Anlagen
Verbotene Lektüre
Staatsanwalt Elflein brütete über einem Aktenstück, daß er Weintrauben schwitzte. Da hatte der Buchhändler Garbunkel annonciert. Daß er das interessanteste, spannende, für Kenner unentbehrliche Werk „Was jede Jungfrau vor der Ehe wissen muß!“ illustriert, broschiert, frankiert in verschlossenem Umschlage gegen Voreinsendung von 5 Mark 20 Pfennige ins Haus liefere. Unter anderem hatte auch der Rentier Gotthold Laubacher das Bedürfnis, zu erfahren, was jede Jungfrau vor der Ehe wissen müsse. Also hatte er den Betrag geschickt und postwendend den Buchhändler Garbunkel wegen Betruges angezeigt, denn das gewünschte Buch war – – – ein Kochbuch gewesen, für das der Rentier Gotthold Laubacher nicht die mindeste Verwendung hatte.
Und nun mußte Staatsanwalt Elflein sich den Kopf darüber spalten, ob das Verhalten Garbunkels den Tatbestand des § 263 St.G.B. erfüllte oder nicht.
Hatte Garbunkel durch sein Angebot in einem Dritten , also in Laubacher, einen Irrtum erregt? Oder hatte er einen Irrtum unterhalten? Oder hatte er in Laubacher durch die Fassung des Inserats die Vorstellung erweckt, jede Jungfrau müsse vor der Ehe etwas ganz anderes wissen, als wie man ungarisches Krenfleisch mit Reisnockerln zuzubereiten habe? Und dies einmal als wahr unterstellt – hatte dann Laubacher einen Schaden erlitten, der seinerseits wieder zu einem Vorteil für Garbunkel geworden war? Zu einem rechtswidrigen?
Staatsanwalt Elflein schmiß das Corpus delicti, einen stattlichen gehefteten Band mit einem bunten Titelbild, auf dem ein blühendes Weib dem mit Messer und Gabel ausgerüsteten Gatten einen leckeren Schweinskopf servierte – Staatsanwalt Elflein schmiß dieses appetitanregende Buch knallend auf den äraischen Schreibtisch seines Dienstzimmers. Dann ging er zum Kollegen Säuberlich nebenan.
„Säuberlich,“ begann er, „wenn Sie sich ‘n Buch bestellen ‚Was muß jede Jungfrau vor der Ehe wissen‘ für fünf Mark und zwanzig Pfennig in verschlossenem Umschlag, und Sie kriegen ‘n Kochbuch – was ist das?“
„Eine Gemeinheit!“ erklärte Säuberlich und fuhr fort, die grüne Ekuador durch die Lupe zu betrachten, denn er war eine Kapazität auf dem Gebiete der Briefmarkensammlung.
„So?“ ereiferte sich Elflein, „Sie würden also auch etwas ganz anderes erwarten, wenn – – – – „
„Von mir kann gar keine Rede sein, Elflein“, verwies der Philatelist. „Ich lese solche Bücher überhaupt nicht. Bei Ihnen als Junggesellen ist das was anderes!“
Aber ich hab’s doch gar nicht bestellt!“
„Ja, warum fragen Sie da?“
„Ich soll einen Fall bearbeiten, und – – – -„
„Ach, dann interessiert mich die Sache gar nicht! – Ist doch lädiert, das Luder!“ Mißmutig legte Säuberlich die Lupe auf die grüne Ekuador.
Hier war Belehrung nicht zu finden, und schon erwog Elflein ernsthaft, ob er die Sache nicht dem ihm zugewiesenen Referendar zur Prüfung übergeben solle. Hier wäre Gelegenheit, des jungen Mannes juristischen Scharfsinn auf den Schleifstein zu legen, aber wer konnte wissen, ob der Referendar die Geschichte juristisch auffassen würde? Ob er nicht viel mehr ganz anderen Erwägungen Raum geben würde? Wütend beschied Elflein zunächst einmal durch Postkarte den Anzeigeerstatter Laubacher für den nächsten Vormittag in sein Dienstzimmer. Zwecks Befragung.
Beim Abendbrot war er dermaßen verwirrt, daß er die kleingeschnittenen Würfel der Senfgurke in den Tee schüttete, statt des danebenstehenden Zuckers. Seine Hausdame, Frau verwitwete Kanzleirat Frühling, machte ihn mit milden Tadel auf die Verwechslung aufmerksam, aber Elflein sah sie mit einem Blick an, leer und öde wie die Wüste Gobi. Er versuchte mechanisch, ein Stück Würfelzucker auf dem kalten Schnitzel zu zerkleinern, in der Meinung, nun habe er die Senfgurke unterm Messer.
„Was haben Sie nur, Herr Staatsanwalt“ Sind Sie krank?“ fragte die Frühling besorgt. Sie war eine stattliche, zur Fülle neigende Dame von immer noch 45 Jahren, und sie nährte am Busen die linde Hoffnung, dermaleinst an der Seite Elfleins die Stellung einer Hausdame mit der einer Hausfrau zu vertauschen.
Der Staatsanwalt klappte die Kiefern zusammen, daß es ihm wehe tat, legte Messer und Gabel beiseite und pflanzte seinen rechten Zeigefinger vor der Frühling Nase auf.
