an die Mutter
© Abschrift der letztwilligen Verfügung vom 31.03.1933, Bl. 1
© Abschrift der letztwilligen Verfügung vom 31.03.1933, Bl. 2

© in: "Der Freiheitskampf" vom 11./12.03.1933, S. 2

Dissertation:
Der rechtliche Charakter der Generalsynode in der evangelischen Landeskirche Preußens, Breslau 1909 (49 Seiten)

Quellen und bibliographische Nachweise zur Person:
BA Berlin R 3001 Nr. 67574; HSTAD, Akte 12501 Landesverband der höheren Beamten Sachsens e. V., Nr. 395; AG Leipzig, Nachlassgericht, Aktenzeichen: 7 N Reg. Ma. 66/33; Zentralbibliothek Zürich, Nachlass Hugo Marcus; E-Mail vom 09.07.2019 der Sammlung Prinzhorn, Klinik für Allgemeine Psychiatrie Universitätsklinikum Heidelberg (zu Otto Emil Marcus); E-Mails Frau Sabine Hank vom 11.07. und 12.07.2019; E-Mail Dr. Günter Schmidt vom 17.07.2019; Informationen und Fotos von Frau Dr. Bärbel Dathe (Enkelin des Ehepaars Paul)