dr. jur. Hubert Lang

Hans Bachwitz

Die Pfandverschleppung

Gerichtsvollzieher Kleedrusch war seit sechsundzwanzig Jahren im Amt und ein großer Kinderfreund. Wie er beide Eigenschaften an einem Tage verlor, soll nachstehend berichtet werden.
An einem schönen Maientage ging Herr Kleedrusch bereits früh auf Kundschaft. Er hatte einige zwanzig Vollstreckungen durchzuführen, und die meisten Schuldner wohnten im vierten und fünften Stock. Lediglich Herr Erasmus Bimstein hauste in einem zweiten. Kleedrusch beschloß, ihn zuletzt heimzusuchen, das heißt den angenehmsten Teil seiner Tätigkeit gewissermaßen als Dessert zu betrachten. Er hätte es nicht tun sollen, denn wäre er vor zwölf Uhr bei Bimstein gewesen, hätte er den um diese Zeit noch in der Schule zurückgehaltenen jungen Oskar Bimstein nicht angetroffen, während er ­– aber man soll keine Kapitel überspringen.
Als Herr Kleedrusch, der schon wiederholt bei Erasmus Bimstein aufgewartet hatte – zwischen dem Handel mit echten Antiquitäten und Zwangsvollstreckungen müssen dunkle Zusammenhänge bestehen –, an dem gedachten schönen Maientage kurz vor ein Uhr mittags die Bimsteinsche Glocke drückte, antwortet ihm frohes und durchdringendes Kindergebrüll. Gleich darauf öffnete der kleine Bimstein und begrüßte den Onkel im Regenumhang, der eine fatale Aktentasche schämig verbarg, laut und herzlich. Auch Kleedrusch freute sich über den munteren und zutunlichen Knaben, der ihn alsobald an der noch klebefeuchten Rechten packte und jauchzend in den Korridor zog. „Ist der Papa zu Hause?“ fragte Herr Kleedrusch, entzückt über den jubelnden Empfang, der im allgemeinen nicht zu seinen täglichen Freuden gehörte. Und der kleine Bimstein schrie mit gellender Stimme: „Vati! Vati! Komm mal rasch, Klebrig ist wieder da!“ Er war ein aufgeweckter Knabe und hatte einmal auf der Straße gehört, wie der Papa, nachdem zufällig Herr Kleedrusch an ihnen vorbeigegangen war, zur Mama gesagt hatte: „Mein guter, alter Klebrig, eine Seele von Gerichtsvollzieher. Hoffentlich kommt er bald mal wieder zu mir!“ Bald wußte das ganze Viertel, wer und was Klebrig war, und deshalb schüttelte auch der Hauswirt bedenklich den Kopf, als er, die Treppe emporsteigend, den Ausruf des kleinen Bimstein hörte und durch die noch offene Korridortür die ernsten Konturen des Beamten erblickte.
Aber schon erschien Herr Bimstein senior, begrüßte Herrn Kleedrusch mit unverhohlener Freude, und von beiden Bimsteinen flankiert, betrat der Besuch das Wohnzimmer. Nach einem kleinen Gedankenaustausch über das schöne Wetter und die damit verbundenen günstigen Ernteaussichten, schritt Herr Kleedrusch zur Amtshandlung, indem er bemerkte, er hätte da eine kleine Sache über 938 Mark 22 Pfennig. Ob Herr Bimstein zahlen wolle?
„Immer lustig, der gute Herr Kleedrusch, immer unverdrossen und zu Scherzen geneigt,“ lachte Erasmus Bimstein dröhnend, „wo soll ich nur das Geld hernehmen?“
„Nu, man fragt doch nur so“, lächelte Herr Kleedrusch und breitete aus dem Inhalt seiner Aktentasche mehrere Papiere auf den Tisch. „Da werden wir also ein bißchen pfänden!“ Hier griff der junge Bimstein lebhaft ein, indem er schrie, Onkel Klebrig solle doch ihn pfänden lassen. Gerührt sah der Onkel auf den lustigen Knaben nieder.
„Ein Prachtkerlchen,“ erkannte er an, „haben Sie noch mehr von der Sorte?“
Nein, meinte entschuldigend Herr Erasmus, das sei soweit alles, aber man könne nicht wissen. Und sie lachten sich an.
Hierauf nahm der Onkel einige gummierte Zettelchen, auf denen ein Wappen prunkte, und sah sich um. „Ich denke, das Vertikow da“, meinte er, und Erasmus nickte Gewährung.
„Das pappste wohl da dran?“ fragte fieberhaft interessiert Bimstein junior, als er bemerkte, daß der Onkel ein Zettelchen anfeuchtete.
