dr. jur. Hubert Lang

Hans Bachwitz

Seit einigen fünfundneunzig Jahren – es kann länger sein – verbindet den (Guido) Thielscher der Leipziger Operette und mich eine innige, durch keine persönliche Rücksichtnahme belastete Freundschaft. Wir stehen so gut miteinander, daß wir uns ungekränkt die zartesten Grobheiten und die unverblümtesten Liebenswürdigkeiten sagen, ohne daß wir deshalb auch nur eine Viertelstunde böse gewesen wären. Als mich nun die verehrliche Schriftleitung dieser Zeitung unverbindlich fragte, Rudi Gfaller zu interpfuien, schlug ich mit Freude in das angebotene Honorar ein und erklärte mich bereit, mit allen zehn Fingern in die Erika zu greifen. (Um Mißdeutungen vorzubeugen, betone ich, daß „Erika“ eine Schreibmaschine ist.)
Ich traf Rudi Gfaller im Bett an. Er hatte Zahnschmerzen. Ein Laken war um sein Haupt gewickelt, und er wimmerte wie ein Wurf neugeborener Karakullämmer, die sich schon als neueste Damenmode sehen. Aus dem Nebenzimmer klang die Stimme von Therese Wiet, mit der Rudi in zahmer Ehe lebt, und die zu heftigen Blüthner-Flügel-Schlägen einige Chansons für ihren Vortragsabend einübte. Auf der Schwelle saß der Familiendackel, eine merkwürdige Mixtur von Zwergbernhardiner und Riesenbologneser und bellte mich an, während ich aus der Küche die sympathische Stimme der Frau Bloch hörte, die in jenem Hause die Rolle der Frau Schwiegermutter dreht, und die Schnadahüpferln und andere Gstanzln sang. Es war ein Bild tiefsten Friedens.
„Rudi!“, sagte ich, „grüß dich Gott!“
Hier ertönte aus dem Laken die bekannte Floskel des Herrn Curt Götz von Berlichingen“
„Du mußt das nicht sagen“, verwies ich ihn milde, „denn ich komme in einer sehr ernsten Angelegenheit!“
„Wieviel?“ fragte der Patient und griff nach der Brieftasche unter dem Kopfkissen.
„Davon reden wir später. Jetzt handelt es sich – – warum läßt du dir den Zahn nicht ziehen?“
„Welcher Zahn, du Trottel?“
„Nun, den kranken. Du leidest ersichtlich an Zahnweh!“
„Etwas mehr Phantasie hätte ich dir schon zugetraut. Ich bin gestern bei der Probe zu ‚Die Perlen der Cleopatra‘ in die große Trommel gefallen und habe mir das linke Ohr verstaucht.“
„Dulce et decorum est, pro Cleopatria mori!“ zitierte ich und fügte hinzu: „Trommeln und Pfeifen kriegerischer Klang!“
„Ich spiele niemals Trommeln und Pfeifen, ich spiele überhaupt nicht!“
„Nun, Theater – – -„
„Von dem wird nicht geredet!“
„Grade davon wird geredet. Ich soll dich interviewen. Ich soll interessante Züge aus deinem Leben an die Öffentlichkeit zerren!“
Hier winkte Rudi erregt ab, warf einen mißtrauischen Schielblick nach der Tür, hinter der Therese Wiet soeben den neuesten Schlager sang: „Mein Leipzig lob ich mir, es ist ein James-Klein-Paris und bildet seine Leute!“
„Red nicht von Privatsachen! Meine Frau denkt immer gleich wunder was!“
„Wo bist du geboren?“
„Im Bett, du Affe!“
„Und wo stand dieses Bett?“
„In einer Schlafstube. Du willst mich wohl frozzeln?“
„Nichts liegt mir ferner. Ich will nur wissen, wie die Stadt heißt – – -„
„Ach so! Warum hast du das nicht gleich gesagt? In Wien natürlich!“
„Ganz bestimmt?“
„Warum?“
„Weil die meisten Wiener aus Przmys gebürtig sind!“
Rudi drehte sich wortlos um und ich sah längere Zeit nichts von ihm als das Gartengebäude. Nachdem ich ihn besänftigt hatte, gelang es mir, zu erkunden, ob er schon bei seiner Geburt ein Wunderkind oder sonst durch ein Mißverständnis für die Bühne bestimmt gewesen sei.
