dr. jur. Hubert Lang

Hans Bachwitz

Nicht ohne schwere Bedenken trat in das Arbeitszimmer des Professors Traugott Hermann Nägler ein. Der bedeutende Mann empfing mich, jeder Zoll ein Abiturientenexamen, in dem spartanischen Raum, der die Welt seiner Gedanken ist. Am gardinenlosen Fenster stand ein Katheder. Ihm gegenüber eine einfach Schulbank für Besucher. In den vier Ecken befanden sich ein etwas ramponiertes, offenbar steinalt gekauftes menschliches Gerippe zu Demonstrationszwecken, ein etwas lausig gewordener, sonst aber tadellos ausgestopfter Marabu auf einem Bein, ein Globus und ein Stück Felsen aus Gips, der noch von der Akropolis stammte. Die Wände schmückten Traugott Näglers Klassenzensuren unter Glas und Rahmen, einige silberbeschlagene Rohrstöcke. Dedikationen dankbarer Schüler, und ein Jugendbildnis Traugotts, das bereits die charakteristischen Züge des deutschen Lateiners trug, wie ihn sich Cornelius Repotz gedacht haben möchte.
Der bedeutende Schollarch empfing mich, am Katheder lehnend und in der Haltung des Mucius Scaevola, bevor er die Hand ins Feuer legte. In der linken Hand hielt er ein etwas verbogenes Rohrstöckchen, mit der rechten liebkoste er den einen Zapfen seines fulminanten, echt feuervergoldeten Wotansbartes.
„Setzen!“ rief er mit väterlicher, aber nicht unsympathischer Stimme, und ich sank in die Schulbank, keinen Blick vom Haupte Traugotts wendend.
Ja – das war er leib- und lebkuchenhaftig. Das war der Mann, der aus meiner Jugend eine lateinische Syntax gemacht hatte und aus meinen Flegeljahren die Verba auf mi. Wie gesagt: jeder Zoll ein Abiturientenexamen. Der eiskalte Schweiß kroch mir in dicken Schwaden über die angstvoll gerippte Stirn, und ich erinnerte mich schaudernd, daß ich niemals meinen Horatius Flaccus präpariert hatte.
Aber ich war ja gekommen, um von Traugott Nägler Genaueres über sein Leben zu erfahren, mit besonderer Hinrichtung auf das merkwürdige Phänomen, das er mit einer „toten Tante“ gehabt hatte. Man weiß, daß diese „Ergötzlichkeit“ jetzt alle Theater vollmacht.
„Wann, Herr Professor, sind Sie geboren?“
„Sie wollen fragen,“ korrigierte Traugott und jeder Blick war ein roter Balken, „wann ich geboren wurde. Nun denn, ich erblickte das Licht der Welt in den Iden des Martius eintausendachthundertachtundachtzig nach Christi Geburt zu Breslau, jener dermaleinst – ante homium memoriam – Wratislaw genannten Stadt. Richtiger aus der einen Tagesmarsch entfernt liegenden kleinen Gemeinde …, welcher Religion ich nun denn auch teilhaftig bin.“
„Und Sie waren von Anfang an Pauk – – eh – – Lehrer?“
„Nequaquam! Keineswegs. Ursprünglich dem Kaufmannsstande geweiht, glückte es mir schon in der Jugend so gewaltige Proben meines Talents zu geben, daß ich bald in der ersten Reihe meiner Zunftgenossen – inter triarios – stand.“
Professor Traugott Nägler arbeitet bekanntlich auch noch unter dem Pseudonym Herbert Hübner in der Ratsfreischule „Altes Theater“, wo er seit Jahren mit Erfolg das Charakterfach lehrt. Hier gedachte ich, einzuhaken.
„Befriedigt Sie Ihre Tätigkeit im Alten Theater, Herr Professor?“ fragte ich, nachdem ich den Finger erhoben und Traugott mit gütig das Reden gestattet hatte.
„Aliquando est insanire iucundum est!“ erwiderte er, „übersetzen Sie!“
Ich erhob mich und stammelte: „Hin und wider macht auch der Wahnwitz Vergnügen!“
„Unreifer Bursche!“ donnerte mich Traugott an und die Klemmergläser funkelten böse. „Merke auf: süß ist’s zu tollen – zu rechter Zeit! So lautet die
deutsche Übersetzung, an der es dir gebrach. Aber fürwahr, ich sehe wieder einmal, daß Deine geistige Nahrung des attischen Salzes mangelt. – Setzen!“
Ich gehorchte und faltete die zitternden Hände. Nägler Hübner wandelte indessen im Zimmer umher, die Rechte unter den Schoß des Gehrocks gelegt und den Spitzbauch gleich einem mit Falerner gefüllten Weinschlauch vor sich herschwenkend.
