dr. jur. Hubert Lang

Hans Bachwitz

Kämpfe mit Gerichtsvollziehern

Ein heute sehr bekannter, fast berühmter Komponist und Pianist – nennen wir ihn verschämt Lehmann! – war in seiner Jugend wegen der lustigen und listigen Scharmützel berüchtigt, die er mit den Gerichtsvollziehern ausfocht, jenen Institutionen der Zivilprozeßordnung, denen man die zwangsweise Verwirklichung geldwerter Ansprüche zu übergeben pflegt. Lehmann hatte damals außer seinem großen Talent und einer Familie, die sich von dem „Tastenschnorrer“ grollend zurückgezogen hatte, nichts, was er irgendwie hätte zu Geld machen können, um seine zahlreichen Gläubiger zu befriedigen – mit Ausnahme einer echtgoldenen Deckeltaschenuhr, die ihm ein Großpapa zur Konfirmation geschenkt hatte, und die Lehmann hütete wie ein gläsernes Auge. Nicht, daß übermäßige Pietät ihm veranlaßt hätte, gerade diesen Wertgegenstand zu bewachen wie ein Drache das unschuldige Mägdelein – Lehmanns Unzertrennlichkeit von der Uhr beruhte auf folkloristischen Gründen. Er war nämlich felsenfest davon überzeugt, daß fürchterliches Unheil ihn befallen würde, wenn er sie, wie sonst alles übrige, den Trödlern zum Fraße vorwerfen würde, und da er gezwungen war, jeden Morgen dem Gerichtsvollzieher Audienz zu erteilen, war er auf einen entschieden genialen Einfall gekommen, um gerade die Uhr den wählenden Augen und Händen des „Ritters vom blauen Adler“ zu entziehen. Er befestigte sie nämlich unterhalb der Matratze an einem hervorstehenden Sprungfederhaken, und so hatte sie der alte Wiedecke, wie Lehmanns Leibgerichtsvollzieher hieß, noch nicht entdecken können.
Eines morgens nun saß Lehmann, leicht gewandet und gestimmt, am Klavier und komponierte an einem Lerchenlied, als es klopfte und seine Wirtin ihm den „Üblichen“ meldete. „Laß ihn herein, tatatam, tatatam,“ sang und skandierte Lehmann zur Melodie des eben gebrüteten Lerchenliedes, „Laß ihn herein, tatatam, tatatam – und – scher – diiiich – rauhauhaus!“ Wobei er in gefühlvoller Kadenz die Töne verklingen ließ. Hierauf setzte er sich auf das Bett.
Der alte Wiedecke war im Urlaub, und statt seiner kam ein Neuer. Ein Funkelnagelneuer. Einer, der erst probeweise in Dienst gestellt war und sich bewähren sollte, um pensionsberechtigt zu werden. Ein junger, energischer Mann mit düsteren Augen und einer Eiszeitmiene. In den gemütlichen Formen des alten Wiedecke war mit dem nicht zu verkehren, der hielt sich an sämtliche Buchstaben des Gesetzes und ging vorschriftsmäßig zu Werke. Insbesondere fragte er Herrn Lehmann, ob er im Besitzer pfändbarer Gegenstände sei. Die geradezu lächerliche Utopie dieser Frage erschütterte Lehmann. Dann verneinte er sie fast beleidigt. „Pfändbares bei mir? Nur ein Laie kann das erhoffen, nachdem doch meine absolute Unpfändbarkeit gerichtsnotorisch ist!“ Und setzte sich wieder ans Klavier und feilte an seinem Lerchenliede, während der Adept der bürgerlichen Gerichtsbarkeit das Zimmer durchstöberte, ohne auch nur das Mindeste zu entdecken, was, Herrn Lehmann gehörig, einer königlich preußischen – die Geschichte spielt zu sagenhaften Zeiten – Klebemarke würdig gewesen wäre.
„Also nischt!“ sagte er seufzend. Lehmann neigte melancholisch das Haupt und schlug zwei tiefe Mollakkorde. Schon wollte der Vollstrecker das vorgeschriebene Formular ausfüllen und vom Schuldner unterzeichnen lassen (der alte Wiedecke hatte sich ein für allemal Lehmanns Unterschrift in blanco geben lassen), da hob er plötzlich die Lauscher wie ein gut dressierter Jagdhund. „Was is’n das?“ fragte er argwöhnisch. „Das Lerchenlied,“ erwiderte Lehmann stolz und perlte eine Kaskade von Morgensonne über blonden Feldern, „gefällt Ihnen die Kleinigkeit?“ – „Hörnse ma uff!“ kommandierte das Auge des Gesetzes, und als ihm gewillfahrt worden war, „hier tickt doch was!“
Verflucht! Die Uhr! Er hatte die Uhr entdeckt!!! Lehmann fühlte, wie er blaß wurde. Dann hieb er den schwedischen Reitermarsch mit vollem Pedal in die Tasten. Aber es war zu spät. Schon war die strafende Gerechtigkeit bäuchlings unters Bett gekrochen und förderte gleich darauf triumphierend die goldene Großvateruhr zutage. Drei Jahre später erst war Lehmann in der Lage, sie beim Gläubiger auszulösen, der sie so lange  entgegenkommenderweise auf Lager genommen hatte.