„Jawohl,“ erwiderte der Treffliche und wandte sich zu Bimstein senior, „der hat mal e kluges Köpfchen!“
„Laß mich das machen, Onkel, ja? Bitte, bitte!“ flehte der Junge, und Onkel Kleedrusch, der Kinderfreund, konnte ihm die kleine Bitte nicht abschlagen. Er gab ihm also das Zettelchen, und Bimstein junior pickte es kunstgerecht an das Vertikow. Hierauf sah er sich lobheischend nach seinem Mentor um.
„Brav, mein Junge, sehr brav,“ rühmte dieser, „nur nicht so weit nach vorne! ‘s braucht doch nicht jeder zu sehen. Bißchen versteckter!“
Und nunmehr pfändete der gelehrige Schüler der Gerichtsvollzieherei die gesamte Wohnungseinrichtung und brachte die Siegel so diskret an, daß kein Mensch sie entdeckt hätte.
Worauf Herr Kleedrusch nach Erfüllung der übrigen Formalitäten von Vater und Sohn Abschied nahm, wobei er nicht vergaß, dem Papa die größten Hoffnungen auf die Karriere des wirklich auffallend geweckten Knaben zu machen.
Herr Bimstein aber dachte eine halbe Stunde angestrengt nach. Dann begab er sich in die Wohnstube, löste die Sigel fein säuberlich ab, verkaufte die der Pfändung entstrickten Möbel telephonisch an eine nicht weiter interessierende Firma und schenkte von dem Erlöse andern Tages seinem Sohne eine Zuckertüte.
Herr Kleedrusch aber wunderte sich sehr, daß der Schuldner nicht wie sonst immer noch im letzten Augenblick „Rat schaffte“, das heißt zahlte, sondern es offenbar auf die Versteigerung ankommen lassen wollte. Als er am festgesetzten Tage die Möbel abholen lassen wollte, hätte ihn beinahe der Schlag getroffen. Weder Herr Bimstein senior noch junior waren anwesend, und als Frau Bimstein den erzürnten Beamten in das Wohnzimmer führte, erblickte er kein einziges Möbelstück.
„Um Gottes willen,“ stammelte er fassungslos, „wo ist denn der ganze Kram hingekommen?“
„Mein Mann hat ihn verkauft“, gestand Frau Bimstein harmlos, und wenn nur ein einziger Stuhl dagewesen wäre, so wäre Herr Kleedrusch ohnmächtig darauf gesunken.
„Verkauft?“ ächzte er. „Ihr Mann ist wohl verrückt geworden?“
Das wisse sie nicht, antwortete Frau Bimstein, aber sie könne sich nicht denken, daß, wer Möbel verkauft, schon deswegen verrückt sein müsse.
„Na – das wird ihm teuer zu stehen kommen,“ schnaubte Herr Kleedrusch, „Pfandbruch! Wie kann der Mann sich so weit vergessen als Familienvater! Mir tut nur der nette kleine Bengel leid!“ Und er ging, Frau Bimstein in einem kläglichen Zustande zwischen Verzweiflung und Kopfschütteln hinterlassend.
Die Sache ist nämlich die: Nach § 808 der Zivilprozeßordnung muß der Gerichtsvollzieher selber die Pfändung von Möbeln durch Anlegen von Siegeln kenntlich machen. Jeder Verstoß hiergegen nimmt der Amtshandlung den Charakter der Rechtmäßigkeit und macht sie schlechthin und unheilbar unwirksam. Es ist so, als wäre sie überhaupt nicht geschehen.
In dem gegen Herrn Erasmus Bimstein angestrengten Strafprozeß wegen Pfandverschleppung mußte Herr Gerichtsvollzieher Kleedrusch als Zeuge eidlich bestätigen, daß allerdings nicht er selber die Siegel angelegt, sondern gestattet hatte, daß das minderjährige Söhnchen des Schuldners dieses aus kindlichem Spieltrieb besorgt habe.
Der Verteidiger des Angeklagten, Herr Rechtsanwalt Veilchentuff, leuchtete auf und führte in seiner bekannten, geistvoll-ironischen Weise aus, daß hiernach die gegen seinen Klienten erhobene Anklage hilflos in sich zusammenbrechen müsse, denn ein unmündiges Kind sei niemals imstande, rechtswirksam zu pfänden.
Herr Bimstein senior wurde denn auch unter Übernahme aller Kosten auf die Staatskasse freigesprochen und durfte erhobenen Hauptes das Verhandlungszimmer verlassen.
Herr Kleedrusch fiel in Ungnade und in Pension. Es ist kein Wunder, daß er gleichzeitig aufhörte, ein Kinderfreund zu sein.