„Was ihre Frage anlangt, Bachwitz,“ ließ er sich vernehmen, „so sagt schon Juvenalis Dreimus Junius um 60 – 140 n. Chr. in Aquarimum – „vitam impendere vero.“ Sein Leben der Wahrheit weihen! Ja – wahrlich – gern gestehe ich’s: glückhaft die Zeit des Alten Theaters. Nicht ohne Wehmut – non sine delore – werde ich von dieser erhabenen Stätte scheiden, die mein Genius geadelt hat und von der schon der unsterbliche singt:  Exegi monumentum aere perennius. Welcher unsterbliche Dichter liegt mir da wohl auf der Zunge?“
Ich sank zu nichts zusammen.
„Nun?“ Er trat näher, und sein heißer Atem hauchte mich an, „welches erhabenen Dichters kann ich wohl eingedenk zu sein nicht umhin?“
„Courths-Mahler,“ bibberte ich und duckte den Kopf, so daß die mir zugedachte Backpfeife den Marabu traf, der sofort eine Riesenstaubwolke von sich blies.
„Horratius Flaccus, Ignorant!“ dröhnte Nägler-Hübners Baß aus der Wolke, gleich dem des beleidigten Zeus, wenn er auch die Achaier Gas abblies. „Wahrlich,“ und Traugotts Hände flatterten beschwörend empor, „was soll man dazu sagen – quidquod -, daß ein deutscher Jüngling seiner größten Dichter so wenig teilhaftig ist? Pfui, Potz! Des lach ich!“ Und gräßlich schwoll sein Lachen aus des Bauches Schlünden, daß sogar das Gerippe Furcht bekam und mit den Knochen rasselte. „Zur Strafe schreiben Sie fünfzigmal: Ich habe nicht gewußt, daß Horatius Flaccus dem Traugott Nägler ein Denkmal errichtet hat, dauerhafter denn Erz. Fünfzigmal! Von vorn und von hinten. Auf Stempelpapier! Setzen!“
Ich war aber gar nicht erst aufgestanden gewesen.
„Ja – gern wäre ich bis an mein Lebensende dem Katheder am Fleischerplatz treu geblieben!“ fuhr Nägler-Hübner besänftigt fort, „und ich habe meinem verehrten Vorgesetzen Herrn Konrektor Dr. (Guido) Barthol davon Kenntnis gegeben. Heu me miserum. Es scheiterte am Honorar, und wenn ich auch aus den Schriften der Alten gelernt habe, mich zu bescheiden und die Freuden des Lebens im eitlen Tand und in der Wollust des Leibes – in rorporis voludate – sondern in den süßen Früchten der Wissenschaft zu suchen, so halte ich es hier doch mit meinem Juvenal, der da singt: „occidit miseros crambe repetia magistros!“ Oder zu Deutsch, da Sie es ja doch nicht übersetzen können: „Stets wieder aufgewärmter Kohl tötet die armen Pauker!“ Ja – hier erkennen wir so recht die  ewige Gültigkeit unserer Dichterworte: Nichts wie Kohl – davon kann auch ein Schulmeister nicht fett werden. Ich habe zwölf Kinder zu ernähren und was der Zukunft Schoß noch birgt, das ahnt keiner, da heißt es sich tummeln, da heißt es kräftig Arme und Beine regen, da heißt es, ein ganzer Mann sein – homo trialis -, und so habe ich mich denn ans Thaliagymnasium zu Hamburg versetzen lassen, weil mir Herr Konrektor Dr. Barthol und das andere Lehrerkollegium nichts zulegen wollte. – Wischen Sie sich nicht die Nase, wenn ich rede!“ donnerte er plötzlich wieder jähzornübermannt und griff nach dem Rohrstock.
„Es ist doch nur die Wehmut über Ihr Abscheiden, Herr Professor,“ schluchzte ich laut, „die treibt mir das Wasser in die Nase!“
„Sei’s drum!“ besänftigte sich Nägler-Hübner und schlug dem Marabu eins auf den Schnabel, „da sie ernsthaft bereuen – sei’s drum!“
„Herr Professor!“ wehklagte ich laut, „Herr Professor, bleiben Sie bei uns! Gehen Sie nicht nach Hamburg ans Thaliagymnasium! Ich spreche hier im Namen der ganzen Klasse. Wir haben Sie doch so furchtbar gern.“
Sichtlich gerührt trocknete sich der große Mann eine … mit dem rechten Bartwisch.
„Ziehen Sie in Frieden!“ sagte er milde und legt mir die Linke segnend auf’s Haupt. „Recht wie Engelsmusik tönten Ihre Worte in mein Ohr auf fruchtbaren Boden fallend. Mögen Sie auch – nicht gestattet ist es hieran zu zweifeln num dobito quin – ein erbärmlicher Lateiner sein, so sind Sie doch ein guter Leipziger, und dieses dünkt mich fürwahr kein Geringes. Gehen Sie denn jetzt, eilen Sie in großen Tagemärschen von hinnen und verkünden Sie auf der Agora, auf dem Markte, daß ich nochmals mit dem gesamten Lehrerkollegium beraten werde, wie in dieser wahrlich nicht geringen Sache das Heil der Stadt am besten zu lenken sei. Gewißlich bin ich ein Mann, mit dem sich reden läßt, aber – Sunt certi domique fines! Alles hat seine Grenzen!“