„Frau Kanzleirat,“ begann er, „hören Sie zu – nehmen Sie sich zusammen! Ich habe eine Frage an Sie zu richten, deren Beantwortung einerseits die intellektuellen Kräfte verlangt, andererseits aber auch wohl das Empfinden gerade einer feinfühligen Frau nicht unbeteiligt lassen kann!“
„Otfried!“ flüsterte Frau Frühling, um es ihm leichter zu machen, denn – kein Zweifel – jetzt kam die Schicksalsfrage, der sie schon vor zwanzig Jahren einmal entgegengebangt hatte. Und auch damals hatte sie ein bißchen nachgeholfen und „Friedrich“ gestammelt.
Aber der Staatsanwalt hatte nichts gehört. Er fuhr fort:
„Haben Sie vor Eingehung Ihrer ersten Ehe gewußt – ich meine, war Ihnen Näheres bekannt – was – nun ja – dem Reinen ist alles wurscht – ich meine – Sie verstehen – ja also – war Ihnen damals gegenwärtig, was eine Jungfrau vor der Ehe wissen muß? – Heraus mit der Sprache!“ donnerte er plötzlich, teils aus Verlegenheit, teils in der Meinung, einen verstockten Sünder vor sich zu haben.
Aber Frau Frühling war gar nicht verstockt. Sie errötete fleckig und lispelte schämig:
„Nein, Herr Staatsanwalt, damals nicht – – – aber jetzt ja!“ setzte sie hastig hinzu.
„Jetzt ja?“ murmelte Elflein und krallte sich in den rötlichen Spitzbart, der von seinem Eichhörnchenkinn herabhing wie eine ausgekämmte Rübe. „Und woher haben Sie diese Wissenschaft? Aus Büchern?“
„Aber Herr Staatsanwalt!“ Frau Frühling war erschüttert.
„Ich meine doch nur. Also nicht aus Büchern? Gut! Das wäre festzuhalten. Ich frage weiter – – überlegen Sie sich aber genau, was Sie sagen!“ – er schrie plötzlich wieder, krapprot im Gesicht. „Würden Sie sich ein Werk ‚Was jede Jungfrau vor der Ehe wissen muß!‘ anschaffen? Illustriert? Für fünf Mark und 20 Pfennig. Per Nachnahme! Nun – Antwort!“
„Aber, Herr Staatsanwalt – wo ich’s doch nu schon weiß!“ Frau Frühling fand diese Brautwerbung merkwürdig.
„Was wissen Sie?“
Frau Frühling erhob sich, ging zu Elflein und wisperte ihm etwas ins Ohr.
„Aha!“ machte der Staatsanwalt. „Es ist gut! Kitzeln Sie mich nicht mit Ihrer Lippenwarze am Ohr. Also doch! Danke! Die Sitzung ist geschlossen!“ Und er erhob sich und ging in sein Arbeitszimmer, während Frau Frühling staunte, wie der geschorene Pudel, als er sich im Spiegel sah.
Elflein aber wußte: Hätte Frau Frühling den lockeren Garbunkel angezeigt, so wäre der Tatbestand des § 263 StGB, restlos erfüllt gewesen. Mindestens subjektiv.
Andern Tags, erschien Herr Laubacher, ein älterer Herr, hager, cholerisch und mit der Medaille für Erfolge im Tontaubenschießen geschmückt. Er war Versicherungsinspektor, 58 Jahre alt, freireligiös, ledig, nicht vorbestraft und bezog Unfallrente wegen eines Falles vom vierten Stock ins Souterrain.
„Sie fühlen sich betrogen?“
„Hm, ja, gewissermaßen in der Tat!“ gab Herr Laubacher zu und quetschte den braunen Handschuh, den er ausgezogen hatte, zu einer Halberstädter Delikateßwurst.
„Warum?“
„Nun – eh – ich – meine – wenn ich, und ich bestelle ein Buch unter so feinpikantem Titel, ich habe gedacht – – -„
„Sind Sie Jungfrau?“
„Nein, Herr Staatsanwalt, Gott behüte! Hähä – im Gegenteil –„
„Wollen Sie heiraten?“
„Gott behüte noch einmal, Herr Staatsanwalt – im Gegenteil –„
„Sie hätten also aus dem inkriminierten Werk nicht den mindeste Belehrung erhalten können, selbst wenn – – -„
„Nein, Herr Staatsanwalt, auf dem Gebiete nicht mehr!“
„Gut!“ Elflein rieb sich innerlich die Hände, der Fall entwirrte sich. „Können Sie kochen?“
„Durchaus gar nicht! Ich speise im ‚Grünen Leu‘!“
„Also hätten Sie sich aus dem Buche belehren können, falls es in Ihrer Absicht gelegen hätte, etwas kochen zu lernen?“
„Zweifellos. Ich habe in dem Buche geblättert – wenn einer nur kochen lernen will, der kommt schön auf seine Kosten!“
„Danke! Adieu!“
Und Staatsanwalt Elflein stellte das Verfahren gegen den Buchhändler Garbunkel ein, „weil nach der eigenen und glaubhaften Angabe des Verletzen selber das beanzeigte Werk in seiner Eigenschaft als Kochbuch von hohem und preisentsprechendem Nutzen sei, ansonsten aber der Verletzte nicht einmal dann einen Vorteil gehabt haben würde, wenn der Inhalt ein seinen Erwartungen entsprechender gewesen wäre!“
„Sehen Sie, Frau Kanzleirat,“ meinte der Staatsanwalt, als er seiner Hausdame beim Mittagstisch gegenübersaß, „Ihre Auffassung über die Kenntnisse vor der Ehe beruhen auf einem beklagenswerten Irrtum!“
„Jawohl, Herr Staatsanwalt,“ zornbebte die Witib, „und ich gehe zum ersten!“