„Ich sollte Piccolo werden. Mein Vater meinte, ich könne bis an mein Lebensende Piccolo bleiben. Weil ich so klein war. Aber ich brannte durch und spielte in einer Kinderoperette den alten Großpapa. Damit fing es an.“
„Fahre fort, ich bin ganz Stenogramm!“
„Eine Reihe von Jahren zog ich mit Schmieren durch die Dörfer. Da habe ich alles gespielt. Sogar die Jungfrau von Orleans, bevor sie zum Militär ging. Auch das Käthchen von Potschappel – -„
„Heilbronn!“
„Es war Potschappel. Wenn du‘s besser weißt, dann interviewe mich nicht.“
„Welches war dein erstes richtiges Engagement?“
„Am Sommertheater in Cöthen. Wer niemals Schillern und Cöthen verehrt, der ist es nicht wert, daß die Kunst ihn erhört. In Cöthen spielte ich den Kornet in dem „Piccolomini“. Du weißt, das Stück, wo die vielen Piccolos vorkommen.“
„Das wird dir gelegen haben!“
„Mir liegt alles. Besonders du! Im Magen!“
„Es ist mir eine Ehre.  Weiter!“
„Dann kam ich nach Stettin. Mit 80 Mark Monatsgage. Und dann gings nach Ölmütz.“
„Wegen der Käse?“
„Nein, wegen (Max) Pallenberg. Der war nach Berlin engagiert worden, und ich wurde sein Nachfolger.“
„In Berlin?“
„In Ölmütz. Sollte es zwei Pallenberge in Berlin geben?“
„Du scheinst dich bei dem Sturz in die große Trommel ernstlich verletzt zu haben. Wann kamst du nach Leipzig?“
“Nach Ölmütz.“
„Was hast du in Leipzig erlebt?“
„Ich habe mich verheiratet!“
„Das kann jedem zustoßen. Ich meine, was du, Rudi Gfaller, erlebt hast? Du bist der blödeste Interviewling, der mir je unter die Hände geraten ist!“
„Ich habe Operette gespielt. Alle Operetten, die jemals geschrieben und abgeschrieben wurden, habe ich gespielt. Wenn du bloß gekommen bist, um das zu erfragen, tut mir die Redaktion leid.“
„Das ist Sache der Redaktion, und ich rate dir, die Presse nicht zu brüskieren. Fühlst du dich glücklich?“
„Nein. Mir tut der Kopf weh. Die große Trommel war nicht gefüttert.“
„Ich meine, ob du dich in Leipzig glücklich fühlst?“
„Willst du das drucken lassen?“
„Feste!“
„Da fühle ich mich sehr glücklich.“
„Weil ich dich grade so schön auf der Leinwand liegen sehe – hast du auch gefilmt?“
„Natürlich. Aber ich hab’s aufgegeben. Seit Jacky Coogan und Baby Peggy ist der Bedarf an kleinen Schauspielern gedeckt.“
„Was gedenkst du jetzt zu tun?“
„Ich werde aufstehen und zur Probe gehen.“
„Du mißbrauchst meine Ungeduld. Ich meine, was du so im allgemeinen zu tun gedenkst – künstlerisch?“
„Ich werde Vorschuß nehmen.“
Hier schmiß ich das Notizbuch und meine Stahlbrille dermaßen wütend auf den Estrich, daß Therese Wiet, zu Tode erschrocken, hereinstürzte und fragte, was es gäbe.
„Einen Idioten gibt es!“ schrie ich.
„Zwei!“ erwiderte Therese und sah mich strafend an. Dann setzte sie sich zu Rudi auf die Bettkante, nahm seinen Wickelkopf in ihre zarten Hände, drückte ihn an den ebenso zarten Busen und sprach ihm begütigend zu:
„Hat dich böser Onkel schreckt? Rudilein muß sich nicht aufregen, muß hübsch brav im Bettchen bleiben, kriegt dann feines Süppchen!“
„Ich mag kein Süppchen mehr“ heulte Rudi und strampelte mit den Beinen, „ich will ein paar heiße Wiener mit Kraut!“
„Da hast du den Künstler im Privatleben!“ gab Therese von sich. „Hättest du mich gefragt, wäre das Interview längst fertig und gedruckt.“
Und wieder einmal staunte ich über die praktische Lebensklugheit dieser Frau, die, selbst Künstlerin, die Dinge wunderbar menschlich zu sehen imstande ist.
Damit übergebe ich dieses Interview der Öffentlichkeit, auf das unter den „Leipziger Köpfen“ auch die Glatze Rudi Gfallers gebührend leuchte.