Ein andermal saß Lehmann mit Freunden im Kaffeehaus und spielte leidenschaftlich Skat. Er hatte bereits über sechs Mark gewonnen und saß in der Glückssträhne. Da näherte sich ein amtlich aussehender Herr in Lodenmantel und Steyrer Hütl dem Tisch. Er fragte höflich nach Herrn Lehmann und erklärte dann bedauernd, er sei der Gerichtsvollzieher X und beauftragt, Taschenpfändung vorzunehmen. „Wollen Sie sich wirklich die Mühe machen?“ fragte Lehmann gelangweilt und gewann einen schwierigen Grand mit Vieren, Schneider angesagt. Der Gerichtsvollzieher, bemüht, kein Aufsehen zu machen, nahm am Tisch neben Lehmann Platz und ließ einen Zipfel der ominösen Ledermappe sehen, die zur eisernen Ration jedes Gerichtsvollziehers gehört. Er warf einen Blick auf den Notizblock und stellte mit Befriedigung fest, daß Lehmann als einziger Gewinner hoch im Plus stand. „Man feste so weiter, Herr Lehmann,“ ermunterte er den Schuldner, „wenn Se so fortmachen, kann ich in ‚ne knappe halbe Stunde den janzen Betrag kassieren!“ – „Meinen Sie?“ fragte Lehmann kühl, „Ihr Wort in Gottes linken Gehörgang!“ Und er spielte von jetzt ab dermaßen ungeschickt, geradezu dilettantenhaft, daß er die sichersten Spiele verlor. Der Gerichtsvollzieher wurde blaß vor Zorn. Er kiebitzte mit verzweifeltem Ingrimm, er gab Lehmann die erfahrensten Ratschläge, er mogelte geradezu in seinem Interesse, indem er ihm diskret die Karten der andern verriet – alles umsonst – nach einer Stunde war Lehmann mit über zwanzig Mark im Minus. Dann stand er auf, kehrte seine sämtlichen Taschen um, und der Gerichtsvollzieher mußte mit langer Nase abziehen. „Den Kerl will ich lehren, mich im Skatspiel stören!“ sagte Lehmann giftig. „Könnte ihm passen, den Gewinn wegpfänden! Wozu arbeitet man denn da?“
Schließlich erging es unserm Lehmann so schlimm, daß er keinen Groschen mehr gepumpt bekam und ohne jeden Pfennig auf der Straße stand. Er fand weder Obdach noch Nahrung, und zu alledem hatte er sich verpflichtet, einem Verleger binnen acht Tagen die Partitur zu einer Symphonie (der ersten – sie ist inzwischen überall gespielt worden) abzuliefern. Dann sollte er – o Märchen – fünfhundert Mark auf einem Brett ausgezahlt erhalten. Wo aber konnte Lehmann die Ruhe finden, die die Vollendung seines Opus erforderte?
Er ließ sich zwecks Erzwingung des Offenbarungseides verhaften und lebte auf Kosten des wütenden Gläubigers fünf Tage herrlich und in Freuden im Amtsgerichtsgefängnis. Am sechsten Tage hatte er die Symphonie vollendet und bat den Richter, ihm zwei Stunden Urlaub zu geben; er wollte nur zu seinem Verleger gehen, ihm die Symphonie vorspielen und im Falle ihrer Annahme von dem ihm dann zustehenden fünfhundert Mark den Schuldbetrag zahlen. Der Richter hatte Humor und bewilligte den Urlaub unter der Bedingung, daß ein Gerichtsvollzieher Lehmann begleiten dürfe. Lehmann erbat sich einen älteren, würdigen Herrn mit provinzieller Sonntagsgarderobe, den er als zugereisten Onkel vorstellen könne.
So geschah es. Der „Onkel“ saß im Klubsessel. Während Lehmann die Symphonie vorspielte. Der Verleger war entzückt und gab Lehmann sofort die versprochenen fünfhundert Mark. Der zählte wehmütig einen Teil der Scheine ab und gab sie dem Gerichtsvollzieher, der seinen Augen nicht traute. „So, lieber Onkel, da hast du die dreihundertsechsunddreißig Mark und achtundsiebzig Pfennig, die du mir geliehen hast. Lebe wohl und grüße die Tante!“ Damit schob er den völlig konsternierten Beamten aus der Tür. Der Verleger stutzte. „Was ist den das für ein merkwürdiger Onkel, der sich vom Neffen bezahlen läßt?“ – „Ach, die Verwandtschaft“, erklärte Lehmann wegwerfend, „das ist und bleibt ein trübes Kapitel! Außerdem ist dieser Onkel Gerichtsvollzieher – Sie verstehen  – – – Und der Verleger verstand so gut, daß er Lehmann die dreihundertsechsunddreißig Mark und achtundsiebzig Pfennig ersetzte und einen für beide Teile äußerst vorteilhaften Verlagsvertrag anbot.
Drei Monate später hatte Lehmann nicht nur keine Schulden mehr, sondern war selbst in der Lage, Geld zu verpumpen. Und heute – aber Sie alle kennen den Mann und den großen Künstler.